Stephanie Rohde: Die Dieselaffäre ist kein Versagen einzelner Unternehmen, sondern das Ergebnis einer jahrelangen Kungelei deutscher Autobahn - so schreibt es der "Spiegel" in seiner neusten Ausgabe. Nach Informationen des Magazins haben sich VW, Audi, Porsche, BMW und Daimler seit den 90er-Jahren abgesprochen bei mehr als tausend Treffen verschiedener Arbeitskreise und damit brisanterweise auch die Basis für den Dieselskandal gelegt, weil sie sich unter anderem über die Abgasnachbehandlung bei Dieseltanks verständigt haben. Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Helmut Becker, dem ehemaligen Chefvolkswirt bei BMW. Er ist jetzt Leiter des Instituts für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation in München. Guten Morgen!
Helmut Becker: Guten Morgen, Frau Rohde!
Rohde: Herr Becker, Sie waren über 20 Jahre lang bei BMW, unter anderem eben auch als Chefvolkswirt. Seit den 90er-Jahren soll es ja laut "Spiegel" diese systematischen Absprachen gegeben haben. Überrascht Sie das?
Becker: Ja, diese Meldung überrascht mich in der Tat.
Rohde: Dass es jetzt rausgekommen ist.
Becker: Nein, nicht dass das rausgekommen ist, sondern das ist ein völlig normales und legales Vorgehen gewesen. Es gab sowohl auf europäischer Ebene im Dachverband Automobilindustrie in Brüssel beim ACEA wie auch natürlich beim VDA eine Unzahl von Arbeitskreisen, die sich über alle möglichen Fragen informieren oder beziehungsweise abstimmen. Und das ist ein ganz offizielles und ein ganz legales Vorgehen bisher. Das betrifft nicht nur die Autoindustrie. Das gibt's im Maschinenbau, das gibt's in der Chemie, das gibt's in allen großen Industriezweigen. Insofern überrascht mich jetzt diese Meldung.
Rohde: Sie sagen jetzt Routinetreffen, offizielles Routinetreffen. Der "Spiegel" schreibt aber, dass gezielt mit Absprachen eben der Wettbewerb außer Kraft gesetzt werden konnte.
Becker: Dieses ist mir völlig unbekannt, muss ich sagen. Ich selber war in zwei Arbeitskreisen, sowohl in Brüssel in dem Strategiekomitee als auch hier beim volkswirtschaftlichen Arbeitskreis beim VDA. Wir haben dort über völlig legale Sachverhalte zum Beispiel gesprochen. Es mag, und das verwundert mich, dass es daneben noch, und das ist die Meldung vom "Spiegel", geheime Arbeitskreise gegeben haben soll. Das wundert mich und davon hab ich bisher keine Kenntnis gehabt. Wenn dem so wäre.
"Normung und Typisierung sind Sinn der Arbeitskreise"
Rohde: Können Sie denn aufgrund Ihrer langjährigen Erfahrung bei BMW ausschließen, dass bei diesen möglicherweise auch geheimen Treffen kartellrechtswidrige Absprachen getroffen wurden?
Becker: Ja, das ist eine Grauzone, das muss man schon sagen. Wir haben ja nun das Phänomen gehabt in den 80er-, 90er-Jahren beispielsweise, dass Preisanhebungen in der Automobilindustrie im Frühjahr regelmäßig stattgefunden haben, und zwar immer im Turnus, wo der Erste, der die Preise angehoben hat, sich abgewechselt hat. Das hatte schon ein gewisses Geschmäckle, aber das Kartellamt hat das damals über 20 Jahre lang hingenommen und hat da keinen Anlass gesehen einzugreifen. Nur als Beispiel. Was ihnen jetzt vorgeworfen wird, den Herstellern, zum Beispiel bei diesen AdBlue-Tanks, dass sie eine bestimmte Größe gemeinsam vereinbart haben, also kleinere Tanks reinzutun in ihre Autos, das hat was mit Normung und Typung zu tun, und das ist in technischen Belangen der Sinn und das Ziel dieser Arbeitskreise, sich darüber zu verständigen. Noch ein Beispiel: Zum Beispiel der Elektrostecker bei Elektroautos, dass da nicht jeder Hersteller hingeht und seinen eigenen Elektrostecker entwickelt und damit für komplette Verwirrung auf dem Markt sorgt bei der Betankung dieser Elektroautos, sondern dass man da eine Normung und eine Typung erreicht, dazu müssen sich die Hersteller zusammensetzen, auch unter Führung ihrer Verbände, dafür sind die Verbände da, um da eine gemeinsame Linie zu haben. Auch um den Kunden letztendlich Kosten zu sparen und, wie gesagt, Klarheit zu schaffen.
Rohde: Aber Herr Becker, wenn sich fünf Unternehmen über Entwicklungsschritte absprechen und da möglicherweise auch Optionen wählen, die umweltschädlicher sind und die im Endeffekt auch Menschenleben kosten, eine Vereinbarung darüber treffen und diese Informationen nicht mit anderen Autokonzernen aus anderen Ländern beispielsweise teilen, ist das dann kein Kartell?
