Archiv


Mögliche Brückenfunktion in Osteuropa

Polen ist als größtes Land unter den ostmitteleuropäischen EU-Staaten ein potenzieller Anführer der Region. Doch das Land zögert, diese Rolle auszufüllen: Zum einen möchte man sich nicht als selbsternannter Häuptling gerieren. Zum anderen wolle man die EU nicht in Lager spalten.

Von Johanna Herzing |
    Man war zufrieden nach dem EU-Gipfel Ende Oktober. Gemeinsam mit neun mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten hatte Polen eine Klimaschutzvereinbarung verhindert, die sich bei der Beitragsberechnung vor allem am CO2-Ausstoß des jeweiligen Landes orientiert hätte.

    Für Polen, das wie viele seiner Nachbarstaaten noch immer überwiegend auf Kohlekraft setzt, hätte eine solche Übereinkunft Milliardenkosten bedeutet. Das einstimmige Auftreten der Interessengemeinschaft hat sich aus polnischer Sicht also gelohnt. Ein Erfolgsrezept, von dem Polen aber eher selten Gebrauch mache, sagt Waldemar Czachur vom Zentrum für Internationale Beziehungen in Warschau:

    "Polen, ein Land, das eigentlich prädestiniert wäre, diese Länder anzuführen, richtet sich zu sehr nach Frankreich und Deutschland aus und misst sich auch an diesen beiden. Ich habe den Eindruck, dass es darüber aber die kleineren Staaten vergisst und übersieht, dass man hier Kräfte bündeln und so mehr erreichen könnte."

    Dabei gebe es eine ganze Reihe von Themen, bei denen es sich lohnen würde, sich mit den Ländern Mittel- und Osteuropas zu verständigen, betont Czachur. Allen voran die "Östliche Partnerschaft", ein Assoziierungsabkommen der EU mit sechs osteuropäischen Ländern, zu denen die EU-Anrainer Weißrussland, Moldawien und die Ukraine gehören. Ein Projekt, das Polen angestoßen hat. Ebenfalls wesentlich: die Frage der Energiesicherheit und eine gemeinsame Russlandpolitik. Schließlich habe man als post-sowjetische Staaten einen gemeinsamen Erfahrungsschatz, so Czachur:

    "Wir haben, was Russland angeht, die gleichen Erfahrungen gemacht. Wenn also diese zehn Länder im Kreis der 27 Mitgliedstaaten mit einer gemeinsamen Stimme sprechen, dann ist das eine Stimme, die gehört wird und die Chance hat, sich auch durchzusetzen."

    Bislang geschieht das jedoch eher selten. Polen – größtes und bevölkerungsreichstes Land unter den ostmitteleuropäischen EU-Staaten – aber hadert mit seiner Rolle als potenzieller Anführer der Region. Zum einen möchte man sich nicht als selbsternannter Häuptling gerieren und andere Staaten damit vor den Kopf stoßen. Zum anderen wolle man die EU nicht in Lager spalten, so Adam Halacinski, Leiter der Abteilung für Mittel- und Südosteuropa im polnischen Außenministerium:

    "Das Wichtigste in dieser ganzen Angelegenheit ist - und das möchte ich unterstreichen -, dass Polen keine Anti-Koalitionen baut. Wir möchten nicht, dass hier gewissermaßen ein 'Club im Club' entsteht. Wir sind nicht der EU beigetreten, um eine Revolte anzuzetteln, sondern ganz im Gegenteil: Das Motto, das wir uns auf die Fahnen geschrieben haben, lautet 'Solidarität'."

    Solidarität, die mit einer guten Portion Pragmatismus versehen ist. Marek Cichocki, Wissenschaftler, Publizist und Berater des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski:

    "Ich glaube, dass sich Polen in einer Phase befindet, in der es die Beziehungen zu anderen Ländern sehr pragmatisch betrachtet. Das erinnert vielleicht ein wenig an die britische Haltung, die besagt, dass Großbritannien keine Freunde, sondern ausschließlich bestimmte Anliegen und Partner zur Umsetzung dieser Anliegen hat. Meiner Meinung nach hat Polen diese Periode der Romantik in Bezug auf die internationale und europäische Politik hinter sich."

    Der Lissabonvertrag könnte diese Tendenz noch verstärken, wird doch ab 2014 mit dem Prinzip der "doppelten Mehrheit" vor allem das Stimmgewicht von bevölkerungsreichen Staaten im EU-Ministerrat gestärkt. Der Zusammenschluss mit den kleineren Staaten Mittel- und Osteuropas wird dann für Polen wohl nicht mehr ausreichen, um bestimmte Interessen durchzusetzen.