Christiane Kaess: Ich spreche mit dem Vorsitzenden der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung von CDU und CSU, Carsten Linnemann. Guten Morgen.
Carsten Linnemann: Guten Morgen, Frau Kaess.
Kaess: Laut Steuerschätzung kann die nächste Regierung 30 Milliarden Euro mehr ausgeben. Hätten Sie eine Idee wofür?
Linnemann: Es kommt natürlich darauf an, mit welcher Partei Sie reden. Aber ich glaube, dass alle Parteien im Wahlkampf gesagt haben, dass sich private Anstrengung wieder lohnen muss. In den letzten Jahren gab es immer Gründe, warum wir denjenigen, der morgens aufsteht, der Arbeiten geht, der diesen Staat am Laufen hält, wie man so schön sagt, nicht entlastet haben. Deswegen erwarte ich von dieser neuen Regierung im Sinne der sozialen Marktwirtschaft, dass sich diese private Anstrengung wieder lohnt, und deswegen fordere ich eine Entlastung für die Bürger. Die muss jetzt kommen.
"Das ist allein eine Glaubwürdigkeitsfrage"
Kaess: Wie denn konkret?
Linnemann: Natürlich brauchen wir die Abschaffung des Solis. Ganz klar! Das ist allein eine Glaubwürdigkeitsfrage. Dass wir den Einstieg in den Ausstieg und das mit einem Fahrplan verbinden, dass die Bürger uns auch glauben, dass er jetzt wirklich wegkommt, völlig richtig. Aber wir müssen das koppeln an eine Steuerreform gerade im unteren Tarif. Das sind die unteren und mittleren Einkommen, die überproportional in Deutschland belastet wurden in den letzten Jahren, die wir vernachlässigt haben. Wir haben viel für den Sozialstaat gemacht und jetzt müssen wir auch an diejenigen denken, die diesen Sozialstaat finanzieren. Das sind die unteren und mittleren Einkommen. Das sind Krankenschwestern, Polizisten und so weiter.
"Auch untere und mittlere Einkommen im Blick haben"
Kaess: Herr Linnemann, da hat jetzt die FDP schon gesagt, das Ende des Solis machen wir nicht abhängig von einer Steuerreform.
Linnemann: Ja. Deswegen gibt es Verhandlungen. So ist das nun mal.
Kaess: Das ist aber eine eindeutige Position. Was wollen Sie denn dem entgegensetzen?
Linnemann: Dem kann ich entgegensetzen, dass eine Familie in Deutschland, die 50.000 Euro verdient im Jahr, von einer Soli-Entlastung nicht betroffen ist, weil sie heute gar keinen Soli zahlt. Deshalb möchte ich nicht, dass diese Koalition rausgeht, dass sie nur was macht für die oberen 10, 20 Prozent, sondern ich möchte gerne, dass sie gesellschaftspolitisch denkt und auch die unteren und mittleren Einkommen im Blick hat. Deswegen brauchen wir beides, den Soli-Abbau und eine Koppelung an eine Tarifreform.
"Diese Korrektur müssen wir jetzt angehen"
Kaess: Aber, Herr Linnemann, die FDP wollte ja auch eine große Steuerreform und die ist davon schon abgerückt. Jetzt wollen Sie den Rückbau des Solis immer noch verbinden mit einer Steuerreform. Sieht die FDP vielleicht Ihre Partei da realistischer als Sie selbst und weiß einfach, dass mit der Union eine große Steuerreform nicht zu machen ist?
Linnemann: Frau Kaess, ich bin nicht naiv, dass ich nicht weiß, dass es keine große Steuerstrukturreform geben kann. Aber eine Steuerreform ist nicht gleich eine große Steuerreform. Wir haben ein Problem mit dem Tarif. Wir haben in den letzten Jahren diesen Mittelstandsbauch, der erwachsen ist, erlebt, der genau die unteren und mittleren Einkommen trifft. Meine Partei hat mit Friedrich Merz, mit Professor Kirchhof vor 10, 15 Jahren auf diesen Umstand deutlich gemacht, dass es hier einer Korrektur bedarf. Und diese Korrektur müssen wir jetzt angehen. Da muss man einen Kompromiss finden und beides machen. Dann dauert es halt ein Ticken länger, bis der Soli aufhört.
