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Mögliche Lockerung der Coronavirus-Maßnahmen
Intensivmediziner: "Wir sind gut gerüstet"

Sollte es bei einer Lockerung der Coronavirus-Regeln wieder zu einem Anstieg von COVID-19-Patienten kommen, seien die Krankenhäuser gut vorbereitet, sagte der Intensivmediziner Gernot Marx im Dlf. Er rät auch anderen akut Erkrankten, in die Klinik zu gehen: "Sie werden trotz COVID-19 gut versorgt."

Gernot Marx im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
Drei Krankenschwestern stehen bei einem Patienten an einem Bett im Krankenzimmer mit Geräten der Intensivmedizin.
Ein Viertel der Kapazitäten in deutschen Kliniken sei für COVID-19 Patienten zur Verfügung gestellt, die anderen drei Viertel für andere Erkrankungen, sagt der Intensivmediziner Gernot Marx (imago / Rainer Weisflog)
In Deutschland seien aktuell 5.355 vollausgestattete Intensivbetten frei, dazu kämen 2600 Überwachungsbetten, sagte Gernot Marx, Sprecher für Intensivmedizin bei der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. "Ich kann ihnen sagen, dass wir gut gerüstet sind, auch wenn wir nach einer Lockerung eine erhöhte Anzahl von Patienten bekommen sollten."
Ein Viertel der Kapazitäten in deutschen Kliniken sei für COVID-19 Patienten zur Verfügung gestellt, die anderen drei Viertel für andere Erkrankungen. "Auch jetzt passieren Schlaganfälle, auch jetzt werden dringende Tumoroperationen durchgeführt. Deshalb appelliert er auch an andere Menschen mit einer akuten Erkrankung: "Bitte zum Arzt gehen und ins Krankenhaus kommen, Sie werden trotz COVID-19 gut versorgt."
Marx betonte, die technische Intensivmedizin werde nicht "über Menschen ausgeschüttet, nur weil die Geräte da sind". Im Vordergrund bei der Behandlung stehe der Wille des Patienten. Nicht bei jedem sei aber eine Patientenverfügung vorhanden. "Dann muss man davon ausgehen, dass er behandelt werden will", sagte Marx.
Der Palliativmediziner Matthias Thöns hatte im Deutschlandfunk den Vorwurf geäußert, ältere und vorerkrankte Patienten mit COVID-19 würden vorzugsweise intensivmedizinisch betreut, obwohl diese Gruppe üblicherweise mit den Mitteln der Palliativmedizin versorgt werde. In der Coronakrise mache man Intensivpatienten aus ihnen. Marx dagegen warnte davor, nur auf das Alter von Patienten zu schauen. Es sei ein Faktor, aber nicht der entscheidende. Es gebe durchaus fitte 80 Jahre alte Menschen, die beispielsweise noch Tennis spielten.
Palliativmediziner: "Sehr falsche Prioritäten gesetzt"
Der Palliativmediziner Matthias Thöns hat eine "sehr einseitige Ausrichtung auf die Intensivbehandlung" von Patienten in der Coronakrise kritisiert. Er plädiert für eine bessere Aufklärung.
Marx ist auch Klinikdirektor an der Uniklinik Aachen. Das Personal in Aachen sei gut geschützt: "Wir haben zugehört in Bergamo und anderen Orten Europas. Wir haben die Zeit genutzt und uns die letzten vier Wochen gut vorbereitet." Die Sicherheit sei gegeben. "In unserem Bereich ist noch niemand schwer erkrankt."
In Deutschland könne man sich glücklich schätzen, dass es bereits vor Corona so viele Intensivkapazitäten gegeben hätte. Corona werde uns allerdings noch Wochen und Monate begleiten, prognostiziert Marx - letztlich bis es eine Impfung gebe.
Coronavirus
Coronavirus (imago / Science Photo Library)
Das Interview in voller Länge
Jürgen Zurheide: Wie ist denn eigentlich die Lage bei Ihnen auf der Intensivstation im Moment?
Gernot Marx: Wir haben einige COVID-19-Patienten in Behandlung, mehrere Dutzend, um es genau zu sagen. Viele von denen sind schwerkrank, aber wir sind darauf gut eingestellt und sind auch jederzeit aufnahmebereit. Alles im Griff im Moment.
