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Möglicher EU-Austritt Großbritanniens
"Cameron hätte lieber kein Referendum gehabt"

Der britische Premier David Cameron will seine Landsleute über einen Austritt aus der EU abstimmen lassen. Cameron hätte aber lieber kein Referendum gehabt, sagte sagte der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees im Deutschlandfunk. Der Premier wolle gar nicht die EU verlassen. Was er nun Positives über die Union sagte, klinge in britischen Ohren unwahr, nachdem er ständig die EU beschimpft hätte.

Prof. Anthony Glees im Gespräch mit Jochen Spengler |
    Der britische Premierminister David Cameron und Bundeskanzlerin Merkel im Rathaus in Hamburg beim alljährlichen Matthiae-Mahl.
    Der britische Premierminister David Cameron und Bundeskanzlerin Merkel im Hamburger Rathaus beim alljährlichen Matthiae-Mahl. (picture alliance / dpa / Lukas Schulze)
    Jochen Spengler: Nächste Woche wird es ernst, es geht um die Zukunft Großbritanniens und um die der Europäischen Union, denn ein Austritt des Landes, ein Brexit, hätte für beide Seiten gravierende Folgen. Für die Briten, aber auch für die EU. Auf dem EU-Gipfel wird darüber befunden, welche Reformen und Zugeständnisse die anderen 27 Staaten Großbritannien und seinem Premierminister David Cameron machen werden und welche nicht. Wenn Cameron mit dem Ergebnis zufrieden ist, will er dem britischen Volk empfehlen, bei einem Referendum für die Mitgliedschaft zu stimmen. Gestern Abend trafen sich Großbritanniens Premier und Bundeskanzlerin Angela Merkel in Hamburg zu letzten Absprachen.
    Am Telefon in Oxford ist Professor Anthony Glees, Politikwissenschaftler an der Universität Buckingham. Guten Morgen, Herr Glees!
    Anthony Glees: Guten Morgen, Herr Spengler!
    Spengler: Täuscht das, oder hat sich David Cameron längst darauf festgelegt, ein Ja zur EU zu empfehlen und dabei ganz unbescheiden zu betonen, dass er fantastische Zugeständnisse der EU herausgehandelt habe?
    Glees: Ich glaube, David Cameron wollte nie die EU verlassen, will nicht die EU verlassen und hätte auch lieber kein Referendum gehabt. Es war ein Fehler seinerseits, zu einem Referendum sein Ja zu geben. Das hat er aus innerparteilichen Gründen gemacht. Er hat nie daran gedacht, dass das eine Wirklichkeit würde. Aber es ist jetzt eine Wirklichkeit. Und das, was David Cameron Positives über die EU sagt, Positives über die Wirtschaft, Positives über die Sicherheit – klingt in britischen Ohren unwahr nach der ständigen Beschimpfung der EU seitens der Tory und David Camerons selbst.
    "Diese Beschimpfung wird mit Zins und Zinseszins zurückbezahlt"
    Spengler: Er ist ja seit 2010 Premierminister, und er hat seither wirklich selten ein gutes Haar an der EU gelassen. Jetzt auf einmal preist er sie. Das ist doch dann nicht glaubwürdig bei den britischen Wählern.
    Glees: Genau. Es ist nicht glaubwürdig, und diese Beschimpfung und diese Verdummung, die es gegeben hat nicht nur auf die wirtschaftlichen Errungenschaften der Europäischen Union, sondern auch auf die politischen, diese Beschimpfung wird jetzt mit Zins und Zinseszins zurückbezahlt von den britischen Wählern. Wenn heute das Referendum stattfinden würde, so die Meinungsumfragen, würde es zu einem Brexit kommen mit einer Mehrheit von zehn, 15 Prozent. Natürlich, vieles kann sich ändern, aber man kann nicht von einem Tag auf den anderen sagen, das, was schlimm war, schlecht für Großbritannien, plötzlich das Beste ist auf der Welt.
    Spengler: Also das, was Cameron erreichen könnte zum Beispiel, die Sozialleistungen für Zuwanderer aus der EU einzuschränken, das wird den Briten nicht reichen, um am Ende mit "Ja, wir bleiben in der EU" zu stimmen?
    Glees: Ich glaube, es wird nicht reichen, eben weil David Cameron sagt, dass das große Plus der Europäischen Union die Sicherheit ist, die Sicherheit in einer unsicheren Welt. Da hat er gerade auf etwas gezielt, was offenbar nicht der Fall ist. Und nicht nur nicht der Fall ist, sondern nicht der Fall wegen der großen Politik der Bundesrepublik Deutschland. Denn für viele Briten ist die Einwanderungsfrage eine Frage der nationalen Sicherheit, und da die Europäische Union unter der Führung von Angela Merkel nicht die Grenzen der Europäischen Union sichern konnte, wird das von vielen Briten als ein Angriff auf die nationale Sicherheit angesehen, nicht ein Plädoyer dafür.
    Spengler: Aber wieso spielt das eine Rolle? Die Briten lassen doch kaum Ausländer rein.
