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Mnemotechnik auf dem Mississippi

Unsere Urahnen mussten ihre Beobachtungen mündlich weitergeben, was bei dem anfallenden Datenwust spezielle Mnemotechniken erforderte, also Sätze und Geschichten, die man sich merken konnte. Und so wurden aus den Sternen Tiere, aus Planeten Götter.

Von Mathias Schulenburg |
    Gil-galad war ein Elbenfürst,
    Die Harfe klagt im Liede noch:
    Von Berg und Meer umfriedet lag
    Sein Reich im Glanz und ohne Joch.

    Sein Schwert war lang, sein Speer war kühn,
    Weithin sein Helm aus Silber schien;
    Und silbern spiegelte sein Schild
    Der Sterne tausendfaches Bild.

    Doch lange schon ritt er davon,
    Weiß keiner, wo der Ritter blieb;
    Sein Stern versank in Düsternis
    In Mordors finsterem Verlies.


    Ein Gedicht von John Ronald Tolkiens, im "Herr der Ringe” Sam Gamgee, dem Gärtner, in den Mundgelegt. Tolkien hatte sich von nordischen Mythen inspirieren lassen, auch hatten es ihm die Sterne angetan.

    Tolkien lässt sich lesen, die dahinter liegenden Mythen dagegen bleiben dem Unkundigen zumeist verschlossen.

    Denn dunkel wirken die Werke der Alten, und allzu oft vermuten die Lesenden, dass der Mangel an Licht nicht den Texten, sondern ihrem eigenen schwachen Verstande anzulasten sei, was oft ja der Fall sein mag, aber nicht immer. Bei manchen Texten fehlt nur ein Schlüssel.

    Tatsächlich findet sich dann und wann ein Erklärungsmuster, das sogar hoffnungslos wirren Geschichten wie der folgenden Sinn verleiht. Man muss nur das Gleichnis eines Brummkreisels bemühen.

    Und dann sollte tatsächlich Sinn in das Folgende kommen können:

    Miniatur Nummer Eins – über den schwer zu erschließenden Sinngehalt alter Schriften

    Gott und der Teufel sitzen – im Werk des bedeutenden Dichters Robert Gernhardt – bei Cognac und Rotwein im Himmel und beobachten tief unten Ewald, einen Studenten, der sich in seiner Bude mit einem Mädchen zu Unsittlichem anschickt. Woraufhin Gott Ewald prüfen möchte wie einst seinen Knecht Hiob. Also schüttet Gott seine im Alten Testament festgehaltene Rede, "Das Buch Hiob", über Ewalds Zimmerwirtin, als Mittlerin, aus. Anderntags ... der Dichter persönlich:

    "Also er, Ewald, habe gestern abend die Gesine, ja, die kleine Anglistin, abgeschleppt, alles sei auch schon prima gelaufen, als plötzlich kurz nach zehn die Wirtin an die Tür geklopft habe. Nein, nein, nicht um Damenbesuch nach zehn sei es ihr gegangen, ja, ja, das wisse er, daß das kein Straftatbestand mehr sei, nein, sie habe vielmehr - aber hoffentlich kriege er das alles noch zusammen, was sie da zusammengeredet habe. Also erstmal habe sie ihn aufgefordert, seine Lenden zu gürten wie ein Mann – möglicherweise habe er beim Öffnen bereits einen etwas derangierten Eindruck geboten -, dann habe sie ihn gebeten, sie zu belehren, worauf ein Wasserfall von Fragen gefolgt sei, die ihm auch jetzt noch, Stunden darauf also, nicht aus dem Kopf gingen. Ob er, Ewald, die Bande der sieben Sterne zusammenbinden oder das Band des Orion auflösen könne. Oder: Wer dem Platzregen seinen Lauf ausgeteilt habe. Oder: Ob er vernommen habe, wie breit die Erde sei. Dann habe es Frau Reinig plötzlich mit den Tieren gehabt. Um Gemsen sei es gegangen, um irgendeine Hindin und um Raben. Dann habe sie des längeren vom Strauß erzählt, dessen Fittich sich fröhlich hebe, der aber seine Eier in der heißen Erde vergesse, da Gott ihm die Weisheit genommen und keinen Verstand zugeteilt habe, und welcher - also der Strauß immer noch - zu der Zeit, da er hoch auffahre, beide verlache, Roß und Mann."

