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Mitreißendes Stück mit Sogwirkung

Mit seiner TV-Trilogie "Heimat" hat Regisseur Edgar Reitz poetisches Kunstfernsehen mit Straßenfegerqualitäten geschaffen. Nun kommt "Die andere Heimat" in die Kinos. Neben einem ganz neuen, alten Deutschland gibt es hier vor allem unbekannte Schauspieler zu entdecken.

Von Eric Leimann |
    "Das müsst ihr euch so vorstellen, Mutter: Da ist der Acker fünfhundert Mal größer wie hier. Da gibt es keinen Winter. Zwei Mal im Jahr können sie Korn und Mais und Weizen abmachen. Am Rio Grande. Aber am größten ist der Wald im Norden. Nicht hundert Mal ... nee ... tausend Mal größer wie der ganze Hunsrück ist der ... "

    Das Hunsrückdorf Schabbach um 1840. Der 20-jährige Jakob, Sohn eines armen Schmieds, träumt von einem besseren Leben in Brasilien. Vom Vater erntet der romantische Bücherwurm für seine handwerkliche Faulheit Prügel. Die Mutter immerhin blickt mit liebevoller Sorge auf den ungewöhnlichen Spross einer bettelarmen Familie am Rande des preußischen Königreichs. Dort, wo man gerade angefangen hat, der einfachen Landbevölkerung Lesen und Schreiben zu lehren ...

    Edgar Reitz entführt den Kinozuschauer in ungewöhnlichen Bildern und epischen Erzählbögen in ein anderes Deutschland. In ein hartes und hyperrealistisch gefilmtes Land der Schufterei, der Hungersnöte und häufigen Kindstode. Aber auch in eines der romantischen Wälder und fantastischen Träume. Während Jakob mit Indianerfeder geschmückt bis zur Erschöpfung durchs Unterholz rennt, fahren am Horizont dieses in Cinemascope-Breitwand fotografierten Films die hochgepackten Pferdefuhrwerke der Bauern. Ein deutscher Exodus zu den Schiffen des Rheins und danach mit größeren Schiffen nach Übersee. Die Zeit um 1840 hat Edgar Reitz als besonders wichtige deutsche Auswanderungswelle identifiziert ...

    "Das Thermometer stand am Mittag auf dreiunddreißigeinhalb Grad, auf diesem ganzen Strich hatten wir starke Winde und sahen oft Seegras, besonders Felskräut...und gleich eine große Menge von Sturm- und anderen Seevögeln. Bei Letzteren belustigten uns vornehmlich einige große graue 'Mewen '.'"

    Auch wenn man schon viele Historienfilme gesehen hat, glaubt man in "Die andere Heimat" ein ganz neues, altes Deutschland zu entdecken. Und das liegt nicht nur an dieser verführerischen Mischung aus Realismus und magischer Poesie, die für das Kino von Reitz typisch ist. Nein, hier sehen die Menschen anders aus - ihre Kleider, Häuser, Werkzeuge. Kein Zufall ist das, denn Edgar Reitz hat seine Vergangenheit nach einer für das Kino ziemlich ungewöhnlichen Methode erschaffen.

    ""Die Tradition des Historienfilms hat ganz bestimmte Formen hervorgebracht, die wird beherrscht von den Set-Designern in den großen Studio-Firmen, die eine bestimmte Vorstellung davon haben, wie früher die Welt ausgesehen hat. Wenn man sich aber wirklich vertieft in die Geschichten, kommt man auf ganz andere Bilder."

    Edgar Reitz fand keine bildlichen Darstellungen von armen Leuten aus dem Hunsrück um 1840, deshalb erschuf er sein Dorf und dessen Bewohner aus schriftlichen Beschreibungen einfach neu.

    "Wir haben uns vertieft in das Leben dieser Menschen und haben aus ihrem Wissen und aus ihren Lebensformen heraus die Bilder dieses Films entwickelt. Das ist ein vollkommen anderer Weg. Wir sind sogar so weit gegangen, dass wir nichts maschinell angefertigt haben, dass wir die handwerklichen Methoden der damaligen Menschen angewendet haben - beim Nähen der Kostüme, beim Bauen der Häuser - das, glaube ich, bringt diese andere Optik mit sich."

    "Die andere Heimat" ist ein mitreißendes Stück Kino mit Sogwirkung. Die Schauspieler, fast alle völlig unbekannt, machen ihre Sache außerordentlich gut. Eigentlich hat man bei diesem - ja - kurzweiligen 4-Stunden-Film gar nicht den Eindruck, einem Schauspiel beizuwohnen, sondern eher per Zeitmaschine in ein ebenso echtes wie fremdes Stück deutscher Vergangenheit entführt worden zu sein. Natürlich ist auch diese "Chronik einer Sehnsucht" - wie der Film im Untertitel heißt - wieder ein Film über das Gefühl Heimat, dem dieses wunderbar frische und junge Kino eines 80-Jährigen nachspürt. Auch wenn der sich immer noch dagegen wehrt, als deutscher Chronist dieses Begriffes in die Filmgeschichte einzugehen ...

    "Ich bin nie angetreten, das Thema Heimat - den abstrakten Begriff Heimat - durch Filme zu illustrieren. Das Wort Heimat kommt bei mir im Titel vor und das ist ein Dach, unter dem ich meine Geschichten immer wieder versammelt habe."

    "Die andere Heimat" ist einer der kraftvollsten und ungewöhnlichsten deutschen Filme der letzten Jahre. Er ist echt, er ist poetisch-klug und er geht mit seiner Familiengeschichte ungemein ans Herz. Schön, dass Edgar Reitz noch nicht ans Aufhören denkt, denn unter dem Dach "Heimat "...

    "... haben noch viele Geschichten Platz und kann ich - solange ich lebe und gesund bin und machen kann - immer wieder neue Geschichten erzählen."