Zurheide: Sie kooperieren ja – das ist in Aachen ganz besonders – auch mit vielen Kliniken im Umland. Die besondere Expertise, die Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen im Bereich der Intensivmedizin haben, die geben Sie weiter an Krankenhäuser im Umfeld, und Sie liegen im Bereich Heinsberg. Mit welchen Fällen haben Sie im Moment ganz besonders zu tun? Sie haben COVID schon angesprochen.
Marx: Insgesamt haben wir hier in Aachen an der Uniklinik eine sehr große Intensivklinik sowieso. Dazu, wie Sie schon angedeutet haben, sind wir seit vielen Jahren in der Telemedizin tätig. Im Bereich der Intensivmedizin haben wir auch große Studien erfolgreich abschließen können und haben vor zwei Wochen genau, Anfang diesen Monats, das virtuelle Krankenhaus NRW für Intensivmedizin und Infektiologie eröffnet mit unserem Ministerpräsidenten und mit der Unterstützung von Minister Laumann gemeinsam, um außerhalb unseres bisherigen Netzwerks von 17 Kliniken gemeinsam mit der Uni Münster jedes Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung zu unterstützen, gerade in der Corona-Krise.
"Glücklich schätzen, dass wir in Deutschland so viele Intensivkapazitäten hatten"
Zurheide: Sie haben, könnte man sagen, Konjunktur. Erlauben Sie diesen etwas despektierlichen Begriff. Und deshalb am Anfang auch die ganz kritische Frage: Wird in Deutschland und wird bei Ihnen zu viel beatmet?
Marx: Auf keinen Fall! Wir können uns sehr glücklich schätzen, dass wir in Deutschland so viele Intensivkapazitäten sowieso schon hatten, und auch ohne Corona hatten wir ja nun schon viele Tausend Menschen, die wir jedes Jahr intensivmedizinisch behandelt haben, und bei den allermeisten verläuft das ja sehr positiv. Viele Menschen denken ja bei dem Begriff Intensivmedizin an Gefahr. Tatsächlich gibt es aber keinen Platz im Krankenhaus, wo die Betreuung engmaschiger, direkter und mit mehr Menschen durchgeführt wird, wie auf einer Intensivstation.
Zurheide: Was ist mit dem Willen der Betroffenen? Da heißt es ja, oder fangen wir anders herum an - es gibt die kritische Frage: Die Menschen, die gerade schon älter sind – und das sind ja welche, die häufig, so heißt es zumindest, betroffen sind von diesem Virus -, die sowieso schon andere Krankheiten haben, für die sei es falsch, sie intensivmedizinisch zu behandeln. Warum halten Sie diese Aussage für falsch? Ich unterstelle das.
Marx: Die ist wirklich grundsätzlich falsch. Zu allererst steht der Patientenwille. Wenn ein Patient aus welchen Gründen auch immer keine Intensivmedizin wünscht, dieses auch schriftlich niedergelegt hat in seinem Patientenwillen oder in einer Verfügung, dann ist das für uns natürlich absolut bindend. Da gibt es überhaupt keine Diskussion.
Ein Radfahrer mit Atemschutzmasker am Rheinboulevard in Köln.
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Zurheide: Wobei da muss ich jetzt sofort zwischengehen. Was ist mit denen – und viele haben es ja leider noch nicht getan, oder haben Sie da andere Erfahrungswerte?
Marx: Das ist richtig. Es wird immer mehr, muss man sagen. In den letzten zehn Jahren hat sich das wirklich deutlich geändert. Aber es ist richtig: Es ist nicht bei jedem vorhanden, und da muss man primär erst mal davon ausgehen, dass der Patient behandelt werden möchte in einem Notfall, wenn wir ihn nicht fragen können. Wir versuchen, dann aber mit Familie, Angehörigen oder engen Freunden den Patientenwillen natürlich zu eruieren. Prinzipiell gehen wir dann aber erst mal davon aus, dass der Patient behandelt werden muss. Ansonsten ist es auch vor Corona immer schon gewesen, dass wir viele ältere Patienten auch intensivmedizinisch behandelt haben, und das ist gar nichts Neues. Ich warne nur davor: Das Alter zum Beispiel ist ein Faktor, aber nicht der entscheidende. Ich finde es falsch zu sagen, wenn man über ein bestimmtes Lebensalter, zum Beispiel 80 Jahre ist, dass man dann keine Intensivmedizin mehr erhält, weil es gibt sehr wohl sehr fitte 80-Jährige, die Tennis spielen und so weiter und so weiter. Andere Patienten, die wesentlich jünger sind, haben natürlich eine sehr hohe Komorbidität, haben viele Vorerkrankungen, vielleicht eine Tumorerkrankung. Das muss man alles sehr individuell abstimmen und dann versuchen, den besten Weg für jeden einzelnen Patienten zu finden.