    Was Frau Reinig sagt – und sie ist noch lange nicht am Ende -, ist im Wesentlichen tatsächlich die Rede Gottes an Hiob, wie sie im Alten Testament zu finden ist, nur in einen Zusammenhang gestellt, der Unvoreingenommene denken macht: Der Text mag heilig sein, Sinn hat er keinen. Gibt es Zusammenhänge, in denen er Sinn machen würde?

    Rainer Herbster, der am Institut für Geschichte der Naturwissenschaften der Universität Frankfurt zusammen mit seinem Kollegen Axel Klaudius ein Seminar über "Mythen und Archaeoastronomie” gestaltet, sagt: Ja.

    "Also in der modernen Astronomie geben wir ja die Positionen eines Himmelskörpers durch Koordinaten an, und in der archaischen Astronomie teilt man den Himmel in Sternbilder ein, nämlich Astronomie heißt nicht die Lehre von den Sternen sondern die Einteilung des Himmels in nomoi, also in Gaue, wie die ägyptischen Gaue. Und nun beschreibt man den Weg eines beweglichen Himmelskörpers, sprich: Sonne, Mond und Planeten, und deren Interaktion in Form von Geschichten."

    Eine solche Geschichte werde wohl auch das Buch Hiob sein, der astronomische Ursprung sei jedenfalls unverkennbar, sagt Rainer Herbster.

    Etwa Strophe 4, "Wo warst Du, als ich gründete die Erde?”, ein Fachterminus zur Bestimmung der Sternbilder, die an den Jahrespunkten aufgehen. Strophe 5: "Wer dort maß sie?, und wer spannte über sie die Schnur?” - eine Messschnur sei gemeint, ein astronomisches Hilfsmittel zur Beobachtung der Zirkumpolarsterne. Strophe 6, "Wohinein ihre Sockel wurden gesenkt und wer warf den Stein ihrer Ecke?” Womit die zu den Jahrespunkten aufgehenden Sterne gemeint seien und so fort. "Kennst Du die Zeit der Geburt des Stein-bocks im Fels” korrespondiere mit Abbildungen vom Sternbild des Steinbocks auf uralten Vasen, 4000 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Und so fort.

    Hiob ... vielleicht das Protokoll einer Astronomieprüfung. "Knecht” Hiob – ein Messknecht?

    Es ist kein Zufall, dass ein Seminar über Archäoastronomie, die Astronomie alter Kulturen, am Institut für Geschichte der Naturwissenschaften der Universität Frankfurt stattfindet. Das – heute vor der Abwicklung stehende – Institut war lange Zeit die Wirkungsstätte von Hertha von Dechend, einer bekannten Kulturhistorikerin. In ihrem Buch "Hamlet's Mill”, 1991 in Deutsch als "Die Mühle des Hamlet” erschienen, behauptete von Dechend eben das: Die Alten hätten komplexes astronomisches Fachwissen, das selbst tausendundmehrjährige Zyklen umspannte, zu Geschichten, zu Mythen verdichtet, die in allen Hochkulturen verstanden worden seien. Rainer Herbster, der mit der 2001 verstorbenen Kulturhistorikerin zusammengearbeitet hatte, kennt die Vorgeschichte:

    "Frau von Dechend kam zu der Erkenntnis, dass Mythologie Fachsprache archaischer Astronomie ist durch die Analyse von – ja – Handwerkermythen im polynesischen Raum. Und stellte da fest, was ihr gar nicht gefiel, weil sie mit Astronomie und Mathematik in ihrem ganzen Leben eigentlich nichts zu tun haben wollte, dass dahinter Planeten stecken. Also sozusagen der Urhandwerker, der Urtöpfer, dass die planetarischen Chrakters sind. Und dann haben wir die andere Sache, dass sowohl auf dem südlichen wie auf dem nördlichen Wendekreis, mitten im Pazifik auf kleinsten Inseln Steinsetzungen sind, die nichts anderes darstellen als die Markierung, dass da die Wendekreise laufen."

