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Mit Zähnen und Klauen

Biologie. - Wie aus dem Nichts tauchten vor rund 540 Millionen Jahren die "großen" Tiere auf. Das geheimnisvolle Ereignis hat einen Namen: Kambrische Explosion. Sie hatte schon Charles Darwin schlaflose Nächte bereitet. Inzwischen zeichnen Forscher ein recht klares Bild von jenem Umbruch der Evolution, der Zähne, Klauen und Skelette ins Spiel brachte.

Von Dagmar Röhrlich |
    Weich glitt Anomalocaris durchs Wasser. Er war ein schwer gepanzerter Gigant, der an einen Hundertfüßer erinnerte, aber mit breiten, beweglichen Flanken, die ihn durchs Wasser schweben ließen. Seinen großen Stilaugen entging nichts, erst recht kein unaufmerksamer Trilobit, der mit seiner eigenen Mahlzeit beschäftigt war. Wie eine Gottesanbeterin hielt Anomalocaris seine stacheligen Vorderbeine bereit - und schlug blitzschnell zu: Anomalocaris war der "Hai" seiner Zeit - der Zeit kurz nach der Kambrischen Explosion, als erstmals große Tiere auf die Jagd gingen:

    "Charles Darwin skizzierte in seinem Buch 'Die Entstehung der Arten' auch die Kambrische Explosion, das scheinbar unmittelbare Auftauchen der Tiere. Aber wenn man es nachliest, verliert er dabei wirklich den Faden. Er war sehr verwirrt und konnte sich nicht vorstellen, was dieses Ereignis ausgelöst haben könnte."

    Heute ist die Datenbasis für das, was damals passierte, sehr viel besser, urteilt Simon Conway-Morris von der University of Cambridge:

    "Die Burgess-Schiefer in British Columbia beispielsweise gehören zu einigen außergewöhnlichen Fossilfundstätten, die richtige Schatztruhen der Paläontologie sind. Sie sind mit rund 515 Millionen Jahren kaum jünger als die Kambrische Explosion."

    In den 1909 entdeckten Burgess-Schiefern hat die Verwitterung die Überreste eines 515 Millionen Jahre alten tropischen Meeresbodens freigelegt. Damals brach dort ein untermeerisches Riff steil in tieferes Wasser ab. Von Zeit zu Zeit rutschte Schlamm über die Riffkante und riss viele Tiere mit sich, darunter auch den Urzeitjäger Anomalocaris. Am Fuß des Riffs war das Wasser sauerstofflos: Kein Aasfresser machte sich über die Opfer her, und sie versteinerten perfekt. Deshalb sind die Burgess-Schiefer heute voll bizarrer Wesen aus der Zeit der Kambrischen Explosion.

    Da ist Opahania, die aussieht wie eine Kellerassel mit Rüssel und fünf Augen auf der Stirn. Oder Hallucigenia - ein wurmähnliches Tier mit tentakelartigen Beinchen an der Unterseite und Stacheln auf der Oberseite - ein Wesen, wie aus einer Halluzination. Auch wenn man es vielen nicht ansieht - die Tiere der Burgess-Schiefer sind die Ahnen unserer Welt. Doch warum entschied sich das Leben, groß zu werden und Skelette zu entwickeln?

    "Die populärste Idee ist, dass das Auftauchen der großen Tiere etwas mit dem Sauerstoffgehalt in der Luft und im Wasser zu tun hat. Wenn mehr Sauerstoff da ist, können Tiere größer werden."

    Dieser Sauerstoffsprung könnte etwas mit den großen Eiszeiten zu tun gehabt haben, die in der Zeitspanne zwischen etwa 780 und 600 Millionen Jahren vor heute die Erde im Griff hielten. Schließlich löst sich im kalten Wasser mehr Sauerstoff als im warmen, und das Leben spielte sich damals in den Meeren ab. Sicher ist: Zwischen den Eiszeiten tauchten plötzlich massenhaft winzige Schwämme auf. Tiere wie sie drehten das Rad weiter:

    "Tiere sind wohl besser darin, organische Substanzen zu "begraben". Sie fressen mehr, haben gute Verdauungssysteme und produzieren reichlich Kot, der als organische Substanz ins Sediment gelangt, wo sie nicht mehr so leicht verrottet. Das heißt, es wird weniger Sauerstoff bei Zersetzungsprozessen verbraucht. So halfen die ersten noch kleinen Tiere vielleicht selbst dabei, den Sauerstoffgehalt zu stützen."

    Joe Kirschvink vom California Institute of Technology in Pasadena. Die Tiere lösten eine Kette von Veränderungen aus, veränderten die Chemie der Meere. Erstmals konnten die Organismen Calcium oder Phosphor für den Aufbau von Skeletten nutzen:

    "Die Kambrische Explosion war nicht nur dramatisch, was die Evolution selbst angeht, sondern auch sehr schnell. Vielleicht dauerte es nur rund 20 oder 30 Millionen Jahre, bis die Stämme aller marinen Tiere auftauchten. Es war eine seltsame Zeit. Normalerweise ist Evolution ein historischer Prozess, bei dem die Nachkommen ihre Vorfahren ersetzen - aber beispielsweise in der 520 Millionen Jahre alten chinesischen Chengjiang Fossil-Lagerstätte sehen wir, dass dort oft Ahnen und Nachfahren gleichzeitig lebten."

    Die Evolution legte ein ungeheures Tempo an den Tag, "experimentierte" mit ihren neuen Möglichkeiten. Es war eine Epoche des Umbruchs. Das Leben bekam Klauen und Zähne - und das Gehirn kam in Mode.