Keine Überbehandlung "nur weil die Geräte da sind"
Zurheide: Aber der Vorhalt ist ja dann zum Teil, dass Menschen gerade mit Vorerkrankungen, unabhängig vom Alter, dann auch intensivmedizinisch behandelt werden, möglicherweise zu lange. Ist das aus der Luft gegriffen?
Marx: Es geht nicht um zu lange und Tod und Technik, dass wir ohne Rücksicht auf den Menschen, auf die Würde des Menschen hier einfach alles machen, was technisch möglich ist. Es geht immer darum, möglichst für den Patienten die beste Behandlung durchzuführen. Wir wissen oft nicht, ob eine Behandlung tatsächlich am Ende erfolgreich ist, aber wenn wir sehen, dass es keinen Sinn mehr macht, kann man ja auch jederzeit eine Therapieziel-Änderung machen – das natürlich immer in Abstimmung mit dem gesamten Team, verschiedensten Ärzten und auch den Angehörigen des Patienten. Wir kümmern uns wirklich sehr individuell, sehr intensiv um jedes einzelne Schicksal, und dass dann die technische Intensivmedizin, egal was passiert, über einen einzelnen Menschen ausgeschüttet wird, nur weil die Geräte da sind, das ist auf keinen Fall gegeben.
Gernot Marx, Sprecher für Intensivmedizin bei der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin
Gernot Marx, Sprecher für Intensivmedizin bei der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (picture alliance/Henning Kaiser/dpa)
Zurheide: Das sagen Sie jetzt für die Universitätsklinik bei Ihnen in Aachen. Kann man das auch so insgesamt für die Bundesrepublik Deutschland sagen?
Marx: Das kann ich, glaube ich, weil ich sowohl in meiner Mutter-Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin im Vorstand bin und einen großen Überblick über die Intensivmedizin in Deutschland habe, als auch President Elect der Dachorganisation Intensivmedizin bin, der DIVI. Von daher habe ich, glaube ich, wirklich einen sehr guten Überblick über die Situation in Deutschland.
Zurheide: Ist es ein Gegensatz, auf der einen Seite Intensivmedizin und auf der anderen Seite Palliativmedizin? Es gibt diesen Vorhalt oder diese Hinweise, dass man gerade bei Menschen mit vielen anderen Vorerkrankungen vielleicht eher palliativ tätig sein soll und weniger über Intensiv die Menschen noch zu quälen?
Marx: Wie gesagt, es wird nicht gequält. Es gibt auch Fälle, auch jetzt aktuell Fälle, wo wir bei älteren Patienten, die bestimmte Vorerkrankungen hatten, von vornherein gesagt haben, dass wir diese Patienten eher palliativ behandeln und nicht intensivmedizinisch. Das wird wirklich bei jedem einzelnen abgestimmt. Und im Verlauf haben wir natürlich auch einen sehr engen Kontakt mit unseren Palliativmedizinern zum Beispiel vor Ort, und wenn sich eine Therapie nicht erfolgreich darstellt, dann können wir auch jederzeit – und das tun wir auch – entsprechend die Therapieänderung machen und eher von Intensiv- Richtung Palliativmedizin umschwenken. Aber bei jedem einzelnen muss man das individuell abstimmen.
"Wir haben uns in den letzten vier Wochen extrem gut vorbereitet"
Zurheide: Wie schützen Sie Ihr Personal? Das ist ja ein anderer wichtiger Faktor. Zumindest in Italien haben wir da eine Menge Dinge gehört, dass das Personal nicht ausreichend geschützt ist. Können Sie das in jedem Fall bisher für sich und Ihren Bereich in Anspruch nehmen, dass die Menschen, die selbst andere pflegen, nicht ihr eigenes Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen?
Marx: Das ist natürlich das Allerwichtigste, dass wir unsere Mitarbeiter schützen, dass wir genügend Material haben. Man muss sagen, wir haben zugehört in Bergamo und anderen Orten Europas. Wir haben die Zeit genutzt. Wir haben uns in den letzten vier Wochen extrem gut vorbereitet. Auch unsere Verwaltungen haben dafür gesorgt, dass wir jederzeit ausreichend Schutzmaterial hatten. Wir haben mit den Mitarbeitern geübt, bis sie es wirklich gut konnten. Von daher ist die Sicherheit gegeben und im Gegensatz zu Italien und Spanien, wo bis zu 15 Prozent der Infizierten ja auch aus den Gesundheitsberufen kamen, ist es in Deutschland deutlich geringer. Ich kann jetzt zumindest lokal sagen, aus unserem Bereich ist noch niemand schwer erkrankt, und im Intensivbereich hat sich sogar noch niemand infiziert. Ich will nicht sagen, dass das nicht passiert ist, aber in deutlich niedrigerem Umfang, als es aus den anderen Ländern berichtet wurde.
