Mit dem geplanten Binnenmarktgesetz soll der Handel innerhalb des Vereinigten Königreichs künftig geregelt werden - und zwar über die Köpfe der Regionalregierungen und -parlamente hinweg und gegen die Abmachungen des Nordirlandprotokolls im Brexitvertrag. Denn das Gesetz schafft unter anderem Kontrollen für Waren aus Nordirland ab, die in den Rest Großbritanniens geliefert werden.
Nordirland - so sieht es das entsprechende Protokoll zum Brexitvertrag vor - soll im Prinzip in einer Zollunion mit der EU bleiben, damit es nicht zu Kontrollen an der nordirisch-irischen Grenze kommt. Einigen sich EU und Großbritannien nicht auf einen Freihandelsvertrag, müsste der Warenverkehr von Nordirland ins restliche Großbritannien aber durch Ausfuhrpapiere kontrolliert werden. In umgekehrter Richtung wären bis auf wenige Ausnahmen Zoll- und Verbleiberklärungen nötig. Das soll vor allem Schmuggel verhindern. Großbritannien könnte nämlich Güter von Drittstaaten geringer verzollen, diese Güter könnten über Nordirland und Irland in die EU gelangen. Genau diese Bestimmung wird durch das neue Binnenmarktgesetz ausgehebelt. Nordirlandminister Brandon Lewis hat auch bereits eingeräumt, das Binnenmarktgesetz verstoße gegen internationales Recht, allerdings sehr begrenzt und spezifisch.
Manfred Weber, CSU-Europapolitiker und Chef der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament, rät in der aktuellen Situation zu Besonnenheit. Man solle weiter die Bereitschaft zu Verhandlungen zeigen. Trotzdem müsse Großbritannien in den nächsten Tagen klarstellen, dass es zu diesem internationalen Rechtsbruch nicht kommt.
Das Interview im Wortlaut:
Silvia Engels: London gibt zu, mit diesem neuen Gesetz gegen internationales, mit der EU geschlossenes Recht zu verstoßen. Was soll die EU tun?
Manfred Weber: Das ist die große Frage. Wir wissen aktuell nicht hundertprozentig, ob es jetzt ein taktisches Element ist – wir wollen ja bis Mitte Oktober noch verhandeln und auch zu Ergebnissen kommen -, ob die jetzt Druck ausüben wollen aus London heraus, oder ob sie das wirklich ernst meinen. Man kann das eigentlich gar nicht glauben, was da passiert, dass ein Land wie Großbritannien Verträge, die ratifiziert worden sind im britischen Parlament, im Europäischen Parlament, die auch von Johnson selbst unterschrieben worden sind – er kann sich nicht mal darauf beziehen, dass das eine Vorgängerregierung gewesen sei -, dass diese Verträge für Großbritannien nicht mehr bindend wären. Das würde auch international für Großbritannien einen großen Schlag in der Reputation bedeuten. Insofern: Ich rate zur Besonnenheit. Ich rate dazu, dass wir auf jeden Fall das Signal ausgeben, wir bleiben am Verhandlungstisch, reden miteinander, wollen miteinander einen Deal, wir sind nicht diejenigen, die Gespräche abbrechen sollten. Aber was wir jetzt brauchen ist Klarheit, Klärung. Großbritannien muss in den nächsten Tagen klarstellen, dass es zu diesem internationalen Rechtsbruch nicht kommt, und da brauchen wir jetzt von London ein klares Signal.
Druckmittel aus London?
Engels: Und wenn es genau so ist, wie jetzt viele vermuten, dass die Briten auf einem erneuten Aufschnüren der Nordirland-Regel bestehen, sind dann die Gespräche über ein Freihandelsabkommen mit London für die EU beendet?
Weber: Sie werden extrem belastet werden und ein No Deal wird jeden Tag realistisch. Das spürt auch jeder. Wir haben bei unseren Überlegungen klare Prinzipien dahinter stehen. Das eine ganz große Prinzip ist Frieden in Nordirland und Irland sichern. Das ist die ganz große Leitlinie und da bedeutet die Entscheidung aus Großbritannien, die mögliche Entscheidung in Großbritannien bedeutet, dass wir auf eine harte Grenze zulaufen. Wir müssen auch als Europäer unseren Binnenmarkt schützen. Johnson spricht dauernd vom britischen Binnenmarkt. Das ist legitim als dortiger Premierminister. Aber wir dürfen auch von unserem sprechen und das bedeutet, wenn Großbritannien bei den Staatsbeihilfen beispielsweise Firmen massiv unterstützt, denen Staatsbeihilfen überweist, dann können die nicht mit europäischen Firmen fairen Wettbewerb haben. Sprich: Dann müssen wir auch an der Außengrenze kontrollieren, welche Produkte reinkommen und welche Staatsbeihilfen dahinter stehen. Großbritannien darf nicht zu einer Art Dumping-Land vor unserer Haustür werden, wo mit Staatsbeihilfen Firmen unterstützt werden und unseren Firmen eine Konkurrenz machen. Das sind die Überlegungen, die uns treiben, und da soll Johnson uns nicht unterschätzen. Wir sind bereit, unseren Binnenmarkt zu verteidigen.
