Julia wartet schon, auf dem Marktplatz in der Würzburger Altstadt. Ihren richtigen und vollen Namen möchte sie im Radio lieber nicht nennen. Die Sonne scheint, in den Cafés sitzen aber nur wenige Gäste – es ist Vormittag, ein Werktag, die meisten Leute arbeiten. Julia nicht, denn die junge Gymnasiallehrerin hat Ferien. Trotzdem fällt es ihr schwer, entspannt durch die Stadt zu bummeln.
"Gestern habe ich mich arbeitslos gemeldet. Das muss man ja auch jedes Jahr tun. Weil man einen befristeten Vertrag hat. Das heißt, man muss sich arbeitssuchend melden, jedes Jahr, beim Arbeitsamt, das habe ich gestern getan."
Es ist das dritte Jahr in Folge für Julia. Ihr aktueller Vertrag läuft noch bis Ende August. Die 29-Jährige geht weiter über den Marktplatz, vorbei an Modegeschäften. Die neue Sommerware würdigt die sportliche junge Frau mit langen blonden Haaren keines Blickes. Dabei sieht man, dass sie Wert auf ihr Äußeres legt: Terrakotta-farbenes Shirt zum blauen Rock, die Haare sind zu Wellen frisiert, etwas Schmuck. Alles H&M sagt sie, Marken sind nicht drin.
Eigentlich ist Julia das, was man in Deutschland solide Mittelschicht nennt: Gut ausgebildet, fleißig, ganz ordentliches Gehalt von 1.800 Euro netto im Monat. Doch ihre berufliche Zukunft ist unsicher. Junge Gymnasiallehrer werden in Bayern derzeit kaum verbeamtet. Sie hangeln sich von Vertretung zu Vertretung.
"In meiner Fächerkombination Englisch, Französisch werden im Jahr in Bayern ein bis zwei Leute, wenn man Glück hat, eingestellt. Und auf der Warteliste sind aber sechzig bis siebzig Leute ungefähr."
Auf der Warteliste steht Julia seit zwei Jahren – doch die Chancen auf eine staatliche Stelle zu rutschen, sind winzig. Es schwingt reichlich Galgenhumor mit, wenn Julia erzählt, was aus ihrem Mädchen-Traum "Lehrerin" geworden ist. Sie lernte Sprachen, ging ein Jahr nach Paris, studierte. Dann kam das böse Erwachen.
Im ständigen Schwebezustand
"Am ersten Tag unseres Referendariats wurde uns eigentlich gesagt: Hallo, guten Tag, sie werden übrigens alle keinen Job bekommen. Beim Staat versuchen sie es gar nicht erst, denken Sie gar nicht dran erst, vielleicht einer aus ihrem Jahrgang wird es schaffen, für den Rest wird es nichts. Und wer jetzt noch gehen will, bitte gehen Sie. Das war wie eine Seifenblase, die plötzlich "blubbb". Es war einfach alles, alles weg."
Julia lebt seitdem in einem Schwebezustand. Immer ab April verschickt sie über hundert Bewerbungen für Vertretungsstellen – nicht nur in Würzburg, sondern in ganz Süddeutschland. Ab Mai hagelt es Absagen. Gesucht werden derzeit vor allem Mittelschullehrer – aber sich dafür umschulen lassen? Julia schüttelt entschieden den Kopf. Sie ist Gymnasiallehrerin! Aktuell arbeitet sie in Teilzeit bei einem privaten Träger, dafür fährt sie fast eine Dreiviertelstunde aufs Land, hin und zurück. Zusätzlich gibt Julia Nachhilfe. Noch hofft sie, dass ihr Vertrag verlängert wird.
"Das heißt, man muss immer 100 Prozent geben oder 120 wenn es am besten ist. Ich sitze dann teilweise abends bis 11, schreibe noch den letzten Homepage-Artikel, oder mache noch den Blog zum Französischaustausch oder hier oder da."
