Ein Team des Göttinger Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation sowie der Universität Göttingen hat in Modellen berechnet, welche Maßnahmen besonders wichtig sind, um eine zweite Welle der Corona-Pandemie in Deutschland einzudämmen. Die Studie ist bislang noch nicht begutachtet, aber auf dem preprint-Server arXiv einsehbar. Die Max-Planck-Gesellschaft hat zudem eine Pressemitteilung zu der Untersuchung veröffentlicht. Darin gibt es ein kleines Piktogramm, einen Eisberg: Ein Teil davon liegt über dem Wasser, aber ein noch größerer Teil liegt unter der Wasseroberfläche. Dieser repräsentiert die Menschen, die wahrscheinlich nicht wissen, dass sie infiziert sind, oder die es nicht kümmert – und dadurch das Virus in der Bevölkerung verbreiten. Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation hat die Studie maßgeblich mitverfasst.
Modellierungsstudien entwerfen auf der Grundlage vorhandener Daten unterschiedliche Szenarien, zum Beispiel zur Entwicklung des Klimas oder der Ausbreitung von Krankheitserregern. In die Berechnungen fließen mehrere Faktoren ein. Deren Einflüsse und Wechselbeziehungen lassen sich mit Hilfe des Modells mathematisch beschreiben.
Sophie Stigler: Frau Priesemann, bis zu welchem Punkt kriegt man das Infektionsgeschehen in der aktuellen Situation noch unter Kontrolle?
Viola Priesemann: Das haben wir eben in unserer Studie angeschaut, und wir haben gefunden, dass im Prinzip wir uns relativ viel Freiheit in unserem normalen Verhalten gönnen können, wenn denn die Kontaktnachverfolgung gut und zügig und schnell funktioniert.
"In der Realität ist die Kontaktnachverfolgung nie perfekt"
Stigler: Das ist so ein bisschen das Vorbild Singapur oder vielleicht auch Südkorea. Man hat eine extrem effiziente, ich sag mal Maschinerie rund um Corona, also Leute, Infizierte, zu entdecken und dann auch zu isolieren. Dafür hat man ziemlich wenige Einschränkungen für die gesamte Bevölkerung.
Priesemann: Genau, aber in der Realität ist die Kontaktnachverfolgung nie perfekt. Die Quarantäne und die Isolation ist nie perfekt. Das haben wir in unserem Modell eben angeschaut und haben uns angeschaut, welchen Bereich schafften die noch abzudecken. Mit unserem alltäglichen normalen Verhalten, haben wir jetzt gezeigt, können wir theoretisch es uns leisten, fast zwei Personen anzustecken. Nicht nur eine, sondern fast zwei. Das schafft das Gesundheitsamt dann im Prinzip noch einzufangen. Das reicht nicht, um COVID, was ja normal eine Basisreproduktionszahl von drei bis vier hat, komplett einzufangen, aber es kommt uns extrem entgegen. Das bedeutet, dass wir eigentlich unsere Kontakte oder vor allen Dingen das Risiko von Ansteckung nur etwas reduzieren müssen.
Stigler: Okay, also falls die Gesundheitsämter wirklich sehr, sehr gut arbeiten, dann dürfte man theoretisch zwei Personen anstecken, aber das gilt nur für die Personen, die nichts von ihrer Infektion wissen. Die Gesamtzahl der Personen, die jeweils von einem Infizierten angesteckt werden, die darf trotzdem nicht über eins steigen, sonst haben wir letzten Endes wieder einen rasanten Anstieg. Aber zwei ist auch noch mal weniger, als man erwarten würde, wenn man sich jetzt als Infizierter komplett normal verhält. Da geht man ja davon aus, bei SARS-CoV-2, dass man so grob drei, gut drei Personen ansteckt. Das heißt, man muss sich schon auch ein bisschen einschränken, man darf nicht einfach weiter so leben wie bisher.
Priesemann: Genau, entweder einschränken, und ich denke, da muss auch jede Person schauen, wo man sich da selber im Leben am besten einschränken kann – sei es das Tragen von Masken, sehr vorsichtig sein, wenn man Symptome hat, dass man auch wirklich zu Hause bleibt, auch vorsorglich schon mal zu Hause bleibt, vielleicht die Veranstaltungen etwas kleiner wählen, als sie vor Corona gemacht worden sind. Das sind ja alles Beiträge, wo jede einzelne Person schauen kann, was der einzelnen Person am leichtesten fällt.