"Ideologiebetriebene Politik führt nicht zu guten Ergebnissen"
Engels: Das klingt aber ein bisschen so, als ob Sie auf gar keinen Fall vom Verhandlungstisch aufstehen wollen, auch wenn die Briten bei ihrer Position bleiben, die Nordirland-Regelung wieder zu kippen.
Weber: Der Vorbericht hat ja schon deutlich gemacht, dass in Großbritannien jetzt auch helle Aufregung herrscht. Es ist ja nicht so, dass jetzt Johnson die Herzen zufliegen, wenn ich es so formulieren darf. Auch er hat ja zuhause massiv jetzt Druck – vor allen von den Regionen, Schottland, Nordirland, die auch direkt betroffen sind und die auch die Wirkungen in den nächsten Tagen durchdenken werden und aufnehmen werden. Deswegen kann man jetzt ganz entspannt ein Stück weit die britische Debatte sich anschauen.
Andererseits: Die Uhr tickt und wir haben in wesentlichen Bereichen, die wichtig sind, bisher keine Fortschritte bei den Verhandlungen. Michel Barnier will in der Sache konstruktiv arbeiten, aber wir haben da keine Fortschritte. Deswegen: Der heutige Stand gibt uns das Gefühl, dass Großbritannien keinen Austrittsvertrag will, dass sie den harten Brexit aus ideologischen Gründen heraus betreiben, und dass aus dieser Taktik dann wirklich ernst wird. Deswegen müssen wir uns als Europäer jetzt auch intensiv auf den Worst Case vorbereiten. Vor allem der Mittelstand braucht Unterstützung, dass er mit den dann anstehenden Regelungen ab dem 1. Januar umgehen muss. Und ganz generell: Wir erleben, was es bedeutet, wenn Politik ideologiegetrieben ist. Johnson ist schon ein Gefangener seiner eigenen Wahlversprechen und der Brexit-Kampagne, die er ja geführt hat und mit geführt hat. Er hat versprochen, dass Nordirland voller Teil Großbritanniens bleibt, und er wusste, dass er damit die harte Grenze zwischen Irland und Nordirland erzwingt. Heute will er davon nichts mehr wissen. Insofern: Ideologiebetriebene Politik führt nicht zu guten Ergebnissen.
Intensiv auf den "Worst case" vorbereiten
Engels: Wäre es auf der anderen Seite nicht ein Zeitpunkt, damit alle Seiten Planungssicherheit haben, jetzt den Briten zu signalisieren, dann scheitern die Gespräche möglicherweise auch an EU-Seite, um Planungssicherheit zu haben und dann den harten Brexit zu riskieren? Oder ist das (Stichwort Blame Game) so, dass dann der "Schuldige" für ein Scheitern auf jeden Fall in London verbucht werden soll?
Weber: Dass der Schuldige in London sitzt, ist heute schon offensichtlich. Mit einer Regierung, die die alten Verträge nicht mehr anerkennt oder nicht umsetzen will, macht es ja wenig Sinn, die neuen Verträge zu verhandeln. Das macht Johnson selbst, die Arbeit, dass er klarstellt, dass er den harten Brexit wirklich will und dann auch für die Folgen voll verantwortlich ist. Da gibt es aus meiner Sicht auch von der heutigen Wahrnehmung her selbst in Großbritannien kein Blame Game, keine Frage, wer verantwortlich ist. Ich möchte, dass wir einfach sachlich, seriös bleiben als Europäer, dass Michel Barnier die volle Rückendeckung der EU hat, vom Europäischen Parlament, auch von den Staats- und Regierungschefs, dass wir geschlossen bleiben und dass wir vielleicht auch in diesen Tagen spüren, wie wertvoll unsere Einheit ist, dass wir viel, viel stärker sind und viel selbstbewusster auftreten können, als das vielleicht ein sehr nervöser Boris Johnson machen kann, der ob der wirtschaftlichen Entwicklungen von Covid on top jetzt auch noch eine Brexit-Krise für sein Land riskiert. Ich finde, dass uns Gelassenheit gut ansteht, Stärke in der Sache, Härte in der Sache, wenn notwendig, aber auch Gelassenheit gut ansteht. Und wie gesagt, jetzt muss man sich ernsthaft auch auf den Worst Case vorbereiten.
Flüchtlingspolitik: "Wir brauchen jetzt eine europäische Lösung"
Engels: Gelassenheit und erst mal weiterreden – so viel zum Thema Brexit und weitere Gespräche. – Herr Weber, wir müssen aber auch noch über die europäische Flüchtlingspolitik reden, nachdem das Lager Moria mit 12.600 Migranten auf der griechischen Insel Lesbos in Flammen aufgegangen ist. Das endgültige Scheitern der EU-Flüchtlingspolitik?