Julia erzählt munter, lächelt viel. Fast als belaste sie nicht, dass offen ist, wie lange sie ihren Teil der 1200-Euro-Miete für die gemeinsame Wohnung mit dem Freund noch zahlen kann. Wie sie künftig ihren 7000-Euro-Kredit für die Bafög-Rückzahlung bedienen soll. Wie es im Alter aussieht, falls sie nie verbeamtet wird. Sie nimmt einen Schluck von ihrer Saftschorle. Im Referendariat, sagt sie trocken, lerne man Schauspielern.
Am Nebentisch im Straßencafé sitzen zwei Mütter mit Kindern. Das Mädchen rutscht auf seinem Stuhl hin und her, der Junge schleicht an unserem Tisch vorbei. Wie sieht es bei Julia mit Kindern aus?
"In so einer Unsicherheit kann man ja keine Kinder kriegen"
"Von meinem Freund der Cousin und seine Frau haben gerade ein Kind bekommen. Sie arbeitet zum Beispiel in der Küche. Wahrscheinlich verdient sie weniger als ich. Aber für sie ist es gar kein Problem, ein Kind zu kriegen, aber in meiner Stellung – in so einer Unsicherheit kann man ja keine Kinder kriegen."
Wenn man Julia fragt, wo sie sich in der Gesellschaft sieht, sagt sie zögernd "Mittelschicht". Dabei ist ihr ein seltenes Kunststück gelungen: Als Tochter eines LKW-Fahrers ist sie in die Mitte aufgestiegen, hat als Erste in ihrer Familie studiert. Doch jetzt verschwimmen für sie die Grenzen.
"Ich fühle mich ja manchmal nicht zur Mittelschicht zugehörig, weil ich zu meinem Vater gar keinen großen Unterschied sehe und weil sich das wahrscheinlich auch auflöst. Mittelschicht, Unterschicht, für mich kein großer Unterschied. Natürlich zu Hartz 4-Leuten schon, immer noch. Aber, ich sag mal, zur Oberschicht – da wird es immer größer."
Etwas später vor Julias Wohnung. Ein ruhiges Viertel. Mietshäuser. Gutbürgerlich. Viele Parkplätze. Auf einem davon steht Julias Auto. Ein etwas verkratzter Audi, 230.000 Kilometer, ein Geschenk der Tante. Um durch den TÜV zu kommen, hat sie gerade 700 Euro gezahlt. Für weitere Reparaturen ist jetzt kein Geld mehr da.
Und dann wird sie doch einen Moment wehmütig. Sie zeigt auf den schlichten 50er-Jahre-Bau gegenüber: ein Gymnasium. Dort würde Julia gerne arbeiten – als Beamtin. Manchmal bleibt der Gong in den Ferien an, dann hört sie ihn morgens um 8 in ihrer Wohnung – 100 Meter entfernt, aber unerreichbar.
Wie geht es der deutschen Mittelschicht?
Die deutsche Mittelschicht – wer ist das eigentlich genau und wie geht es ihr? Im laufenden Wahlkampf wird sie jedenfalls umgarnt. Jede Partei verspricht, die Mittelschicht zu entlasten. Kein Wunder: Zur Mitte gehören die meisten Wähler.
Über den Zustand der Mittelschicht machen sich aber nicht nur Politiker, sondern auch Soziologen und Ökonomen Gedanken – etwa am ifo-Institut in München. Der Hauptsitz liegt im Nobel-Stadtteil Bogenhausen. Ein villenartiges Gebäude mit breiter Treppe, Säulen und schön angelegtem Garten. Der neueste Mitarbeiter, ein ausgewiesener Kenner der Mittelschicht, zieht gerade im obersten Stock ein. Die Räume sind hell, hohe Decken, viel Glas und etwas Holz.