    Hertha von Dechend schildert die Sache in "Die Mühle des Hamlet” so:

    In der vagen Hoffnung auf irgendeine Erleuchtung oblag ich der Lektüre der verfügbaren Publikationen über die Archäologie des Inselreichs und stieß dabei auf das zur Hawaii-Gruppe gehörige, aber von der nächsten Insel 500 Kilometer weit entfernte Necker-Island. Auf diesem, wie ein Angelhaken geformten, etwa ein Kilometer langen Inselchen wächst kein Baum, sondern nur spärliches Gras und wenige Büsche. Da Süßwasser äußerst rar ist, wird die Insel anstelle von Menschen von Tausenden von Vögeln bewohnt. Gleichwohl weist das Eiland 33 megalithische Kultplätze auf, neben einigen Terrassenanlagen und steinernen menschlichen Figuren. Necker-Island liegt ziemlich genau auf dem Wendekreis des Krebses. Dieser Umstand veranlaßte mich zur Betrachtung der Verhältnisse am südlichen Wendekreis des Steinbocks. Diesem am nächsten liegen die Inseln Tubuai und Raivavae. Beide Inseln sind ebenfalls gespickt mit bemerkenswerten Marae-Ruinen; und darüber hinaus spielt Tubuai eine gewichtige, rätselhafte Rolle in der tahitischen Kosmogonie: Die Arme des von Tane getöteten Oktopus – dem indischen Pendant zum rigvedischen Vritra -, die Himmel und Erde fest umklammert hielten, wurden von Maui durchgehauen, fielen herab und bildeten die Insel Tubuai. Präzise auf dem Äquator liegen keine Inseln, aber die nächstliegenden (Fanning, Malden, Christmas) sind reichlich mit Marae-Ruinen ausgestattet. Es sah (und sieht) so aus, als hätten die Polynesier die Sonnenbahn so säuberlich abgesteckt, wie die geographischen Umstände das erlaubten.

    Kultbauten auf unbewohnten Inseln, die ziemlich genau auf den nördlichen und südlichen Wendekreisen lagen, den Breitengraden, an denen die Sonne im Extrem genau über den Köpfen stehen kann. Das ist beim nördlichen Wendekreis am Mittag des 21. Juni der Fall, beim südlichen am 21. Dezember. Kultbauten an astronomisch ausgezeichneten Punkten also.

    Die zehntausend Seiten polynesische Mythologie, die Hertha von Dechend ohne einen Hauch von Verständnis hinter sich gebracht hatte, schienen plötzlich deutbar, als astronomische Texte. Die polynesischen Mythen erschienen als großenteils in merkfähige Worte und Geschichten umgesetzte Sternkarten, mit denen die Polynesier – glänzende Navigatoren, deren Dienste auch Käpt'n Cook in Anspruch nahm – den größten Ozean der Erde befahrbar gemacht hatten.

    Astronomie, fand sie heraus, lag auch den mythologischen und religiösen Texten der meisten anderen Kulturen zugrunde.

    Demnach war die Mythologie der Altvorderen eben nicht das verschwiemelte Gebrabbel, als das der gemeine Mensch sie wahrzunehmen gelernt hat, sondern echte beobachtende Wissenschaft, so unromantisch wie eine Logarithmentafel.