Coronavirus
Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Zurheide: Wenn wir in diesen Tagen insgesamt auf diese Krise schauen und dann die Menschen nach Lockerung fragen – als Intensivmediziner -, was geben Sie heute Morgen den Menschen zu bedenken bei diesem Thema?
Marx: Das ist natürlich eine schwierige Entscheidung, wie alle Entscheidungen in der Corona-Krise sehr schwierig sind, weil wir eine solche Pandemie ja noch nie vorher erlebt haben persönlich. Für alle stehen wir immer wieder vor neuen schwierigen Entscheidungen, so auch, glaube ich, jetzt die Bundesregierung in Bezug auf die Lockerung. Ich kann Ihnen sagen, dass wir gut gerüstet sind, auch wenn wir nach einer Lockerung wieder eine gewisse Anzahl, eine erhöhte Anzahl von Patienten bekommen sollten. Ganz aktuell in Deutschland sind gerade 5355 sogenannte High Care, voll ausgestattete Intensivbetten frei. Dazu kommen noch 2600 sogenannte Low Care, Überwachungsbetten. Das heißt, wir sind gut gerüstet, selbst wenn wir eine gewisse Mehranzahl jetzt in den nächsten Wochen weiter erwarten sollten. Das muss man allerdings sagen: Die Corona-Krise und auch die COVID-19-Erkrankten, dieses Phänomen wird uns in den nächsten Wochen und Monaten begleiten, am Ende des Tages, bis wir eine Impfung durchführen können, einen Impfstoff zur Verfügung haben.
"Sie werden auf jeden Fall auch trotz COVID gut versorgt"
Zurheide: Wie bewerten Sie das Argument, dass wir alles im Moment auf COVID ausrichten und Menschen mit anderen Erkrankungen möglicherweise nicht so schnell ins Krankenhaus gehen, wenn sie vielleicht intensivere Hilfe brauchen? Beobachten Sie das?
Marx: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Das beobachten wir. Das wissen wir natürlich nicht. Wir haben auch andere Patienten. Im Moment kann man sagen, dass wir etwa ein Viertel unserer Kapazitäten für COVID-19-Patienten zur Verfügung haben und die anderen drei Viertel für die anderen Erkrankungen, die natürlich auch passieren. Auch jetzt passieren Unfälle, auch jetzt passieren Herzinfarkte, auch jetzt passieren Schlaganfälle, auch jetzt werden dringende Tumoroperationen durchgeführt. Diese Patienten müssen natürlich genau wie vorher auch behandelt werden. Wir müssen gewisse zusätzliche Kapazitäten für diese neue Erkrankung vorhalten, aber genau das ist ja auch in Deutschland passiert, zu den schon umfangreichen Kapazitäten. Wir hatten ja bisher 29 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner. In den Niederlanden zum Beispiel sind es knapp sieben. Wir sind deutlich gut ausgestattet und dazu haben wir noch mehr Kapazitäten geschaffen. Das heißt, auch alle Menschen, die eine andere Erkrankung jetzt akut haben, bitte zum Arzt gehen, bitte ins Krankenhaus kommen. Sie werden auf jeden Fall auch trotz COVID gut versorgt.
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Zurheide: Letzte Frage mit der Bitte um eine kurze Antwort. Können Sie ausschließen, dass Krankenhäuser ein Interesse haben, Menschen zu beatmen, weil das angeblich sehr gut bezahlt wird?
Marx: Ich kann es für mich selber und für diejenigen, die ich gut kenne, ausschließen. Dass es vielleicht auch schwarze Schafe gibt, das weiß ich nicht. Ich kann Ihnen aber sagen: Im Moment geht es hier überhaupt nicht. Wir behandeln hier eine Krise und haben uns gut vorbereitet, dass wir den Menschen helfen können, und ich gehe eher davon aus, dass viele Krankenhäuser ein großes Defizit dieses Jahr einfahren werden. Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass wir gemeinsam die Corona-Krise erfolgreich überstehen, und das ist das A und O.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.