Andreas Peichl ist 38, Experte für Verteilungsfragen und der neue Leiter des Bereichs Konjunkturforschung und Befragung des ifo-Instituts. Statt Jackett und Krawatte trägt er ein blau-weiß gestreiftes Polohemd. Die Mittelschicht beschäftigt den Wissenschaftler immer wieder – gerade erst in einem Gutachten für den Armuts- und Reichtums-Bericht der Bundesregierung. Definitionen gibt es viele.
"In der Soziologie wird gesagt, die Mittelschicht sind die mittleren 50 Prozent oder 60 Prozent der Bevölkerung, unabhängig jetzt vom konkreten Einkommen. Andere Kollegen sagen immer, Mittelschicht ist, wer sich ein deutsches Auto leisten kann oder ein Haus mit Vorgarten oder Doppelhaushälfte, da gibt es eben auch ganz unterschiedliche Ansätze. Aber typischerweise gehen wir in der Forschung immer vom Einkommen aus."
Und zwar vom mittleren – dem Medianeinkommen. Wer über 80 bis 150 Prozent dieses Einkommens verfügt, gilt als Mittelschicht. Konkret sind es Singlehaushalte, die von gut 1.400 bis 2.600 Euro im Monat zur Verfügung haben, oder Paare mit zwei Kindern, die auf 2.500 bis 5.500 Euro netto kommen. Die Mittelschicht bildet mit über 40 Millionen Menschen das Rückgrat der Bundesrepublik. 50 bis 55 Prozent der Deutschen – eine riesige, aber durchaus heterogene Bevölkerungsgruppe. Die Mitte kauft beim Discounter oder auch beim Türken nebenan genauso ein wie beim edlen Feinkostladen.
Aber wie geht es ihr? Dazu gibt es viele Meinungen. Oft wird die Mittelschicht als "Melkkuh" dargestellt. Die Mitte im "Schwitzkasten". Häufig ist auch von Abstiegsangst die Rede. Die Wissenschaft ist sich aber nicht einig. Das manchmal als "gewerkschaftsnah" bezeichnete Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin sieht ein leichtes Schrumpfen der Mittelschicht. Für das arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln dagegen ist sie stabil und kaum von Armut bedroht.
"Man sieht nicht wirklich, dass die Mittelschicht schrumpft, wenn insbesondere wenn man die Haushaltsgröße berücksichtigt. Was man sehr wohl sieht ist, dass es immer weniger Paarhaushalte mit Kindern gibt und immer mehr Singlehaushalte und Alleinerziehende-Haushalte. Und das führt dazu, dass vielleicht gefühlt der Anteil schrumpft, weil es natürlich klar ist, dass ein Singlehaushalt oder ein insbesondere Alleinerziehenden deutlich weniger Einkommen zur Verfügung haben als ein Zweiverdiener-Paarhaushalt."
Abstiegsangst steht im Widerspruch zur tatsächlichen Lage
Für Andreas Peichl vom Ifo steht die Abstiegsangst der Mitte, die immer wieder in Befragungen auftaucht, im Widerspruch zur tatsächlichen Lage.
"Ich glaube in Deutschland geht es uns sehr gut und ich würde mir kein anderes Land vorstellen können, wo ich jetzt wohnen würde, ich würde auch zu keiner anderen Zeit in Deutschland wohnen wollen."
Der Ökonom macht aber durchaus Faktoren aus, die die Mitte verunsichern: Terrorismus, die Finanzkrise, schwach steigende Realeinkommen, Nullzinsen auf risikoarme Anlageformen wie Lebensversicherung und Sparbuch. Muss die Politik mehr tun für die Mitte? Seine Antwort, betont er, sei eher die des Hobbyphilosophen, als die des Wissenschaftlers: Für ihn sind die Sozialabgaben die Krux. Weil sie ab einem bestimmten Einkommen nicht mehr steigen, schultert die Mitte die mit Abstand schwerste Last. Da sollte die Politik ran, meint Andreas Peichl.
