Peter B. Schumann: Im Vorwort Ihrer gerade auf deutsch erschienenen Anthologie mittelamerikanischer Literatur beschreiben Sie den tiefen Anachronismus, in dem die Region heute noch lebt, und Sie fassen ihn in diesem Bild zusammen: "Über die Baumreihen an den Landstraßen, auf denen Ochsenkarren ziehen, ragen Parabolantennen, die Satellitensignale empfangen, und die Sendemasten des Mobilfunks, der längst die alte ländliche Welt erreicht hat." Und Ihre Kollegin Vanessa Núñez sagte vor Kurzem sogar: "Mittelamerika erscheint mir manchmal wie Afrika." Teilen Sie Ihre Sicht?
Sergio Ramirez: Afrika steht bei uns mitunter als Synonym für Armut, Elend, soziales Abseits. Aber es ist auch oft zu hören: wir afrikanisieren uns immer mehr, das heißt, unser Lebensstandard wird immer schlechter. In Nicaragua, wo ich zuhause bin, benutzen wir ein ähnliches Bild und sagen: Wir gleichen immer stärker Haiti. Der Abstand ist wirklich erschreckend gering. Nach einer Statistik der Organisation Amerikanischer Staaten stehen drei Länder am Ende der Skala: Nicaragua, Haiti und Honduras. Mittelamerika ist eine Region mit ungemein armen Ländern. Aber es ist nicht nur die Armut, sondern auch die Ungleichheit, die mir Sorge bereitet, denn es gibt immer mehr Reiche und immer mehr Arme. Das Wirtschaftsmagazin Forbes hat kürzlich ermittelt, dass in Nicaragua die Anzahl der Millionäre in der letzten Zeit um 30 Prozent zugenommen hat. Dabei muss fast die Hälfte der Bevölkerung mit weniger als zwei Dollar täglich auskommen.
Schumann: Kann man sagen, dass sich in Mittelamerika die schlimmsten Probleme Lateinamerikas kristallisieren, die in anderen Ländern längst verringert wurden?
Ramírez: Ich glaube schon, denn in einzelnen Ländern Südamerikas wächst die Mittelschicht, was ein klares Anzeichen für soziale Entwicklung ist. In Brasilien zum Beispiel, wo es trotz allem große Probleme der Ungleichheit, der Ausgrenzung, der massenhaften Kriminalität gibt. Doch die drei letzten Regierungen von Cardoso, Lula und Frau Rousseff haben es geschafft, dass Millionen von Personen in die Mittelschicht aufsteigen konnten.
"Wir leben teilweise noch in feudalen Verhältnissen"
Schumann: Ich bezweifle diese Zahlen etwas, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass nach unserem Begriff von Mittelschicht eine Sozialhilfe von umgerechnet 35 Euro im Monat ausreichen soll, damit jemand aus der Armut in die Mittelschicht aufsteigen kann.
Ramírez: Dazu gehört ja auch die Schulbildung und die dadurch erreichte höhere Qualifizierung und besser bezahlte Arbeit. Das bedeutet für mich, aus der Armut herauszukommen, auf Dauer das Einkommen zu erhöhen. Außerdem gab es auch strukturelle Verbesserungen in anderen Ländern, in Uruguay beispielsweise. Aber in Mittelamerika ist die soziale Schichtung wie eingefroren. Wir leben teilweise noch in feudalen Verhältnissen. Guatemala ist ausgesprochen feudal.
Schumann: Aber wieso?
Ramírez: Weil wir noch immer archaische Strukturen haben. Eine konservative Klasse von Großgrundbesitzern verteidigt mit Zähnen und Klauen ihre Interessen. Die Masse der Indios, in Guatemala sind es 60 Prozent, ist ihnen völlig ausgeliefert, hat keinerlei Zugang zu elementaren Gütern, wird ständig diskriminiert und unterdrückt. In Honduras, Nicaragua oder Costa Rica sind die Strukturen etwas anders.
Schumann: Costa Rica erscheint überhaupt wie die Summe aller Möglichkeiten, die in den anderen Ländern versäumt wurden.
Ramírez: Costa Rica ist ein Land mit einem anderen Niveau von Wohlstand und Entwicklung, einer anderen Form sozialer Mobilität und einer anderen staatlichen Struktur. Costa Rica könnte tatsächlich das sein, was man hier Wohlstandsgesellschaft nennt.
Schumann: Es ist auch die einzige wirkliche Demokratie in Mittelamerika.
