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Moderne Klassikerin

Virginia Woolf war eine großbürgerlich geprägte Schriftstellerin, die sich im Umgang mit der Sprache als Konservative erweist. Anders als James Joyce war sie eine Neutönerin des Erzählens, nicht aber der Erzählsprache. Vor 125 Jahren wurde sie in London als Tochter des viktorianischen Literaturpapstes Leslie Stephen geboren.

Von Sibylle Cramer |
    Virginia Woolf war in ihrem knapp 30-jährigen Schreibleben die Angehörige zweier Epochen. Die Tochter des viktorianischen Biografen Leslie Stephen, die am 25. Januar 1882 in London zur Welt kam, gehört mit ihren literarischen Anfängen der viktorianischen Epoche an. Ihr erster, 1915 erschienener Roman "Die Fahrt hinaus" erzählt die Weltfahrt der jungen Heldin noch im Stil des klassischen Bildungsromans.

    Innerhalb des großen Dreigestirns der europäischen Moderne sind Marcel Proust und Virginia Woolf die großbürgerlich geprägten Geistesverwandten, die sich im Umgang mit der Sprache als Konservative erweisen. Anders als James Joyce, der frei mit dem Wortmaterial spielt, um des ganzen Reichtums der Sprache habhaft zu werden, ist sie eine Neutönerin des Erzählens, nicht aber der Erzählsprache. Joyces Werk hat sie denn auch als Katastrophe abgetan, und ihr Blick auf die zeitgenössische Literatur fördert außer ein paar klassizistischen Gedichten von Yeats nichts Bemerkenswertes zutage. In ihrem Essay "Die Wörter" spricht sie von der Verpflichtung der Sprache zur Wahrheit. Das schließt Sprachexperimente aus.

    "Unsere Aufgabe ist zu erkennen, was wir mit der alten englischen Sprache, so wie wir sie vorfinden, anstellen können, wie wir die alten Wörter mit neuen Wendungen verbinden können, damit sie überleben, damit sie Schönheit erschaffen und die Wahrheit sagen. Das ist die Frage."

    Kühner war sie als Erzählerin. Den Sprung aus dem viktorianischen Zeitalter in die Moderne nimmt sie in ihren Kurzgeschichten vorweg.

    "Wie wir in Omnibussen und Untergrundbahnen einander gegenübersitzen, schauen wir in den Spiegel; darin gründet die Verschwommenheit, die schimmernde Glasigkeit, in unseren Augen. Und die Romanciers werden künftig immer mehr die Bedeutung dieser Spiegelungen wahrnehmen, denn selbstverständlich gibt es nicht nur eine Spiegelung, sondern eine nahezu unendliche Anzahl; dies werden die Tiefen sein, die sie ergründen."

    Der Roman "Jacobs Zimmer", 1922 erschienen, ist ihr erstes großes Werk, das der realistisch abbildenden Literatur erzählerische Spiegelsysteme entgegenstellt, leitmotivisch organisierte Gebilde, die das äußere Geschehen auf einige wenige oder einen einzigen Tag beschränken und die Figuren nicht mehr objektiv beschreiben, sondern durch ihre unmittelbare Selbsterfahrung und die der Nebenfiguren perspektivisch spiegeln.

    Der Brunnen, der eben noch das Symbol der unerschöpflichen Geschichtenquelle allen Erzählens war, wandelt sich nun in jenen Springbrunnen, an dessen Beschreibung Proust in der "Suche nach der verlorenen Zeit" die Schwierigkeiten demonstriert, erzählend eines Gegenstandes habhaft zu werden. Dasselbe Beschreibungsproblem wendet Virginia Woolf ins Malerische. Zu den Figuren des Romans "Zum Leuchtturm" gehört die Malerin Lily Briscoe, unter deren Hand das innererzählerische Gegenstück entsteht zu der Geschichte vom Zerfall der viktorianischen Gesellschaft. Den letzten Pinselstrich, der die Harmonie ihres Bildes besiegelt, führt sie nicht abbildend aus, sondern zehn Jahre nach dem Tod Mrs. Ramsays, die der einheitstiftende Mittelpunkt der kleinen Romangesellschaft gewesen war. In einer "Vision" tritt ihr die Tote vor Augen.

    "Rasch, als riefe von dort irgendetwas, kehrte sie zu ihrer Leinwand zurück. Da war es - ihr Bild. Ja, mit all seinem Grün und den Blaus, den aufwärts und quer verlaufenden Linien, seinem Versuch, etwas zu werden. Sie blickte auf die Stufen; sie waren leer; sie blickte auf ihre Leinwand; sie war verschwommen. Mit plötzlicher Zielstrebigkeit, als sehe sie sie einen Augenblick deutlich vor sich, zog sie dort eine Linie, in der Mitte. Es war vollbracht; es war vollendet. Ja, dachte sie, als sie in äußerster Erschöpfung den Pinsel niederlegte, ich habe sie gehabt, meine Vision."

    Die künstlerische Existenz Virginia Woolfs war Zerreißproben ausgesetzt, die sich in der Geschichte ihrer Nervenzusammenbrüche und im Freitod des Jahres 1941 tragisch spiegeln. Die moderne Klassikerin, die dem Bewusstseinsroman zu seinem Durchbruch in England verhalf, blieb dem großbürgerlichen Lebensstil ihrer Kindheit und Jugend in Hyde Park Gate 22 treu, heiratete aber 1912 den Sozialisten Leonard Woolf und erlangte mit dem Appell an die eigene Zeit, Frauen die Tore zu Bildung und Ausbildung zu öffnen, feministische Berühmtheit. Der betreffende Essay trägt den Titel "Ein Zimmer für sich allein".

    "Warum trinken Männer Wein und Frauen Wasser? Warum ist das eine Geschlecht so reich, das andere so arm? Welche Auswirkungen hat Armut auf Literatur? Welche Bedingungen sind notwendig, um große Kunstwerke zu schaffen? Man braucht Antworten, keine Fragen."