"Meine Vorstellung sieht so aus, dass die Belastung am oberen Ende der Einkommensverteilung stärker sein sollte, als in der Mitte der Einkommensverteilung. Das ist in Deutschland nicht unbedingt der Fall. Insofern würde ich schon sagen, dass das Steuer- und Transfersystem als Ganzes in Deutschland nicht besonders gerecht ist."
Noch einmal nach Unterfranken: Eingebettet zwischen Weinbergen, direkt am Main, reiht sich ein beschauliches Winzerdorf an das nächste. In einem davon, in Sommerhausen, sind es vom Altort nur ein paar Schritte zu einer neuen Reihenhaussiedlung.
Die kleine Johanna, anderthalb, läuft mit ihrem Teller zur Spülmaschine. Auf der Couch schläft das neueste Familienmitglied: Maximilian, vier Wochen alt. Bevor sie Eltern der beiden wurden, lebten Lena und Philipp Hümmer zehn Jahre lang in München.
"Wir waren irgendwann an dem Punkt in München, wo wir gesagt haben, bleiben wir jetzt wirklich dauerhaft hier, also vor der Familiengründung. Oder wollen wir wirklich, wenn wir eine Familie gründen, doch bisserl näher an die Eltern ran und vielleicht auch ein bisserl aus der Großstadt raus."
Aber noch etwas sprach für den Umzug. In München wäre eine große Familienwohnung oder sogar ein Haus wie jetzt finanziell einfach nicht drin gewesen. Doch nun haben sie 150 Quadratmeter, vier Schlafzimmer, einen großen Garten. Das alles zum Kaufpreis von 300.000 Euro. In München - undenkbar.
Teurer Lebensstandard in den Ballungszentren
"Die Preise, die da jetzt für Wohnungen verlangt werden mittlerweile, das ist Irrsinn."
"Da hätten wir anderswo Abstriche machen müssen. Da hätte ich natürlich nicht daheim bleiben können - insgesamt vier Jahre mit den Kindern. Dann hätten wir die Kinder in die Krippe oder was und ich hätte halt wieder arbeiten müssen. Und so ist das Luxus muss man sagen, ich kann bis der Kleine zwei wird mindestens daheim bleiben. Ohne, dass das wir am Hungertuch knabbern müssen."
"Nein, das Geld reicht gut momentan."
Wenn die beiden erzählen, schauen sie sich häufiger an, formulieren genau. Philipp und Lena Hümmer sind Polizisten – beide verbeamtet. Sie wollen sich nicht über ihr früheres Leben beschweren, das ist ihnen wichtig. Klar ist aber auch: Der zweistellige Ballungsraumzuschlag in München glich die hohen Lebenshaltungskosten nicht aus.
Etwa 37.000 Euro netto hat die Familie pro Jahr zur Verfügung. Damit zahlen die Hümmers den Hauskredit ab, im Wohnzimmer liegt viel neues Kinderspielzeug, auch Urlaubsreisen sind drin. Die jungen Eltern finden, ihnen geht es gut in der Mitte der Gesellschaft.
"Wir haben einen super hohen Lebensstandard gerade im Vergleich zu anderen Ländern. Ich bin sehr, sehr froh, dass es so ist wie es ist. Aber ich glaube, dass man die Geschichte in die Hand nehmen muss."
Verstehen die Hümmers trotzdem, dass sich viele in ihrer Schicht Sorgen machen? Wie sehen Sie den Zustand der Mitte in Deutschland? Beide überlegen. Als sie noch in der Stadt gelebt haben, war auch ihre Stimmung etwas anders, räumen sie ein.