Ramírez: Das hängt davon ab, was man unter Demokratie versteht. In allen Ländern Mittelamerikas wird heute gewählt. Aber die Frage ist: wer wird gewählt, und wer übt tatsächlich die Gewalt aus, beispielsweise in Nicaragua? Dort wird immer derselbe gewählt, Ortega, und der verfügt über jegliche Gewalt. In El Salvador ist das anders. Dort sind die beiden einflussreichsten Parteien, die sich in den 80er-Jahren bis aufs Blut bekämpft haben, zu einem demokratisch legitimierten Machtausgleich gelangt. Die ehemalige Revolutionspartei FMLN hat zweimal hintereinander die Wahl gewonnen. Und die Rechte toleriert die Linke, solange dieser stillschweigende Pakt funktioniert. Das bedeutet: keine der beiden Seiten kann sich Extreme erlauben, ohne den Sozialpakt und die Regierungsfähigkeit infrage zu stellen.
Schumann: Honduras gilt dagegen als gescheiterter Staat.
Ramírez: Der Staat löst sich immer mehr unter der Macht der Verbrecherbanden der Drogenmafia auf. Er trägt Züge eines gescheiterten Staats. Doch mich beunruhigt noch mehr der Umstand, dass ich keinen Ausweg für eine Normalisierung sehe. In Guatemala ist die Situation ähnlich: es ist der einzige Staat, den ich kenne, in dessen Staatsanwaltschaft die Vereinten Nationen eingegriffen haben. Das heißt: der Staatsanwalt, der die Verbrechen staatlicher Funktionäre verfolgen soll, wird vom Generalsekretär der Vereinten Nationen ernannt. Nur so konnte der berüchtigte Oberst Lima, der 1998 den in Menschenrechtsfragen sehr engagierten Bischof Gerardi ermordet hatte, nach Jahren verurteilt werden. Aus dem Gefängnis organisierte er dann ein kriminelles Netzwerk, weshalb erneut ein Prozess gegen ihn angestrengt wurde. Aber das ist nur möglich durch den Staatsanwalt der Vereinten Nationen.
"Egoismus der einzelnen Kräfte"
Schumann: Auffallend an Mittelamerika ist das völlige Fehlen einer politischen Einheit oder eines gemeinsamen Marktes. Was sind die Gründe für diesen Separatismus?
Ramírez: Es fehlt der Wille bei denen, die die politische und die ökonomische Macht ausüben. Gelegentlich wird das sichtbar. Die Europäische Union verhandelte vor einiger Zeit über eine mittelamerikanische Allianz mit den Bananen-Produzenten. Sie bestand jedoch auf einem einheitlichen Zollsystem für den Bananenexport. Der fast unterschriftsreife Vertrag scheiterte dann an politischem Willen: offensichtlich war niemand wirklich daran interessiert. Alle wollten an den sechs verschiedenen Zollsystemen festhalten. Und wir sind heute noch ebenso weit davon entfernt wegen des Egoismus der einzelnen Kräfte.
Schumann: Gibt es denn überhaupt keine gemeinsamen Projekte oder Ideen in Mittelamerika?
Ramírez: Es gibt eine eher romantische Sehnsucht nach Einheit in gewissen Bereichen, am stärksten in der Kultur. Dort existieren viel weniger Schwierigkeiten, zusammen etwas zu unternehmen, weil der Konkurrenzdruck fehlt. Das hat sich zum Beispiel auf der Frankfurter Buchmesse gezeigt, wo sich die mittelamerikanischen Verleger auf einem Gemeinschaftsstand präsentierten, ohne die geringsten Probleme.
Schumann: Zum ersten Mal in der Geschichte der Buchmesse.
Schumann: Es ist schon sehr bemerkenswert, dass in Mittelamerika weder eine traditionsreiche Demokratie wie in Costa Rica noch eine siegreiche Revolution wie die in Nicaragua die Entwicklung der anderen Länder beeinflusst hat.
Ramírez: Die sandinistische Revolution stieß auf unterschiedlichen Widerstand in der übrigen Region, je nach der Interessenlage der einzelnen Regierungen. Alle fühlten sich irgendwie bedroht, denn sie wollte einen radikalen Umbruch. Costa Rica zeigte sich alarmiert, El Salvador, Honduras und Guatemala reagierten geradezu feindlich und boten den Konterrevolutionären und den ehemaligen Nationalgardisten Somozas Asyl. Auch die USA, die Reagan-Regierung, bekämpften uns. Doch das ist nichts Neues in Lateinamerika. Schon im 19. Jahrhundert wehrten sich die konservativen Kräfte gegen die liberalen, die Fortschritt und Umbruch propagierten.
