Wie hängt die Mobilität mit der Ausbreitung des Erregers zusammen?
Schon Anfang März sind dazu zwei wissenschaftliche Veröffentlichungen in renommierten Fachblättern erschienen - in "Science" und "PNAS".
In "Science" hat Alessandro Vespignani von der Northeastern University in Boston beschrieben, wie sich Reisebeschränkungen auf die Ausbreitung der Krankheit national und international ausgewirkt haben. Am 23. Januar wurde ein Reiseverbot für Wuhan verhängt, also den Ursprungsort der Seuche. Das konnte die Ausbreitung verzögern, allerdings nur um drei bis fünf Tage innerhalb Chinas. Es waren bereits zu viele Infizierte aus der Stadt ausgereist und hatten neue Infektionsherde im Land geschaffen. Stärker war der Effekt bei der internationalen Verbreitung. Es gab Einreiserestriktionen für Reisende aus China ab Anfang Februar. Das führte zu einer Reduktion um knapp 80 Prozent der eingereisten Fälle, allerdings auch nur zu Beginn. Der Effekt hielt nur zwei bis drei Wochen an, da auch aus anderen Orten in China Menschen ausreisten.
Die Studie hat auch gezeigt: Reisebeschränkungen sind wenig wirksam, wenn nicht weitere Maßnahmen dazukommen. Das haben die Forscher an einem Modell durchgerechnet: Selbst bei einer Reduktion des internationalen Reiseverkehrs um 90 Prozent zeigt sich nur ein geringer Rückgang bei den Neuansteckungen – außer es werden zusätzlichee Maßnahmen durchgeführt: Früherkennung durch Testen, Isolation der erkannten Fälle, Kontaktnachverfolgung und Verhaltensänderungen der Bevölkerung. Die Veröffentlichung in PNAS stammt von Burton Singer, Yale School of Public Health. Die bestätigt die Aussagen des Science-Papers: Reisebeschränkungen können die Weiterverbreitung verlangsamen, aber sie reichen nicht aus, um das Virus zu stoppen.
Besteht Einigkeit über den Zusammenhang zwischen Mobilität und Epidemieverlauf?
Ja, weitgehend schon. Das zeigt ein Bericht der "Cochrane Collaboration" von Mitte September. Das ist eine Überblicksstudie zu einzelnen Forschungsergebnissen. Dazu hat ein Forschungsteam aus München medizinische Datenbanken durchforstet und Veröffentlichungen bis zum 26. Juni herausgepickt: experimentelle, quasi‐experimentelle, Beobachtungs‐ und Modellierungsstudien zu reisebezogenen Kontrollmaßnahmen. Also die vollständige Schließung der Grenze, ein Stopp nur für Flüge, Einreiseverbote für Menschen aus bestimmten Ländern, Screening bei Ein- oder Ausreise, Quarantäne für Reisende. Das Team hat all diese Veröffentlichungen auf Herz und Nieren geprüft. 40 blieben übrig, daraus haben sie das Wichtigste herausdestilliert.
Die Quintessenz lautet: Insgesamt könnten reisebezogene Kontrollmaßnahmen dazu beitragen, die Ausbreitung der Krankheit über nationale Grenzen hinweg zu begrenzen. Grenzüberschreitende Reisebeschränkungen sind wahrscheinlich wirksamer als Screenings bei Einreise und Ausreise. Screenings sind wahrscheinlich wirksamer, wenn sie mit anderen Maßnahmen verbunden werden, wie Quarantäne und Beobachtung.
Allerdings: Das Vertrauen in die Ergebnisse ist eingeschränkt, schreiben die Forscher. Denn bei den meisten handelt es sich um Studien an Modellen – und nur im begrenzten Umfang um Daten aus dem echten Leben.
Wie sieht es mit dem Reiseverkehr auf nationaler Ebene aus?
Dazu ist gerade eine Veröffentlichung in "PNAS" erschienen. Ein Team an der University of Maryland hat dafür Mobilfunkdaten aus den USA ausgewertet – von der Zeit von Anfang März bis Anfang Juni. Sie haben analysiert, wie viele Menschen sich von County zu County bewegt haben. Diese sind ungefähr mit den Landkreisen in Deutschland zu vergleichen. Die Forscher haben zunächst festgestellt, dass die Mobilität auf dieser Ebene anfangs, im März und April, um 35 Prozent gesunken ist. Weil einfach viele Menschen zuhause geblieben sind. Danach ist sie allerdings wieder allmählich angestiegen. Die Forscher konnten zeigen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen zunehmender Mobilität und steigenden Infektionszahlen. Besonders deutlich war das in den Bundesstaaten, wo auch sonst die anderen Beschränkungen stark gelockert worden waren.
Haben Reisebeschränkungen und Beherbergungsverbote also ihre Berechtigung?
Es kommt darauf an, in welcher Phase der Pandemie wir uns befinden. Dirk Brockmann entwickelt Ausbreitungsmodelle für Infektionskrankheiten als Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Robert-Koch-Institut. Unter anderem stützt er sich bei seinen Analysen auch auf Mobilfunkdaten. Er sagt: In der frühen Phase lässt sich Ausbreitung verlangsamen, wenn man die Bewegung der Menschen einschränkt. Aufhalten lässt sich die Pandemie nicht.
Allerdings: Mobilität ist nur die eine Seite. Auf der anderen Seite stehen die Kontakte von Mensch zu Mensch. Die werden umso wichtiger, je weiter sich das Virus bereits verbreitet hat. Und das ist ganz genau die Situation, in der wir uns jetzt befinden: Es kommt in allen Landkreisen zu Infektionen, wenn auch nicht ganz homogen verteilt. Die Mobilität innerhalb eines Landes, also von Kreis zu Kreis, verliert in dieser Situation an Bedeutung, wird für Gegenmaßnahmen vernachlässigbar, sagt Dirk Brockmann. Die Wirkung von Beherbergungsverboten dürfte also eher beschränkt sein. Die Maßnahmen müssen eher auf diese Ebene des persönlichen Kontakts fokussiert werden. Und da kommen wir wieder bei den ganz grundlegenden Regeln an: Abstand halten, Mund-Nasenschutz tragen, größere Menschenansammlungen vermeiden, die zu Ausbruchs-Cluster führen könnten. Das ist im Moment sehr viel wichtiger als Reisebeschränkungen.