Becker: Das ist in diesem Fall, so wie Sie es jetzt zum Ausdruck gebracht haben, da würde ich sagen ja, das ist ein Kartell und das ist auch ein Wettbewerbsverstoß, der nicht hinzunehmen ist. Alles, was wie gesagt zum Verkauf oder beim Einkauf von Waren und Gütern preislich oder auch sachlich abgestimmt wird zwischen Herstellern, hat mit Marktwirtschaft nichts zu tun und ist ein Kartellverstoß. Also infolgedessen dann, wenn das nachgewiesen werden kann, jawohl, da haben Sie recht, dann wäre das in der Tat ein Kartellverstoß.
"Mindestens 50 Vorstände austauschen"
Rohde: Was bedeutet das denn dann politisch? Wir haben ja eben Winfried Hermann gehört, den grünen Verkehrsminister, der gesagt hat, als Minister müsste man auf jeden Fall zurücktreten. Was bedeutet das jetzt für die Manager?
Becker: Ja, richtig, da würde ich Herrn Hermann zustimmen. Dieses würde bedeuten, dass in der deutschen Autoindustrie, wenn die Anschuldigungen tatsächlich stimmen, wenn das nachgewiesen werden kann, was jetzt der "Spiegel" behauptet, dass wir mindestens 50 Vorstände austauschen müssen oder 100 sogar, je nachdem, wie weit man zurückreicht. Ja, die müssen weg, die sind schuld, das geht nicht. Wir haben in der Autoindustrie 800.000 Beschäftigte, davon sind 799.000 brave Bürger, die ihrer Arbeit nachgehen und die bei den einzelnen Herstellern entlassen werden, wenn Sie auch nur einen Radiergummi mitnehmen oder einen Schraubenzieher. In dem Fall muss der Gesetzgeber hart durchgreifen, und die müssen zurücktreten.
Rohde: Aber ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass es am Ende anders laufen wird, dass die Manager nämlich bleiben und die Geschädigten am Ende die Kunden sind, im Zweifel die Aktionäre und auch die Angestellten?
Becker: Also wenn man das Beispiel von Volkswagen nimmt, also seit 2015, dann hätten Sie recht, weil da ist ja nun vergleichsweise wenig passiert. Aber in diesem Fall hier, glaube ich, ist der Druck auf den Gesetzgeber und auch auf die Politik größer. Hier muss dann was passieren, das kann man so als Gesetzgeber nicht durchgehen lassen. Ein solcher massiver Kartellverstoß muss personelle Konsequenzen haben, das geht nicht anders, und natürlich materielle. Da muss die Strafe auf dem Fuße folgen, und das wird in die Milliarden gehen, das ist absehbar.
Rohde: Nun sagt der Grünen-Chef Özdemir, dass der eigentliche Skandal sei, dass Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt diese Betrügereien von Teilen der Autoindustrie eben nicht konsequent aufkläre. Was macht Sie da so sicher, dass es ein Signal von der Politik geben wird in diesem Fall?
Becker: Na ja, das ist der Druck der Öffentlichkeit, weil dieses ist ja nun kein Kavaliersdelikt mehr. Wir hatten vor zwei Jahren diesen berühmten Lkw-Skandal oder die Preisabsprachen im Lkw-Bereich, die damals zu drei Milliarden Strafzahlungen an die Wettbewerbsbehörde in Brüssel geführt haben, darunter alleine eine Milliarde von Daimler. Das ging an der Öffentlichkeit spurlos vorbei, dieser Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht hat die Leute nicht interessiert. Jetzt aber, jetzt wo es um den Diesel geht oder um das eigene Fahrzeug, da werden die Leute hellhörig und hier wird auch Wahlkampf gemacht. Dieses Ereignis kommt eigentlich insofern für die herrschenden oder für die regierenden Parteien zur Unzeit. Insofern muss jetzt … Da muss was passieren. Ich befürchte allerdings, dass es schwerfallen wird, bis zum September oder Oktober da eine Klarheit in den Zuständigkeiten zu finden und die richtigen Schuldigen rauszufinden.
"Deutsche Autos sind nach wie vor die besten der Welt"
Rohde: Sie haben vorhin auch angesprochen, dass den Autokonzernen jetzt Milliardenstrafen drohen, außerdem ist die Glaubwürdigkeit massiv beschädigt. Was bedeutet das eigentlich für die Zukunft des Autostandorts Deutschland, gibt es den noch in Zukunft?
Becker: Ja, selbstverständlich wird es eine Zukunft geben, solange wir nicht alle zu Fuß gehen wollen oder mit der Eisenbahn oder dem Fahrrad uns bewegen wollen.
Rohde: Es gibt ja auch ausländische Elektroautos.
Becker: Ja, nun, das ist eine andere Baustelle. Eine Kompensation durch Elektroautos in diesem Fall sehe ich nicht oder die Gefahr, dass Elektroautos jetzt die Verbrennerautos verdrängen, sehe ich nicht. Die deutschen Autos sind nachweislich nach wie vor - lassen wir mal diese Verhaltensweisen der Hersteller, die ja von Menschen regiert werden, mal außen vor, die besten der Welt. Da gibt's gar keine Frage, das sieht man am Export und das sieht man in allen Belangen. Also werden die auch weiter gekauft, nur wird man natürlich in der Branche strikt auf personelle Konsequenzen achten müssen, um eben diesen Imageschaden für die Branche als Ganzes so gering wie möglich zu halten. Aber dass die Branche dadurch jetzt vom Markt verschwindet oder im weltweiten Wettbewerb untergehen würde, das sehe ich nicht. Ich sehe nicht die Konkurrenten, die die deutsche Autoindustrie verdrängen könnte.
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