Schumann: Aber warum gibt es heute so wenig Widerstand in der Region? Die Verhältnisse sind doch teilweise viel schlimmer als beispielsweise in den Andenländern, wo die Indios rebellieren, oder in Brasilien, die Studenten protestieren und sogar die Mittelschicht. Vergleichbares sehe ich nicht in Mittelamerika.
Ramírez: Vielleicht hängt das damit zusammen, dass die Rebellionen der 70er- und 80er-Jahre in El Salvador und in Nicaragua von marxistisch orientierten Guerilla-Bewegungen angeführt wurden, die nahezu ein Monopol beanspruchten. Sie kamen von den Universitäten, wurden - wie in Guatemala - ab und zu von den Campesinos oder den Indigena unterstützt, die das extrem viele Opfer kostete.
"Die Partei wurde von Ortega illegalisiert"
Schumann: In Nicaragua fand in den 80er-Jahren die sandinistische Revolution statt. Sie waren damals Vizepräsident, Sergio Ramírez. Sie trennten sich dann von der Revolutionspartei, als diese sich in ein Machtinstrument des Ortega-Clans verwandelte und gründeten den oppositionellen Movimiento Renovador Sandinista. Was ist aus der Erneuerungsbewegung geworden? Wo ist überhaupt die Opposition im Nicaragua der Ortegas?
Ramírez: Die Partei wurde von Ortega illegalisiert. Sie konnte jedoch mithilfe anderer Parteien einige wenige Parlamentssitze bei den letzten Wahlen gewinnen und hat noch nie einen größeren Zuspruch gefunden. Sie blieb klein, bewahrte jedoch ihren hohen ethischen Anspruch. Auch sonst gibt es wenig Opposition in Nicaragua.
Schumann: Der Ex-Guerrillero Ortega gewann bei diesen Wahlen 60 Prozent der Stimmen. Worauf basiert seine Macht?
Ramírez: Auf der traditionellen Masse seiner Unterstützer. Sie besteht aus alten Korporationen, die sich schon früher für die Revolution engagiert haben: Gewerkschaften und anderen Interessenvertretungen. Sie folgen ihm heute aufgrund seiner populistischen Regierungspolitik. Er erhält jährlich aus Venezuela 500 Millionen Dollar, die in einen Sonderfonds außerhalb des öffentlichen Haushalts fließen und über die er frei verfügt. Er kann daraus im Namen des Staates Spenden verteilen, Geschenke machen, Überzeugungen kaufen. Darin besteht seine Macht und aus der Abwesenheit einer attraktiven Opposition, die dem Diskurs Ortegas etwas entgegen zu setzen vermag.
Schumann: Ihr Kollege Ernesto Cardenal sagte mir vor ein paar Wochen: "Nicaragua ist heute eine Familien-Diktatur der Ortegas." Hat er übertrieben?
Ramírez: Ich würde es eine autoritäre Regierung nennen. Sie hat die staatliche Gewaltenteilung aufgehoben und kontrolliert mit eiserner Hand die Justiz. Ortega beeinflusst juristische Entscheidungen. Die oberste Wahlbehörde dient seinen Interessen. Eine Legislative gibt es praktisch nicht mehr. Auch der Rechnungsprüfungshof hat sich seinen Wünschen untergeordnet. Selbst die Verfassung wurde auf ihn zugeschnitten. Nicaragua ist also weit von einer repräsentativen Demokratie entfernt. Polizei und Armee sind ebenfalls Teil dieses persönlichen Machtapparats. Die Situation wird immer schlimmer.
"Ich äußere mich frei per Twitter und Facebook und in ähnlichen Systemen"
Schumann: Was für Möglichkeiten, sich frei zu äußern. Hat ein Oppositioneller wie Sergio Ramírez in einem solchen System fast totaler Kontrolle?
Ramírez: Vor allem in den sozialen Netzwerken. Bisher hat es dort keinerlei Eingriffe gegeben. Ich äußere mich frei per Twitter und Facebook und in ähnlichen Systemen. Und dann haben wir als einzige oppositionelle Stimmen noch die Tageszeitung La Prensa und den Fernsehkanal von Carlos Fernando Chamorro. Alle anderen Kanäle haben die Familie Ortega oder ihre Partner aufgekauft, und sie werden von Ortegas Söhnen geleitet. Der Rundfunk ist von jeglicher Pressefreiheit gesäubert worden. Aber noch bestehen kleine Öffnungen der Meinungsäußerung.