"Ich möchte gerne für die gesamte Gesellschaft da sein"
Kaess: Herr Linnemann, wenn ich da gerade mal kurz einhaken darf? Das was Sie beschreiben, das belegt ja genau, wie lang diese Diskussion bei Ihnen in der Partei schon anhält, und es hat sich ja nichts getan. Woher nehmen Sie denn den Optimismus, dass sich jetzt da was ändern wird?
Linnemann: Weil nicht nur meine Partei – das habe ich eben gesagt -, weil alle Parteien das im Wahlkampf gesagt haben. Und selbst der ehemalige Finanzminister Wolfgang Schäuble hat gesagt, wir haben hier ein eklatantes Problem. Und ich möchte nicht einer Jamaika-Koalition angehören, wo im Nachhinein gesagt wird, die machen nur was für Besserverdienende. Ich möchte gerne für die gesamte Gesellschaft da sein, auch für die unteren und mittleren Einkommen. Und wenn die überproportional belastet werden, wird das nicht funktionieren. Deswegen brauchen wir beides und wegen mir kann man das verbinden mit einem Fahrplan. Das geht nicht von heute auf morgen, das wissen die Bürger auch. Aber dieser Fahrplan muss glaubwürdig sein und dafür werde ich kämpfen.
"Von heute auf morgen nicht 20 Kohleblöcke abschalten"
Kaess: Aber dennoch müssen Sie mit anderen möglichen Koalitionspartnern klar kommen. Ich habe jetzt die Position der FDP, die ist ja bekannt zum Soli, auch noch mal wiederholt. Die Grünen, die haben bereits Zugeständnisse beim Klimaschutz gemacht. Wo kann denn die CDU jetzt den möglichen Koalitionspartnern entgegenkommen, wenn Sie jetzt schon wieder ganz knallhart beim Soli sagen, so geht’s nicht, wie die FDP sich das vorstellt?
Linnemann: Ich glaube, dass wir in vielen Punkten entgegenkommen. Nehmen Sie das große Thema Klimapolitik, wo auch Armin Laschet, unser Chefverhandler, ganz klar sagt, dass wir das gerne machen können, indem wir an den Klimazielen festhalten. Es muss nur funktionieren, man muss es mit einem Fahrplan verbinden. Wir können von heute auf morgen nicht 20 Kohleblöcke abschalten, weil dann die Grundlastfähigkeit des Stroms in Gefahr ist und damit der Industriestandort Deutschland. Aber im Kern sind wir ganz klar bereit, nicht nur an den Klimazielen festzuhalten, sondern auch schneller aus der Kohle rauszukommen, aber es muss mit einem Fahrplan verbunden werden, der realistisch ist, damit der Industriestandort Deutschland nicht vor die Hunde geht. Hier haben wir ganz klar Kompromissbereitschaft gezeigt.
"Wir haben seit 15 Jahren die Kalte Progression nicht beseitigt"
Kaess: Aber lassen Sie uns noch mal auf den Konflikt mit der FDP gucken um den Solidaritätszuschlag, den die FDP so schnell wie möglich auf null zurückfahren will. Und Sie sagen, Sie warnen davor, das kann man nicht so schnell machen. Warum wollen Sie den Bürgern in diesem Rahmen nicht das Geld tatsächlich zurückgeben, denn das wäre doch einfach das schnellste und unkomplizierteste?
Linnemann: Frau Kaess, ich will das den Bürgern zurückgeben. Und wir werden ja sehen, ob wir das in den nächsten vier Jahren schaffen oder in den nächsten sechs Jahren. Wichtig ist, dass nächstes Jahr der erste Schritt folgt, dass die Bürger sehen, jawohl, sie machen es. Aber ich möchte nicht in fünf oder zehn Jahren die Situation haben, dass wir wieder eine Debatte haben in Deutschland über das Auseinanderklaffen nicht nur der Bruttogehälter, sondern auch der Nettogehälter, sondern ich möchte gerne, dass auch die unteren und mittleren Einkommen entlastet werden. Wir haben hier einen Fehler im Steuersystem, weil wir seit 15 Jahren die Kalte Progression nicht beseitigt haben. In den letzten drei Jahren haben wir das gemacht, das hat man kaum gemerkt.