    "Die alten Priester waren ja eben Astronomen, sie haben es nur nicht allen Leuten erzählt. Wie auch unter jeder babylonischen Tafel steht, "Der Wissende soll es dem Wissenden sagen.” Wer nicht befugt ist, darf nicht wissen, was die Geschichten bedeuten. Und das gibt es im übrigen auch in einer total anderen Kultur, nämlich in einer uralten Kultur, bei den Australiern: Astronomie war nur für die Initiierten. Also das ist immer Geheimwissen gewesen. Weil das die wirklich heiligen Dinge waren. Das Wunderbare an dieser Fachsprache ist ja, sie kann auch weitererzählt werden. Also wirklich die Tradition kann voll erhalten werden, ohne dass der Erzähler eingeweiht sein muss. Denn die Geschichten sind so bunt, abenteuerlich und aufregend, die können auch einfach so – wie das bei uns ja auch ist, und wie wir sie so hinnehmen – als Geschichten ... "

    Wie die Geschichte von Hamlet, jener Sagengestalt, um die William Shakespeare ein mörderisches Drama gesponnen hatte, die von Dechends Buch auch den Namen gab, "Die Mühle des Hamlet”:

    In der ungehobelten und lebhaften Vorstellung der altnordischen Völker war [Hamlet] identisch mit dem Eigentümer einer sagenhaften Mühle, die zu seiner Zeit Frieden und Reichtum hervorbrachte. Später, als die Zeiten schlechter wurden, mahlte sie Salz; und heute schließlich, nachdem sie auf den Grund des Meeres gesunken ist, zermahlt sie Steine und Sand und läßt einen riesengroßen Strudel entstehen, den Maelström, (das bedeutet: der Mahlende Strom ), von dem man annimmt, er habe in das Reich der Toten geführt. Diese Vorstellung entspricht ganz offenkundig einem astronomischen Prozeß, nämlich dem der säkularen Verschiebung der Jahrespunkte entlang des Tierkreises, wodurch die Weltalter bestimmt werden, die jeweils mehrere tausend Jahre währen. Jedes Zeitalter ruft eine neue Weltepoche hervor, eine Götterdämmerung. Große Strukturen brechen zusammen; Grundpfeiler, die das riesige Gebäude tragen, stürzen ein; Überschwemmungen und Kataklysmen verkünden das Entstehen einer neuen Welt.
    Die Mythen erzählen astronomische Happenings, also sie erzählen einfach den Lauf der Sterne und der Planeten. Wir machen das heute mit Formeln und sie haben das damals erzählt.

    Es gibt drei einfache Grundregeln für die Sprache dieser Geschichten: Erstens: mit Tieren sind Sterne gemeint. Zweitens: Götter stellen Planeten dar. Und schließlich: Orte sind Umschreibungen für Positionen – gewöhnlich der Sonne – an der Himmelssphäre.

    Allzu strikt, sagt Axel Klaudius, werde das aber auch nicht durchgehalten:

    " Der Sternenhimmel ist einmal aufgeteilt in Regionen, wir haben eine Wasserregion, Landregion, Berge entsprechend, und dann auf der anderen Seite haben wir Götter, die dummerweise eben nicht nur Planeten sein können, sondern sie können auch Zeitabschnitte sein und Himmelsregionen. Und das macht das Ganze sehr sehr schwierig zu rekonstruieren, weil man wirklich sehr genau nachschauen muss, mit was hat man's jetzt tatsächlich zu tun."

    Gleichviel: Mit der Einstufung etwa auch biblischer Mythen als astronomische Fachsprache macht nun vieles Sinn: Die Sintflut? Das Abtauchen von Sternkonstellationen hinter den Beobachtungshorizont. Die Tiere in der Arche Noah? Eine Sammlung von Sternen, die eben nicht abgetaucht, sondern auf dem Berge Ararath gelandet sind, einer bestimmten Position der Sonne auf der Himmelssphäre. Die flache Erde? Eine Bezeichnung für die Ekliptik, die Ebene der Planetenbahnen.