Schumann: Was für progressive Akteure gibt es denn in den anderen Ländern? Besteht eine Zivilgesellschaft, die in vielen Teilen der Welt für die gesellschaftliche Weiterentwicklung so wichtig ist?
Ramírez: In Guatemala zum Beispiel kommen Bürgersinn und Achtung vor demokratischen Institutionen in den Organisationen zum Ausdruck, die sich für Menschenrechte, für die Rechte der Frauen und gegen Kriminalität, gegen Gewalt, gegen Feminizid einsetzen. Gerade in Guatemala sind Morde an Frauen extrem häufig. Gleiches gilt für Honduras. Dort sind auch viele Gruppen aktiv, die sich für den Umweltschutz engagieren, was mir sehr wichtig ist. Diese Ideen werden von solchen Organisationen verteidigt, nicht etwa von den politischen Parteien.
"Viele denken an künftigen Reichtum"
Schumann: Und jetzt kommen die Chinesen mit 45 Milliarden Dollar, um einen neuen Kanal durch Nicaragua zu graben, obwohl der nicht weit entfernte Panama-Kanal gerade für die größten Container-Schiffe ausgebaut wird. Empfinden das die Nachbarländer nicht als einen feindlichen Akt?
Ramírez: Ich weiß nicht, inwieweit die Nachbarn diese Kanal-Idee bisher überhaupt ernst genommen haben. Die Nicaraguaner tun das schon, denn viele denken an künftigen Reichtum. Die Gegner des Projekts fühlen sich allerdings betrogen, denn sie sollen viel Land verlieren. Klarheit besteht bis heute noch nicht. Ortega hat die Konzession für hundert Jahre einem chinesischen Privatunternehmer erteilt und tut so, als ob dieser den Staat repräsentiere, doch die Regierung in Peking will damit gar nichts zu tun haben. Dieser Herr Ling plant außerdem zusätzliche Bauten für den Tourismus: Hotels, einen Flughafen. Aber woher das viele Geld letztlich wirklich kommen soll, ist völlig unklar. Ich halte das Ganze für eine chinesische Ente.
Schumann: Für wen bestehen denn überhaupt besondere Entwicklungsmöglichkeiten in Mittelamerika?
Ramírez: Vor allem für kleine und mittlere Unternehmen und für Kooperativen gibt es große Entwicklungschancen: auf dem Land beispielsweise, bei den Kunsthandwerkern, den kleinen Kaffee-Produzenten - dort sehe ich das eigentliche Potenzial, auch für die künftige Entwicklung der ganzen Region.
"Der Staat tut so gut wie nichts für die Kultur"
Schumann: Gehört auch die Kultur zu den besonderen Potenzialen? Sie könnte beispielsweise Barrieren überwinden?
Ramírez: Zwischen Künstlern und Schriftstellern bestehen keine Vorurteile. Wer beispielsweise ein mittelamerikanisches Jugendorchester gründen will und die Mittel dafür findet, der wird mit Begeisterung aufgenommen, und niemand wird sagen, ich spiele mit dem Salvadorianer nicht, weil ich Honduraner bin. Oder wenn man Schriftsteller zusammenbringt, wie ich es einmal im Jahr in Nicaragua auf meinem Festival Mittelamerika erzählt mache, dann kann man unter ihnen einen großen Gemeinschaftsgeist erleben. Sie diskutieren gemeinsame Projekte, Blog-Spots, den Umgang mit den sozialen Netzen, gemeinsame Editionen, um die Bücher in allen Nachbarländern zu verbreiten. Diese Anthologie, die gerade auf deutsch erschienen ist – "Zwischen Süd und Nord" - und die bereits auf Spanisch zirkuliert, ist das Ergebnis einer Initiative von sechs kleinen mittelamerikanischen Verlagen und dem Goethe-Institut in Mexiko. Und Ähnliches kann ich von der Bildenden Kunst sagen. Es kommt nur darauf an, die Mittel dafür zu finden, denn der Staat tut so gut wie nichts für die Kultur.