Weber: Das ist ein weiterer ernster Vorgang, wo uns vorgeführt wird, dass wir jetzt endlich in Europa zu Potte kommen müssen, wenn ich es so formulieren darf. Die Hintergründe des konkreten Falles in Griechenland müssen geklärt werden. Es gibt ja auch Indizien, dass Migranten, die Covid hatten und die die Quarantäne-Vorgaben nicht respektieren wollten, diesen Brand gelegt haben. Das muss man jetzt klären. Und ich möchte auch Respekt sagen für den Einsatz der griechischen Feuerwehr, der Behörden, weil es keine Opfer gab, Gott sei Dank, und dass die Feuerwehr dann auch gehandelt hat und jetzt auch die Kinder schon weggebracht worden sind von der Insel. Insofern hat die griechische Regierung jetzt schnell gehandelt, um das humanitäre Gesicht Europas zu zeigen. Es ist ein weiterer ernster Vorgang und ich hoffe, wenn jetzt endlich die Kommission die überarbeiteten Gesetzestexte vorlegt für die Migrationsfrage, dass es uns dann mit der deutschen Präsidentschaft wirklich gelingt, den Gordischen Knoten zu durchschlagen. Wir brauchen eine Lösung. Jeder weiß, dass diese schlimmen Vorfälle leider Gottes immer wieder kommen, und deswegen brauchen wir jetzt eine europäische Lösung. Die Chance ist da und deswegen sollten wir die beherzt jetzt anpacken.
"Es darf sich in der Europäischen Union kein Staat rausreden"
Engels: Das ist die mittelfristige Idee. Wie steht es denn kurzfristig mit einer humanitären Aufnahme der Menschen aus dem Lager Moria in den EU-Mitgliedsländern, die mitmachen wollen, so wie das ja bei unbegleiteten Kindern aus Moria oder bei der Seenotrettung schon einmal versucht wurde? Kann das jetzt ganz schnell gehen?
Weber: Ein Signal der europäischen Staaten, Griechenland zur Seite zu stehen, wäre wünschenswert, wäre gut, wenn wir da eine kurzfristige Lösung hätten. Jetzt aktuell landen ja Schiffe an der Insel an, griechische Schiffe, auf denen die Flüchtlinge aufgenommen werden können, dass sie zumindest ein Dach überm Kopf haben und untergebracht sind. Insofern brauchen wir jetzt kurzfristige Lösungen, europäische Lösungen. Aber die Grundsatzfrage bleibt im Raum: Schaffen wir es, den Gordischen Knoten zu durchschlagen? Und ich möchte schon darauf hinweisen: Auch unter den Menschen, die jetzt im Flüchtlingscamp waren, sind viele, deren Antrag abgelehnt werden wird. Wir haben 60 Prozent Ablehnungsquote bei den Flüchtlingen, die an unserer Außengrenze anklopfen. Deswegen ist das eine Thema die Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Wir brauchen da Lösungen in Europa. Aber die gleich wichtige Frage ist, wie können wir die, die abgelehnt sind, auch wieder rückführen, beispielsweise nach Afghanistan oder in afrikanische Staaten. Das sind beides wichtige Themen bei der Diskussion über die Flüchtlingspolitik, die jetzt bevorsteht. Die Europäer sind bereit, Menschen zu helfen, die in Not sind, aber die Menschen wollen auch die Gewähr, dass die, die keine Hilfe beanspruchen können, auch wieder in ihre Heimat zurückgehen. Wenn wir diesen Balanceakt schaffen, dann schaffen wir wirklich einen Durchbruch in der europäischen Flüchtlingspolitik.
Engels: Was sagen Sie zum Vorstoß Ihres Parteifreundes Entwicklungshilfeminister Müller, der ja fordert, Kontingente für Flüchtlinge aus Moria in Deutschland zu erhöhen, möglicherweise auch voranzugehen?
Weber: Ich finde es gut, dass in der Bundesregierung und auch auf Länderebene, wie wir das ja erleben, Bereitschaft da ist, Menschen in Not zu helfen und sich an einer Quote, einer solidarischen Quote zu beteiligen. Aber ich möchte schon auch deutlich machen: Wir hatten 2015 das Signal, Deutschland "löst" – das war das Signal damals – alle Probleme alleine, indem es die Türen öffnet. Ich habe Verständnis dafür, dass man dieses Signal jetzt in Berlin nicht will, dass wir sagen, wir müssen es jetzt europäisch anpacken. Jeder ist gefordert. Es darf sich in der Europäischen Union kein Staat rausreden im Sinne von, mich geht Flüchtlingspolitik nichts an. Jeder muss einen Beitrag leisten. Da darf Berlin nicht den Eindruck erwecken, dass man wieder bereit ist, alle Probleme zu lösen. Wir brauchen jetzt Partnerschaft und Miteinander. Wenn das jetzt gelingt, andere Staaten auch zu gewinnen, Griechenland unter die Arme zu greifen, dann kann auch Deutschland mitmachen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.