    Kritiker warfen von Hertha Dechend mitunter eine Neigung zum Mysteriösen vor, dabei war sie um größte Nüchternheit bemüht:

    " Das Wort "Glauben” benutze ich ja sowieso nie. Jedenfalls nie, wenn man mit diesen sogenannten alten Religionen zu tun hat – und das Wort "Religion” vermeide ich auch, wenn irgend möglich. Weil wir alle automatisch, wenn wir "Religion” sagen, meinen wir Offenbarungsreligionen. Und mit Offenbarungsreligionen ist verbunden, dass man an etwas glauben muss. Weil es in irgendeinem Buch steht, das also angeblich geoffenbart worden ist. Während alle Vor-Offenbarungsreligionen – da ist Religion angewandte Kosmologie. Man spielt den Himmel. Es gibt wirklich genug Beispiele dafür, dass man immer wieder die Regelmäßigkeit, die Periodizität der himmlischen Vorgänge auf Erden wiederholt."

    Darunter einen ganz großen Zyklus, der nicht weniger als 26.000 Jahre umfasst:

    Miniatur Nummer Zwei – der Brummkreisel. Ein Exkurs über das Taumeln der Erdachse

    Man kann die Erde mit einem Kreisel vergleichen. Kreisel sind eingehend erforscht worden, sie können eine Menge anstellen, die Kreiseltheorie ist hochkompliziert. Eine der einfachsten Übungen: Wenn man seitlich an die Drehachse eines Kreisels drückt, wird diese zu taumeln beginnen, sie schreibt eine Schultüte in die Luft, einen spitzen Kegel, wie das der Griff eines Brummkreisels macht, wenn er ermattet.

    Dieses Taumeln heißt fachsprachlich Präzession. Die Erde tut es, so die Lehrmeinung, weil die Gravitationskräfte der Sonne und des Mondes an ihr zerren und sie schief zur Bahn der Planeten und des Mondes kreist, wie es jeder ordentlich aufgehängte Globus zeigt. Die in der Folge taumelnde Erdachse zeichnet einen Kegel von ungefähr 23 Grad, tatsächlich das ungefähre Maß einer Schultüte. Alle 26.000 Jahre ist ein Kegel komplett.

    Die Präzession, das Taumeln der Erdachse ist so einfach nicht zu entdecken, schließlich dreht sich die Erde im ungefähren Tagesrhythmus um sich selbst, kreist um die Sonne, alles das macht den Sternenhimmel kompliziert. Die augenfälligste Folge der Präzession ist die Wanderung der Sternbilder, die zum Zeitpunkt der Tag- und Nachtgleiche, der Äquinoktien, im Osten kurz vor Sonnenaufgang gesehen werden – jedes Jahr bietet sich ein etwas anderer Anblick, bis nach 26.000 Jahren der alte Zustand wieder erreicht ist – für menschliche Verhältnisse in der Tat ein gewaltiger Zyklus.

    War eine Erdachsenpräzession mit dem Öffnungswinkel einer Schultüte, mit einer so riesigen Periode – 26.000 Jahre! - für Menschen ohne Instrumente überhaupt auszumachen? Ja, sagt Axel Klaudius, denn ...

    " Wenn ich den Menschen vertraue, da muss ich nur einen guten Großvater haben, der die Sterne betrachtet, und der berichtet seinem Vater, und wenn der Vater dann dem Sohn berichtet, dann habe ich genau diese siebzig bis achtzig Jahre, die es mir problemlos ermöglichen, die Präzession zu erkennen. (AK 3Generationen2) Wenn ich entsprechend mir einfach nur jedes Jahr den Frühlingsanfang kurz vor Sonnenaufgang den Sternenhimmel im Osten anschaue, dann sehe ich, aha, da ändert sich allmählich in diesen 70 Jahren doch was. Und dann kann ich sogar sehen, was dann als nächstes Sternbild kommen kann, das kann ich dann frühzeitig feststellen, und das ist schon eine Geschichte, die dann ganz spannend wird, weil ich's da plötzlich mit Vorhersagen zu tun habe, und zwar mit richtig guten ordentlichen Vorhersagen."