"60, 70 Prozent haben kein Geld zur privaten Vorsorge"
Kaess: … hätte die CDU machen können.
Linnemann: Ja! Aber es ist nicht meine Aufgabe, jetzt in den Rückspiegel zu schauen. Sie sehen doch, dass ich innerlich etwas brodele. Nur Sie müssen mich auch verstehen. Es kann nicht sein, dass es erst die Energiewende gab, die wir finanziert haben. Dann gab es die Eurokrise. Es gab immer Gründe, warum wir diejenigen, die in Deutschland produktiv sind, ihr Leben selbst in die Hand nehmen, nicht entlasten. Sie müssen sich vorstellen: 60, 70 Prozent der Sparkassenkunden in Deutschland, die haben am Monatsende vom laufenden Gehalt kein Geld mehr zur Verfügung zur privaten Vorsorge. Da ist es doch fast ein Hohn, wenn wir über private Vorsorge reden, wenn wir die Bürger gar nicht in die Lage versetzen. Deshalb möchte ich gerne die Steuerreform des Soli koppeln an eine Tarifänderung im unteren Bereich.
Kaess: Über diese Entlastung der Bürger – das haben Sie ja selber dargestellt -, die Ihnen gerade sehr am Herzen liegt, da würden sich die meisten Bürger sicherlich auch sehr stark freuen. Aber dennoch ist es doch so, dass auch da der Rahmen einfach begrenzt bleibt, denn neue Schulden will man nicht machen.
Linnemann: Exakt.
"Wir wollen ein Beschleunigungsgesetz verabschieden"
Kaess: Jetzt kommen nach jüngsten Meldungen auch noch höhere Beitragszahlungen zum EU-Haushalt dazu. Das kommt jetzt auch noch obendrauf. Gehört denn dann auch bei Ihnen zur Ehrlichkeit nicht dazu, in diesen Sondierungsgesprächen in Berlin oder am Rande oder als Außenbeobachter, so wie Sie es gerade im Moment sind, auch zu sagen, wir haben nichts zu verschenken, unser Spielraum ist auch, was die Entlastung der Bürger betrifft, einfach begrenzt?
Linnemann: Das stimmt. Das wissen auch die Bürger. Trotzdem muss man offen sagen, wir haben immer noch eine Null-Zins-Politik. Das heißt, der Staat profitiert. Und wenn Sie genau hinhören, das ist auch richtig: Es werden Punkte in diesen Sondierungen diskutiert, auch in den Koalitionsverhandlungen, die etwas beschleunigen, die nichts kosten, die Planungssicherheit, Rechtssicherheit bringen, aber auch Beschleunigung. Denken Sie an das Thema Infrastruktur, Straßen in Deutschland. Da haben wir kein finanzielles Problem, sondern ein Problem, dass Straßen nicht planfestgestellt sind, dass die Planungen nicht vorangehen, weil Ingenieure fehlen, weil es so viele Möglichkeiten gibt zu klagen. Dort wollen wir beispielsweise ein Beschleunigungsgesetz verabschieden, dass es nur noch eine Klagemöglichkeit gibt, damit schneller gebaut werden kann. Sie sehen, es gibt auch Ideen. Nehmen Sie den Bereich Telekom. Die Grünen und die FDP möchten gerne die Telekom-Aktien verkaufen. Ich bin offen. Da würde ich persönlich auch denen entgegenkommen, weil ich sage, der Staat kann nicht gleichzeitig Regulierer sein und Anteilseigner bei der Telekom. Und wenn wir die verkaufen, haben wir auch wieder Geld, beispielsweise für Breitband, und da nicht für Kupfer, sondern ausschließlich für Glasfaser. – Sie sehen: Das sind zwei Beispiele, wie wir vorankommen können, um neues Geld zu akquirieren oder Beschleunigung herbeizuführen.