Schumann: Die Schriftsteller und Verleger, die gerade auf der Buchmesse waren, sagten mir, dass es in Costa Rica eine bescheidene staatliche Kulturförderung gibt, in den übrigen Ländern dagegen so gut wie nichts.
Ramírez: In Costa Rica ist das Tradition. Dort wurde auch Ende der 60er Jahre das erste Kulturministerium der Region gegründet. Nur schwanken die Zuschüsse beträchtlich, ganz nach dem Willen der jeweiligen Regierung. Doch die Kultur gilt als öffentliche Aufgabe, in den anderen Ländern nicht. In Nicaragua spielte die Kultur lediglich in der Revolutionszeit eine große Rolle. Damals gehörte sie zu dem nötigen Umbruch, den wir durchgeführt haben.
Schumann: Als eines der ersten Ministerien wurde das der Kultur geschaffen.
Ramírez: Damit wollten wir die kulturelle Tradition wieder beleben: die traditionelle Musik, die traditionelle Kosmovision, die Poesie - alles sollte gleichwertig behandelt werden. Wir haben den Verlag Neues Nicaragua gegründet und Hunderte von Büchern publiziert. Ein Filminstitut ins Leben gerufen, es war die "goldene Zeit" des Films in Nicaragua. Die heutige Regierung will dagegen nichts von Kultur wissen, denn sie will keine Probleme durch die Kultur bekommen. In Honduras, Guatemala und El Salvador sind die Mittel genauso inexistent.
"Es gibt keinen Cent für kulturelle Aktivitäten"
Schumann: Was heißt das, kein Problem mit der Kultur bekommen? Hat die Regierung Angst vor einer kritischen, oppositionellen Kultur?
Ramírez: So ist es. Wenn sie nun mal da ist, dann nur am Rand des Staates. Das Kulturinstitut verfügt in Nicaragua über ein jährliches Budget von zwei Millionen Dollar. Das reicht gerade, um das Nationalmuseum, die Nationalbibliothek und eine Kunstakademie offen zu halten, das heißt, die Angestellten zu bezahlen. Es gibt keinen Cent für kulturelle Aktivitäten.
Schumann: Andere Länder besitzen noch nicht einmal solche Institute.
Ramírez: Aber diese Institute sind tot.
Schumann: Was steckt denn hinter dieser kulturellen Ignoranz?
Ramírez: Die Kultur wird von den Regierenden als etwas völlig Nebensächliches betrachtet. Das hat dazu geführt, dass private Unternehmen diese Lücke füllen und Kultur fördern. Banken oder Firmen finanzieren Bücher und Biennalen oder unterstützen einen Künstler. Sie fördern jedoch nur das, was ihren Interessen entspricht, denn sie wollen Probleme mit der Regierung und dem politischen Establishment vermeiden.
Schumann: Konfliktreiche Regionen bieten viel Stoff für kulturelle Auseinandersetzungen. Ich denke dabei an Kolumbien. Wie haben denn die Künstler und Schriftsteller Mittelamerikas auf die zahlreichen Konflikte reagiert?
Ramírez: Auf Kunstausstellungen sieht man viele Installationen und Kunstwerke vor allem von jüngeren Künstlern, die sich mit den Alltagsproblemen sehr kritisch beschäftigen. Ähnliches gilt auch für die Literatur sowie für das Kino. Die wenigen Filme, die in Mittelamerika entstehen, zeigen die Konflikte sehr deutlich, vor allem die Dokumentarfilme, Spielfilme werden nur wenige produziert. Sie kritisieren die vielen Umweltprobleme, das Verschwinden der Wälder, die Auswanderungswellen der Armen in die USA. "Der Zug des Todes" ist ein berühmtes Beispiel hierfür. Die Kunst nimmt wirklich Stellung.
Schumann: Sie haben bereits das Schriftstellertreffen Mittelamerika erzählt erwähnt. Kommen Sie damit ihrem alten Traum der kulturellen Integration der Region näher?
Ramírez: Ich habe mich schon sehr früh gefragt, was Mittelamerika eigentlich ausmacht. Und habe die Region sehr gründlich auf Reisen kennen gelernt Ich war damals, in den 60er-Jahren, als 20-jähriger Pressesprecher der Konföderation mittelamerikanischer Hochschulen und habe mir immer wieder die Frage gestellt: wieso leben wir zusammen und doch nur Rücken an Rücken? Es wäre vieles viel einfacher, wenn wir uns umdrehten und ins Gesicht schauten. Als erstes großes Projekt schufen wir 1968 in Costa Rica den Mittelamerikanischen Universitätsverlag und demonstrierten damit, dass Bücher in ganz Mittelamerika verbreitet werden konnten und dass ein gut gemachtes und gut lanciertes Buch auch gekauft wurde.