    So lag denn auch der Beginn der Naturwissenschaft in den Sternen. Die Mythen, die aus diesen Beobachtungen hervorgingen, sind als Geschichten heute nicht sonderlich unterhaltsam, auch wenn die Götter – in der Regel also die Planeten – ständig für Turbulenzen sorgten, indem sie sich nicht in alle Zyklen fügen mochten. Was den Astronomen Kummer bereitete; Hertha von Dechend:

    " Die Schuld der Planeten, was sie also dann Schuld nennen, ist, dass sie nicht aufgehen. Eine aufgehende Konjunktion von Sonne und allen Planeten kommt ja praktisch gar nicht vor. Also die Planeten sind immer schwierig, sie sind immer unpünktlich, am pünktlichsten ist noch die Venus, deswegen wurde sie ja auch hoch verehrt, die kommen immer entweder zu spät oder zu früh, das sind also große Sünden, und irgendwann muss das dann wieder beglichen werden, es muss ein Neuanfang kommen, wo man die Sünden als abgegolten betrachtet und das ist meistens am sogenannten Weltnabel, der gerecht richtet, das ist der Abrechnungshof, und da werden also die Planeten also übel beschimpft, was sie also für Unordnung mal wieder angerichtet haben, und dann kann man wieder mit einem neuen Sündenregister anfangen."

    Das jüngste Gericht als Abschluss einer astronomischen Messkampagne – eine reizvolle Vorstellung.

    Die intellektuellen Mittel zur langen Überlieferung ihres astronomischen Wissens hätten die Alten gehabt, sagt Axel Klaudius:

    " Es gab viele Völker, die hatten Schrift, die konnten sehr gut schreiben, haben aber Mythen immer nur mündlich weiter gegeben , weil da in unseren Augen einfach ein direkterer Bezug zu dem Thema dasteht. Wenn ich etwas abschreibe, dann geht das um den Kopf herum, der Lichtenberg hat das gesagt, wenn ich aber von meinem Vater oder Großvater was lerne, beigebracht bekomme, ist es eine völlig andere Art des Sich-Erinnerns und des Weitergebens. Und das ist in meinen Augen ein wichtiger Grund, weshalb sehr sehr lange diese Sachen, obwohl es schriftlich durchaus möglich gewesen wäre, mündlich weitergegeben wurden. Einfach aus Sicherheitsgründen, weil es so ein wichtiges Wissen ist, ein ganz besonderes und sehr schwer zu erarbeitendes Wissen ist, das ich auch sehr sehr sorgfältig weiter tradieren möchte."

    Aber ist es tatsächlich möglich, so komplexe Beobachtungen zu behalten und weiter zu geben?

    Mit was für einer Verachtung wurde in den alten Zeiten ein Lotse angesehen, der es wagte, sich des lahmen "Ich glaube" zu bedienen anstatt des kräftigen "Ich weiß!" Es ist gar nicht so einfach, sich ein richtiges Bild davon zu machen, wie ungeheuer viel dazu gehört, über jede geringste Einzelheit von zwölfhundert Meilen Fluß Bescheid zu wissen, und zwar hundertprozentig Bescheid zu wissen. Man nehme die längste Straße von New York, spaziere sie auf und ab und pauke sich dabei die einzelnen Details Stück für Stück ein, bis jedes Haus und jedes Fenster und jeder Laternenpfahl und die großen und kleinen Kennzeichen so gut sitzen, daß man, mitten in tintenschwarzer Nacht irgendwo in jener Straße abgesetzt, augenblicklich sagen kann, wovor man sich befindet - dann kriegt man einen ungefähren Begriff, mit welcher Kapazität und Exaktheit das Gedächtnis eines Lotsen arbeitet, der den Mississippi im Kopf hat.