"Und hier ist man halt einfach nicht mit weniger zufrieden, weil man mehr hat, aber man sagt sich halt oft, den Kindern geht es gut, man hat ein Häuschen, ein Dach über dem Kopf, es passt einfach. In München hat man sich manchmal, das klingt jetzt blöd, mit so Lappalien beschäftigt und sich aufgeregt über Sachen, wo man jetzt denkt, eigentlich dumm…"
Ein Parkplatz in Nürnberg. Er gehört zur Zentrale der Bundesagentur für Arbeit: ein 70er-Jahre-Betonkoloss mit verspiegelten Scheiben. In einem Nebengebäude sitzt das agentureigene Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, kurz IAB.
Zu den Wissenschaftlern, die hier die Situation der deutschen Mittelschicht untersuchen, gehört der Ökonom Ulrich Walwei. Er ist auch Vizepräsident des Instituts. Während des Interviews wirkt er ausgesprochen gelassen, auf keinen Fall besorgt. Schließlich brummt der Arbeitsmarkt in Deutschland und die Zahl der Arbeitslosen sinkt.
"Die Mittelschicht ist jetzt – anders als das oft behauptet wird – nicht in starkem Maße von prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen."
Berufseinsteiger müssen sich oft mit befristeten Verträgen zufriedengeben
Nach Erkenntnissen des IAB sind es vor allem Geringverdiener, die von Zeitarbeit, Leiharbeit und Werkverträgen betroffen sind, also von sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnissen. Der Mittelschicht bleiben die erspart. Meistens zumindest. Doch es gibt Ausnahmen: Berufseinsteiger, die frisch von der Uni kommen, müssen sich immer häufiger mit befristeten Verträgen zufriedengeben.
"Bei den jüngeren Akademikern ist es so, dass sie häufig zunächst befristet werden. Wenn wir dann auf deren weitere Erwerbsbiografie schauen, sehen wir, dass sie dann doch über die Zeit nach fünf bis zehn Jahren in aller Regel dann in eine unbefristete Beschäftigung einmünden."
Auch wer - zum Beispiel nach Eltern- oder Pflegezeit - wieder in den Beruf einsteigt, bekomme häufig erst mal eine befristete Stelle, erklärt Ulrich Walwei nüchtern.
Trotz der insgesamt guten Lage am Arbeitsmarkt kann er Sorgen in der Mittelschicht durchaus nachvollziehen.
"Die Abstiegsängste und auch Sorgen der Mittelschicht, die wir beobachten und die wir auch aus Befragungen kennen, die rühren eigentlich weniger aus der Frage der Arbeitsverhältnisse bei der Mittelschicht, sondern die rühren vielmehr aus der Frage der sozialen Absicherung."
Stichwort: Hartz 4. Könnte man das als Damoklesschwert sehen, das auch über der Mittelschicht hängt? Ulrich Walwei überlegt einen Moment, schaut aus seinem Bürofenster, bevor er etwas nachdenklich formuliert.
"Das war so etwas wie ein Damoklesschwert. Tatsächlich kann man jetzt aus der Mittelschicht viel schneller abstürzen in die Grundsicherung."
Schnellerer Absturz aus der Mittelschicht
Seit den rot-grünen Arbeitsmarktreformen droht der Absturz aus der Mittelschicht schneller. Das Arbeitslosengeld wird in der Regel nur noch für 12 Monate bezahlt, danach kommt schon Hartz 4. Wenig Gnadenfrist für Menschen, die unerwartet schwer krank werden, Angehörige pflegen müssen oder entlassen werden. Der Arbeitsmarkt ist für die Mittelschicht ungemütlicher geworden, bestätigt Ulrich Walwei. Und eines haben die Arbeitsmarktreformen übrigens nicht verbessert: die Aufstiegschancen der Unterschicht.
"Unsere Analysen zeigen, dass es sehr schwer ist für Personen, die sich im unteren Einkommensbereich bewegen, tatsächlich in die Mittelschicht aufzusteigen. Das Hindernis ist häufig Bildung, das ist das Thema Berufsabschluss. Das zählt halt in Deutschland sehr, sehr viel."
