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Modell-Eisenbahn

Alljährlich zur Weihnachtszeit ist es wieder soweit: Nach Einbruch der Dämmerung schleichen vermummte Gestalten durch die Fußgängerzonen, steuern schnurstracks die Spielwarenläden an, um dort mit fragwürdigen Ausreden, in denen meist achtjährige Söhne die Hauptrolle spielen, die Verkäufer nach Modelleisenbahnen zu befragen. Vielen erging es einst vielleicht so wie Burkhard Spinnen, der Anfang der sechziger Jahre, als sich sein Vater den Herzenswunsch erfüllte, ziemlich verständnislos aufs Schienenoval unterm Christbaum starrte: Eine Lok, drei Waggons – was bitteschön soll daran sensationell sein?

Florian Felix Weyh |
    Die Antwort folgt ein paar Jahrzehnte später. Dann ist klar: Zwei Dinge braucht der Mann, einen Porsche und eine Modelleisenbahn. Da es zum Porsche selten reicht, die adäquate Carrera-Bahn nur stotternden Ersatz bietet, gelangt fast jeder männliche Zeitgenosse mittleren Alters an den Punkt, da er sich halb resigniert, halb enthusiastisch der Eisenbahn zuwendet. Doch weil Burkhard Spinnen ein Schriftsteller ist, der sich die meisten Wünsche nicht erfüllen muß, weil er sie ausfabulieren kann, schlägt das Schicksal erstmal einen Bogen um sein Haus. Vorläufig, denn als er für eine entsprechende Erzählung recherchiert, packt ihn das Thema am Schlafittchen. Modelleisenbahnen sind, wie Spinnen schnell erfahren muß, ungeeignet für theoretische Streifzüge. Man muß sie "aufgleisen", wie der Fachmann sagt, sie anfassen, vor- und zurücksetzen lassen, mit der Lupe ihre Details studieren, kurzum: Sie hegen und pflegen, achten und ehren. Je tiefer man sich in die Materie verstrickt, desto schneller läßt man das öde Schienenoval hinter sich. "Modulbauweise" heißt das Zauberwort: Man baut nicht für den heimischen Keller, sondern an der Welt. Einmal im Jahr treffen sich dann erwachsene Männer in einer zugigen Stadthalle und setzen die übers Jahr konstruierten Module zu einer riesigen Anlage zusammen. Ein Festakt, denn dieses maßstäbliche Universum besteht allenfalls ein Wochenende, eine theatralische Schöpfung, deren Schönheit in ihrer Vergänglichkeit liegt.

    Wer sich daran beteiligen will, braucht freilich handwerkliches Geschick und eine gute Portion Sturheit. Letzteres kann der Westfale Spinnen zwar vorweisen, aber mit ersterem hapert es denn doch. Ein Mann des Wortes mag noch so filigran dichten – Löten ist eine andere Sache. So landet er unausweichlich bei den Lokomotivensammlern, jener Spezies, die ihre Schmuckstücke in Vitrinen hortet und leichenhaft erblaßt, will jemand sie zum Fahren bringen. Sammlerlokomotiven kosten leicht ein paar tausend Mark, jeder Kratzer ein Wertverlust, und überhaupt: Warum muß Kunst fahren können? Ein Picasso hängt ja auch nur so an der Wand herum.

    In der "Kleinen Philosophie der Passionen" des Deutschen Taschenbuchverlags versammeln sich seit einiger Zeit mehr oder minder ausgefallene Leidenschaften. Zwischen glossenhaft leichter Unterhaltungskost und fachverliebter Erörterung bewegte sich bislang das Spektrum. Als Heiner Geißler über das Gleitschirmfliegen schrieb, wurde daraus ein Traktat übers Verhältnis von Mut und Risiko, zugleich eine Anleitung zu jesuitischer Knabenerziehung. Burkhard Spinnen nimmt den Reihentitel wörtlich: Eine Philosophie der Modelleisenbahn ist sein Ziel. Wo besser läßt sich die Welt studieren als im Maßstab 1:87, H0 genannt? Wie der Mann sein Eisenbahnmodul zusammensetzt, seine Seelenlandschaft mit Faller-Häuschen möbliert, läßt Rückschlüsse auf manch andere Befindlichkeit zu. Denn eins lernt der Autor rasch: Frauen sehen in den kriechenden und fauchenden Modellen eher eine Insektenart, die man meiden muß. Echte Dampfrösser, im Sommer auf Museumsstrecken erklommen, bringen schließlich die Erklärung: Es läge ein "gelingendes Miteinander von Mensch, Natur und Technik" vor. Für einen Moment schlägt Burkhard Spinnen, der sich manchmal zwischen Preziösität und Prätentiösität nicht entscheiden kann, über die Stränge; dann aber gleitet er in die verzweifelte Ironie des Obsessiven zurück. Ganz langsam aber, je konsequenter die Modellbahnkarriere des Autors voranschreitet, keimt im Leser ein Verdacht auf: Der Kerl flunkert doch! So folgerichtig, wie hier erzählt, wird niemand vom kindlichen Schienenfeind zum erwachsenen Modellbahnbesessenen. Spinnen macht sich zum exemplarischen Fall, der er bei seiner Intelligenz garantiert nicht ist. Oder vielleicht doch? Aufklärung brächte nur der Augenschein: Burkhard Spinnen liest, während seine Züge im Hintergrund kreisen. Signal frei für diese neue Form von Literaturperformance.