    Zu den Mythen, die Hertha von Dechend auf astronomische Fachsequenzen zurückführt, zählt eigentlich alles, was Rang und Namen hat, auf der Nordhalbkugel der Erde wie auf der Südhalbkugel. Es sind meist nur den Fachleuten geläufige nordeuropäische, indische, indianische Geschichten, die in ihrer für den gemeinen Menschen aufbereiteten Form auch eine Art Seelsorge für den Einzelnen ermöglichten:

    " Der war da in eine sehr schöne riesenhafte Maschine eingebaut, seine Seele war auch mit berücksichtigt, man hat ihm auch ziemlich genau sagen können, was nach seinem Tod aus ihm wird und wo er da hingeht, und was er da und da tun muss, bis er dann wieder inkarniert wird – also es war doch wohl das erfolgreichste Weltmodell, was wir je gehabt haben."

    Ungefähr um die Zeit Platos, ein paar hundert Jahre vor dem Beginn unserer Zeitrechnung, schwand der Mythos dahin, wie Aristoteles beklagte. Immer weniger verstanden ihn, er zerfiel in zusammenhanglose Einzelteile, die teils unverstanden in Heilige Schriften aufgenommen wurden, und die Aufklärung gab ihm den Rest.

    Hertha von Dechends Ideen haben auch nur zögerlich Eingang in den Hauptstrom der Wissenschaft gefunden, das Internet weist allerdings zahlreiche Interessenten und – weniger zahlreiche – Kritiker aus.

    Die Hauptstätte ihres Wirkens, das Institut für Geschichte der Naturwissenschaften der Universität Frankfurt, wird wohl im nächsten Jahr geschlossen.

    Und was ist aus dem alten rationalen Inhalt geworden, den der Mythos zu seiner Hoch-Zeit transportierte? Der lebt weiter, natürlich stark verfeinert, mathematisch nüchtern. Das Taumeln der Erdachse zeigt heute jedes Planetarium, man kann es auch auf dem Notebook beobachten, Dank spezieller Astronomieprogramme.

    Für das Taumeln des Himmels in einem 26.000-Jahre-Zyklus gibt es sogar eine funkelnagelneue Hypothese. Danach ist die Erde Teil eines Doppelsternsystems, die 26.000 Jahre sind die Umlaufzeit der Sonnen um ihren gemeinsamen Schwerpunkt.

    Die Schwestersonne müsste jetzt nur noch gefunden werden.

    An die Kraft des alten Mythos reicht das alles nicht heran. Der hatte schließlich zahlreiche Religionen stiften können – wir verdanken ihm den Kölner Dom! - und Tolkien zu seiner Saga "Der Herr der Ringe” inspiriert.

    Trost, schließlich, hatte der alte Mythos auch gebracht:

    Der Tag ist nun vergangen,
    die Güldnen Sternlein prangen,
    am blauen Himmelssaal.
    So werde ich auch stehen,
    wenn mich wird heißen gehen
    mein Gott aus diesem Jammertal.


    Und die Vertreibung aus dem Paradies? Warum war ausgerechnet ein Apfel Schuld, warum nicht eine Feige, wo Feigenblätter doch schon ihren Wert bewiesen hatten?

    Die Antwort sieht man, wenn man einen Apfel an seinem Äquator entlang aufschneidet. Dann zeigt das Apfelgehäuse einen fünfzackigen Stern, das abendländische Sternsymbol, das auch für ein Pentagramm steht, das Eigenheiten des Laufes der Venus beschreibt. Die Sünder hatten mithin vom Baum der Erkenntnis, von verbotenem astronomischem Wissen genascht und ihre paradiesische Naivität gegen beunruhigende Bilder von Zerfall und Wiederkehr getauscht.