Bei zu vielen Infektionsketten kommen die Gesundheitsämter nicht mehr dagegen an
Stigler: Zurzeit geht der Wunsch ja eher, würde ich sagen, stark zu noch mehr Lockerungen, und vielleicht gibt es auch so eine gewisse Maßnahmenmüdigkeit. Jetzt hat man die Geburtstagsfeier halt schon so oft verschoben, und jetzt möchte man irgendwie doch eigentlich gerne noch feiern, und dann steht auch noch der Winter an, der es dem Virus ja eher leichter macht. Welche Faktoren sind da entscheidend, wenn man wirklich verhindern will, dass die Zahlen jetzt durch die Decke gehen?
Priesemann: Ich kann das total nachvollziehen, dass man jetzt diesen Sommer und jetzt auch gerade diese wunderschönen warmen Tage noch mal nutzen möchte. Auf der anderen Seite sollte man sich wirklich bewusst sein, solange die Zahlen an Neuinfektionen so niedrig sind, dass die Gesundheitsämter sie gut nachvollziehen können und nachverfolgen können, können wir uns viel, viel mehr Freiheiten gönnen. Wenn da jetzt zu viele Infektionsketten sind, dann kommen die Gesundheitsämter überhaupt nicht mehr dagegen an, und das führt wirklich zu einem Kipppunkt, zu einem selbstverstärkenden Effekt. Dann fällt diese sehr effiziente Maßnahme zur Eindämmung weg, und dann ist es viel, viel, viel schwieriger, die Zahlen unter Kontrolle zu behalten. Und ab irgendeinem Punkt sind dann auch die Tests überlastet. In Deutschland haben wir ja maximal 1,4 Millionen Tests pro Woche, das ist wirklich ein oberes Maximum, im Idealfall sollten diese Tests ja auch so schnell wie möglich kommen. 1,4 Millionen Tests pro Woche bedeutet, eine Person kann sich ja nicht mal einmal im Jahr testen lassen.
Stigler: Wie sieht es dann mit Großveranstaltungen aus? Ich glaube, ich kenne Ihre Antwort, aber ich frage trotzdem.
Priesemann: Die sind natürlich besonders schwierig, weil das die Events sind, wo eine Person möglicherweise sehr viele andere Personen anstecken kann. Bis man merkt, dass auf dieser Großveranstaltung jemand war, der Träger war, muss vielleicht erst mal eine andere Person positiv getestet werden – das dauert ein paar Tage. Das heißt, man verliert Zeit, man verliert wirklich wertvolle Zeit. Dann geht man von dieser Person rückwärts auf die Großveranstaltung, und dann, wenn das eine Großveranstaltung sagen wir von tausend Personen war, wie lange braucht das Gesundheitsamt, um all diese Personen und dann auch noch deren Kontakte zu kontaktieren. Da verliert man Zeit, und in der Zeit schafft man eventuell gar nicht mehr diese Eindämmung, sondern dann sind schon eventuell so viele Ketten außer Kontrolle weitergelaufen, dass man eigentlich gar nicht mehr hinterherkommt. Eigentlich ist das A und O, solche Superspreader-Events von Vornherein zu vermeiden, dann braucht man sie auch nicht einfangen.
Coronatest an Schulen
Stigler: Streng genommen ist ja auch so was wie Schule ein Superspreading-Event, zumindest ein potenzielles. Was sagen Sie denn, können zumindest dort vielleicht flächendeckende Tests helfen, dass man eben, alle spucken morgens dann in einen Napf und man macht dann irgendwie, poolt zehn Proben zusammen und guckt dann, okay, ist da jemand dabei, und wenn man ein positives Ergebnis hat, testet man noch mal nach und kann dann relativ schnell die Klasse nach Hause schicken zum Beispiel.
Priesemann: An sich würde natürlich mehr Testen immer mehr helfen, das ist gar keine Frage. Die Frage ist, wie viel Kapazität hat man und wo setzt man die am allerallerbesten ein. Was wir in unserer Studie gesehen haben, ist, dass das Kontaktnachverfolgen eigentlich die effizienteste Art und Weise ist, die Tests einzusetzen, zumindest wenn die Fallzahlen insgesamt niedrig sind. Am zweiteffizientesten ist es dann eigentlich, zu schauen, ob jemand überhaupt Symptome hat. Und am dritteffizientesten ist es erst, wirklich zufällig zu testen, wenn da gar kein Verdacht besteht, dass da ein Risiko ist. Das heißt, wenn man eine begrenzte Zahl von Tests hat, muss man sich sehr gut überlegen, wo man sie einsetzt, und da sollte die Kontaktnachverfolgung klar eine Priorität haben.
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