"Wir haben ganz Mittelamerika mobilisiert"
Schumann: Sie haben damals sogar den Bankkredit von 100.000 Dollar zurückgezahlt, und dann 1971 in Costa Rica das wohl bisher größte Kulturfestival der Region veranstaltet.
Ramírez: Wir haben ganz Mittelamerika mobilisiert: eine Kunstbiennale durchgeführt, die einzige, die es jemals gab, eine Buchmesse, ein Theater-Festival. Wir haben das Maximale versucht und es maximal erreicht. Danach habe ich diesen Bereich der kulturellen Integration verlassen, habe ein DAAD-Stipendium in Deutschland angetreten und mich dann in die Revolution gestürzt. Und sehe heute, dass wir wieder Rücken an Rücken dastehen. Deshalb habe ich die digitale Kulturzeitschrift "Carátula" ins Leben gerufen, die erstaunlicherweise von 25.000 Lesern frequentiert wird. Und letztes Jahr haben wir dieses mittelamerikanische Schriftstellertreffen gegründet, zu dem aber nicht nur Autoren der Region eingeladen werden, sondern auch solche aus Deutschland, Frankreich, Spanien, Mexiko, Kolumbien und aus der Karibik. Vor allem jedoch jüngere mittelamerikanische Schriftsteller, die mit den anderen das Gespräch suchen sollen. Wozu? Damit wir dieses Gefängnis Mittelamerika, wo wir wie unter Hausarrest stehen, hinter uns lassen.
Schumann: Ist die Kultur das wichtigste Bindeglied in Mittelamerika, vielleicht sogar das einzige?
Ramírez: Die Kultur ist stets der beste Identitätsträger. Ich möchte nur gleich hinzufügen: Identität folgt aus Diversität, je verschiedener wir sind, desto identischer werden wir. Nationalistische Gleichmacherei halte ich für gefährlich. Identität entsteht aus der Auseinandersetzung mit anderen Ideen. Wir haben in Mittelamerika etwas Gemeinsames: unsere Sprache. Es gibt auch gemeinsame Wesenszüge zwischen einem Salvadorianer, einem Nicaraguaner und einem Guatemalteken, es gibt allerdings auch sehr große Unterschiede. Damit müssen wir uns konfrontieren, denn wir können uns nur finden, wenn wir in verschiedene Spiegel blicken.
Schumann: Ihr neuestes Projekt des Kulturaustauschs heißt im Original übersetzt "Der zerbrochene Spiegel" und in der deutschen Ausgabe "Zwischen Süd und Nord. Neue Erzähler aus Mittelamerika." Diese Anthologie mit 26 Schriftstellern ermöglicht einen der seltenen Einblicke in die Literatur dieser Region und ihrer jüngsten Autoren-Generation.
Ramírez: Ich wollte zeigen, was diese Generation schreibt und was für ein Bild sie sich von den gesellschaftlichen Problemen im Mittelamerika von heute macht. Ich glaube jedoch nicht, dass Literatur notwendigerweise nur solche Themen behandeln sollte, denn ich kann mir sehr wohl eine sehr gute Literatur vorstellen, die damit gar nichts zu tun hat. Diese neue Generation beschäftigt sich nun genau damit: mit der erzwungenen Emigration, dem Drogenhandel, der Doppelmoral, die zur Korruption führt.
Schumann: Ist die mittelamerikanische Literatur der beste kulturelle Spiegel der gesellschaftlichen Realität?
Ramírez: Ganz gewiss. Es gibt einen roten Faden in der literarischen Tradition und der zeigt sich in der Darstellung der soziopolitischen Wirklichkeit. Solange die Anormalität unserer gesellschaftlichen und politischen Situation andauert, solange wird sie Literatur hervorbringen. Wenn Mittelamerika eines Tages zu normalen Institutionen finden sollte, wenn Regierungserklärungen nicht mehr zu großen Konfrontationen führen, wenn Regierungen sich regelmäßig abwechseln, wenn die Regierenden Gerichtsurteile respektieren, wenn Wahlergebnisse keine traumatischen Folgen haben, wenn die Menschenrechte geachtet werden - dann wird die literarische Bedeutung dieser Realität an Gewicht verlieren.
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