"CDU muss als Partei der Familie erkennbar werden"
Kaess: Herr Linnemann, Sie treten jetzt zusammen mit dem Wirtschaftsflügel in der CDU sehr stark für diese finanzielle Entlastung ein. Bisher ist die CDU ja nicht besonders stark mit einer tragenden Idee in diesen Jamaika-Sondierungen aufgefallen. Machen Sie sich Sorgen, dass Ihre Partei in den Sondierungen irgendwann nicht mehr erkennbar ist?
Linnemann: Natürlich ist das wichtig. Sie sprechen da, Frau Kaess, einen ganz wichtigen Punkt an. Ich finde, die CDU muss als Partei der Familie, der Normalverdiener erkennbar werden. Das ist auch ihr Markenkern, natürlich neben der inneren Sicherheit, was noch besprochen wird, was in den letzten Tagen nicht besprochen wurde. Gerade beim Thema innere Sicherheit und beim Thema Familie und Normalverdiener sollten wir einen Markenkern haben.
Kaess: Aber warum ist das denn so, Herr Linnemann? Warum ist es dann so schwer, bisher eine knackige, sage ich mal, Position der CDU in diesen Sondierungen zu erkennen? Weil es bisher einfach nur darum ging, die Kanzlerin zu stellen, und alles andere ist mehr oder weniger, sage ich jetzt mal ganz salopp, egal?
Linnemann: Wenn Sie die Verhandlungen beobachten, sehe ich noch gar keinen konsentierten Punkt, keinen Knackpunkt, wo etwas konsentiert wurde, wo man sich geeinigt hat.
"Wir sind noch nicht zu konsentierten Punkten gekommen"
Kaess: Aber es geht ja auch darum, dass die CDU sich mit einer eigenen Position, so wie FDP und Grüne das getan haben, stark hervorhebt, und das ist bisher nicht erkennbar.
Linnemann: Genau! Deswegen hoffe ich, dass jetzt in den Verhandlungen, die heute weitergehen, gerade im Bereich innere Sicherheit die CDU erkennbarer wird, dass auch der Markenkern hier deutlich wird. Frau Kaess, da haben sie völlig recht. Nur um es noch mal deutlich zu sagen: Es gibt keine konsentierten Punkte im Moment. Wir diskutieren seit acht Wochen in diesen Sondierungen. Faktisch acht Wochen sind die Bundestagswahlen her und wir sind noch nicht zu konsentierten Punkten gekommen. Da sagt der Bürger auch, was ist da los.
"Jetzt ist schon wieder ein Jahr verspielt"
Kaess: Aber, Herr Linnemann, wenn Sie dieses Bild, das die CDU nach außen abgibt, das ich jetzt so gezeichnet habe, auch so sehen und dem so zustimmen, wer ist denn da schuld und ist das vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass die Ära Merkel zu Ende geht?
Linnemann: Frau Kaess, ich habe Ihnen nicht in dieser Frage zugestimmt. Ich habe Ihnen gesagt, es gibt von keiner Partei irgendeinen konsentierten Punkt. Natürlich treten Parteien für etwas ein. Wir treten ein für Familien, für Normalverdiener, für die innere Sicherheit. Aber das ist auch das: Ja, ich bin ja selbst in der Verantwortung. Ich nehme auch an den Koalitionsverhandlungen teil. Nur was mich aufregt, ist: Jetzt ist schon wieder ein Jahr verspielt. Wenn Sie mich in zwei Monaten noch mal interviewen, dann werde ich Ihnen sicherlich sagen, was herausgekommen ist, gerade im Bereich innere Sicherheit, im Bereich Familien, und dann wird der Markenkern auch wieder deutlich. Zumindest werde ich dafür kämpfen.
Kaess: Das werden wir dann sehen. – Carsten Linnemann war das, Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung von CDU/CSU. Danke für das Interview heute Morgen.
Linnemann: Herzlichen Dank!
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