Für die meisten ist das erste Gehalt ein Grund zur Freude. Für die Kirchen ist es ein Grund zur Sorge. Denn die meisten, die aus der Kirche austreten, sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Es sind Berufseinsteiger, die gerade ihre ersten Gehaltsabrechnungen in der Hand halten, ihre erste Steuererklärung schreiben und sich die Frage stellen: Was passiert eigentlich mit meiner Kirchensteuer? Was bedeutet mir jene Kirche, die ich damit unterstütze? So ging es auch Sarah Scherf.
Die Ausgetretene
Die 29-jährige Redakteurin aus Berlin wurde zwar konfirmiert, aber eher aus Tradition, denn aus Religiosität. Vor Kurzem ist sie aus der evangelischen Kirche ausgetreten:
"Ich hatte den ersten Job nach dem Studium und habe dann auf den ersten Gehaltszettel geschaut und habe dann gesehen, wie viel Kirchensteuer da weg geht. Ich hab mich schon länger damit auseinander gesetzt und das ist aber dann während des Studiums ein bisschen in Vergessenheit geraten, weil das jetzt keine Auswirkungen hatte und jetzt habe ich eben die Auswirkungen direkt auf dem Zettel gesehen. Das war so der primäre Anlass zu sagen: Jetzt ist es wirklich Zeit."
Ein Gang zum Notar[*] und zum Amtsgericht, eine Gebühr von 35 Euro, und sie war draußen. Die Kirchensteuer war nicht der einzige Grund, warum Sarah Scherf aus der Kirche ausgetreten ist.
"Ja, also es gibt natürlich auch inhaltliche Gründe, einfach dass ich mich einfach nicht als gläubigen Menschen sehe und dass ich auch die Lebensauffassung, die religiöse Lebensauffassung überhaupt nicht teile und so. Das ist die inhaltliche Seite. Ich glaube nicht, dass es so unverrückbare Dogmen gibt und dass das von oben herab gegeben ist, sondern ich bin eher der Auffassung, dass jeder für sich selbst verantwortlich und den Sinn sozusagen selber stiftet, also dass es eben keine höhere Macht oder Kraft gibt, die einem das vorschreibt."
Der Soziologe
Der Religionssoziologe Detlef Pollack von der Universität Münster forscht zum religiösen Wandel in Deutschland. Er hat Menschen, die ausgetreten sind, nach ihren Gründen befragt. Seine Studie zeigt: Die Hauptgründe für den Austritt aus der Kirche sind nicht nur die Kirchensteuern, sondern auch: Den Menschen sei die Kirche nicht mehr so wichtig, oder sie fänden die Kirche unglaubwürdig. Und viele, die ausgetreten sind, hätten das Gefühl, dass sie auch einfach so christlich sein können - ohne eine Kirche.
Der Wiedereingetretene
Neben den 190.000, die 2016 aus der evangelischen Kirche ausgetreten sind, gibt es auch 180.000 Menschen, die getauft wurden – und 25.000, die wieder eingetreten sind. Jens Ockenfels, 51 Jahre alt, lebt in Köln. Er ist christlich aufgewachsen, wurde getauft, konfirmiert und hat so wie Sarah Scherf mit Ende 20 seine Kirche verlassen. Er hielt viele Aspekte des Glaubens für Aberglauben, fand die Kirche wissenschaftsfeindlich. Ockenfels arbeitete als Geschäftsführer in einem Technologie-Unternehmen und lange spielte die Kirche für ihn keine große Rolle. Jetzt, gut 20 Jahre später, hat er es sich anders überlegt. Im März ist er wieder in die evangelische Kirche eingetreten. Auslöser war vor allem, dass er noch einmal studiert hat: Philosophie, Politik und Wirtschaft in München.
"Im Kontext dieses Studiums habe ich mich sehr intensiv mit ethischen Fragestellungen beschäftigt und habe meine persönlichen Werte hinterfragt und mein Leben rekapituliert. In diesem Kontext ist mir ziemlich klar geworden, dass mein Leben doch ziemlich stark geprägt ist von christlichen Werten. Also besonders von Nächstenliebe, Humanismus im weitesten Sinne."
Neben den geisteswissenschaftlichen, theoretischen Überlegungen waren für ihn auch persönliche Erfahrungen wichtig.
"Meine Schwester ist verstorben, mein Vater ist verstorben, all solche Ereignisse, die schon auch eine große Relevanz in meinem Privatleben oder meinem persönlichen Leben haben. Ja und vor dem Hintergrund habe ich dann im Kontext dieser Reflexionen beschlossen, dass es für mich ein wichtiger Punkt ist, wieder in die Kirche einzutreten."
Nach wie vor kritisiert Jens Ockenfels viele Punkte an der Kirche. Er findet, dass die Kirche mehr mit der Zeit gehen müsste, dass Veränderung ihr gut täte. Und obwohl er jetzt auf dem Papier wieder Mitglied ist – einen Platz in den immer leerer werdenden Kirchenbänken wird er nicht füllen.
"Also ich gehe nicht davon aus, dass ich jeden Sonntag in die Kirche gehe. Ich werde auch nicht aktiv am Gemeindeleben teilnehmen, aber die persönliche Entscheidung beruht primär auf dem Aspekt, dass christliche Werte und insbesondere Nächstenliebe, Humanismus für mich eine besondere Relevanz haben."
Die Demographie
Obwohl in der evangelischen Kirche zuletzt etwas mehr Mitglieder hinzugekommen sind als ausgetreten, bleibt die Bilanz dennoch im Minus. Grund dafür ist der demografische Wandel. 2016 starben 340.000 Kirchenmitglieder. Dass die Mitgliederzahlen weiter zurückgehen, liegt für den Religionssoziologen Detlef Pollack vor allem daran, dass Eltern ihre Kinder seltener taufen lassen. Immer weniger sprechen beim Essen Tischgebete, lesen aus der Kinderbibel vor oder beten mit ihren Kindern vor dem Einschlafen.
[*] Anmerkung der Redaktion: Beim Kirchenaustritt in Deutschland ist ein Gang zum Notar nicht notwendig. Nur bei einer schriftlichen Austrittserklärung muss die Unterschrift des Erklärenden von einem Notar beglaubigt sein. Sarah Scherf hat einen Notar aufgesucht, weil sie ursprünglich den Austritt schriftlich einreichen wollte.