Die Nürnberger Gartenstadt ist nur ein paar Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Doch man fühlt sich fast wie auf dem Land. Reihenhäuschen, etwa hundert Jahre alt, Vorgärten mit üppigen Rosenbüschen. Die Kleinwagen, die davor parken, sind alle nicht mehr ganz neu. Eine Rentnerin trägt ihre Lidl-Tüten nach Hause.
Aus einem Fenster im zweiten Stock winkt eine Frau. Am Telefon hatte Angelika Helar noch gesagt, sie sei ein bisschen nervös wegen des Interviews. Doch als sie die Tür öffnet, macht sie einen entspannten Eindruck. Sie hat Urlaub. Die Mitte-50-Jährige trägt Jeans und ein blaues T-Shirt. Ihre braunen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Angelika Helar stellt frischen Kaffee auf den Esstisch – und spricht schon nach ein paar Minuten ganz offen über ihre finanzielle Lage.
"Es geht schon. Aber große Sprünge kann man keine machen. Wenn irgendwelche Dinge kaputtgehen, so wie Waschmaschine oder ähnliches – also große Rücklagen habe ich nicht gebildet – dann ist es immer ein bisschen schwierig."
Und das obwohl sie Vollzeit als Sekretärin arbeitet.
"Also ich krieg raus… so 1450 Euro ungefähr."
1450 Euro netto. Statistisch gehört Angelika Helar damit noch zur Mittelschicht in Deutschland, zur unteren Mittelschicht. Größere Ausgaben muss sie im Voraus planen und dafür Geld ansparen, für Urlaub mit ihrem Freund, zum Beispiel. Kino oder Essen gehen mit Freundinnen, das ist aber kein Problem.
"Ich meine, ich arbeite 40 Stunden. Und für mich besteht das Leben jetzt nicht nur aus Arbeit. Sondern das Außenrum ist mir schon sehr wichtig."
Zum "Außenrum" zählt auch ihre Wohnung, in der sie alleine lebt. Gut 70 Quadratmeter, schön hell. 620 Euro zahlt sie dafür im Monat. Ein Auto hat sie nicht, könnte sie sich auch kaum leisten. Ist sie also zufrieden mit ihrer Lebenssituation?
"In meiner momentanen Situation finde ich nicht, dass der Staat da sehr viel machen könnte"
"Ja, eigentlich schon. Man ist nicht immer komplett glücklich, aber zufrieden."
Ein bisschen größere Sprünge würde sie trotzdem gerne machen. Aber die Politik sieht sie deshalb nicht in der Pflicht.
"In meiner momentanen Situation finde ich nicht, dass der Staat da sehr viel machen könnte. Vielleicht die Steuersätze ein bisschen niedriger für die alleinstehenden Personen. Single, ohne Kinder, die ein bisschen senken. In die Zukunft gehen wir wahrscheinlich noch gar nicht. Rente… ist ein ganz anderes Thema."
Rente, ein schwieriges Thema. Ihre Altersvorsorge macht ihr Sorgen.
"Und es wird wahrscheinlich auch so sein, wenn ich denn gesund und fit bin, dass ich nebenbei arbeiten muss. Oder ich ziehe zu meinem Partner. Ich denke, da wird es drauf hinauslaufen, dass man dann sagt: Okay, jetzt zusammenziehen. Ansonsten wird’s schon ein Problem."
Zum Schluss des Besuchs zeigt Angelika Helar noch ihren Garten. Sie geht voraus, erst die Treppe hinunter, dann ums Haus. Dahinter: eine kleine Garten-Parzelle neben der anderen. Noch kann sie sich ihren Sonnenplatz leisten. Noch gehört sie zur Mittelschicht. Doch ihre Rente wird wohl nicht mehr für die Wohnung mit Garten reichen. Angelika Helar rutscht dann raus aus der komfortablen Mitte der Gesellschaft. Und das, obwohl sie ihr Leben lang gearbeitet hat.