    Glees: Wie die Politik gesehen wird und wie die Politik eigentlich ist, waren seit langer Zeit zwei verschiedene Sachen. Natürlich, die Briten lassen nicht viele hinein, die nicht aus der Europäischen Union kommen, aber, wie alle wissen, so ungefähr zwei Millionen Nicht-Briten, die Bürger der Europäischen Union sind, arbeiten zurzeit in Großbritannien. Dagegen arbeiten natürlich zwei Millionen Briten in den anderen Ländern der Europäischen Union. Das gleicht sich aus. Aber wie die Briten das sehen, meinen sie erstens, dass wir von vielen Leuten aus der Europäischen Union überrumpelt werden, die unsere Arbeitsplätze, die Schulen, Krankenhäuser befüllen, und dazu kommen noch die Millionen – die Millionen, die Frau Merkel nach Deutschland hineingelassen hat. Denn nach Jahren, es kann sechs Jahre – es weiß kein Mensch genau, wie lang, diese Millionen, die nach Deutschland hineingelassen werden, können dann nach Großbritannien kommen. Und das ist mit der nationalen Sicherheit nicht in Einklang zu bringen.
    "Die Politik von Frau Merkel kam zu einer schlechten und schlimmen Zeit"
    Spengler: Da muss ich jetzt mal auf eine Sache zu sprechen kommen, Herr Glees. Sie haben hier im Deutschlandfunk im September einen Satz gesagt, der für viel Aufregung und viele Schlagzeilen gesorgt hat. Sie haben nämlich gesagt nach der Öffnung der Grenzen für die Flüchtlinge, Deutschland gebe sich im Moment als ein Hippie-Staat, der nur von Gefühlen geleitet wird. Viele in Großbritannien meinen, die Deutschen hätten ihr Gehirn verloren. Sie haben jetzt die Chance, diesen Satz geradezurücken oder zurückzunehmen.
    Glees: Nein, nein, ich nehme sie keinesfalls zurück. Ich weiß, Frau Merkel versucht die Politik zu ändern, aber mit wenig Erfolg. Ich weiß, die anderen Schengen-Staaten versuchen Deutschland dazu zu ermuntern, die äußeren Grenzen der Schengen-Staaten zu stärken. Aber gerade jetzt, gestern wurde gesagt, es kann drei Monate dauern, bevor wir da etwas sehen. Nein. Deutschland hat sich wie ein Hippie-Staat benommen, weil Deutschland sich nicht an die Regeln, die Regeln der EU, die Regeln der NATO, aber auch die Regeln der Vernunft gehalten hat. Und Deutschland hat das für Deutschland getan, ohne anscheinend zu merken, dass Deutschland das auch dann für alle anderen, erst mal in den Schengen-Staaten und dann für alle anderen in der Europäischen Union getan hat. Alle waren durch die Hippie-Politik von Frau Merkel betroffen. Und wissen Sie, ich kann schon sagen: Diese Politik könnte man rechtfertigen, weil man meinen würde, das ist aus Menschlichkeit geschehen. Und das muss man Frau Merkel zugeben, das verstehe ich. Aber es war eine unmenschliche Politik. Erstens unmenschlich aus politischen Gründen, weil es die Strömung von Leuten vermehrt hat und nicht vermindert, und zweitens, die Argumentation, dass Deutschland diese Kräfte brauchte für ihre Fabriken und für die Wirtschaft, hat nicht gesehen, dass in Spanien, in Portugal, in Griechenland sehr viele Leute arbeitslos sind. Sehr viele junge Leute, also gerade die Leute, denen durch die Europäische Union geholfen werden soll, Arbeitsstellen zu bekommen. Also nein, ich nehme kein Wort zurück.
    Spengler: Okay. Herr Glees, wenn ich Sie richtig verstehe, sagen Sie, Angela Merkel hat mit ihrer damaligen auf den ersten Blick menschlichen Entscheidung auch die EU-Gegner in Großbritannien gestärkt.
    Glees: Genau das. Die Politik von Frau Merkel kam zu einer sehr schlechten und schlimmen Zeit, wo die Briten sich meines Erachtens in eine völlig falsche Richtung betätigen wollen, also zum Brexit, und gerade in einer Frage, wo die nationale Sicherheit und die Rolle Europas in der Welt von Wichtigkeit sein würde – es war der perfekte Sturm in unserer Politik.
    Spengler: Müssen Sie jetzt darauf hoffen – weil Sie sind ein EU-Freund –, müssen Sie jetzt darauf hoffen, dass die Briten, Ihre Landsleute am Ende mehr Angst vor dem Ungewissen eines Brexit haben – man weiß ja nicht, was dann kommt –, als Angst vor noch größerer Einwanderung?
    "David Cameron ist politisch sehr fähig"
    Glees: Die einfache Antwort auf Ihre gute Frage ist natürlich ja. Aber wenn man in der Politik erstens mit einem Referendum, also mit einem Ja oder Nein, umgeht, und zweitens, wenn man Angstpolitik macht, ist es nicht vorhersehbar, wie das auf die Wähler sich auswirken wird. Es ist schlimm. Wir wissen von den Meinungsumfragen. Je älter man wird, desto mehr ist man gegen die EU. Die Jüngeren sind dafür. Ich meine, mit gutem Recht. Aber die Murdoch-Presse in Großbritannien, die ständig, seit Jahren für Brexit plädiert hat, das alles hat jetzt einen Einklang gefunden. Und dass es sehr viele junge Leute gibt, die in der Mitte und auf der rechten Seite der Politik, die haben die Stimme durch Murdoch und andere Zeitungen bekommen. Und so wird die öffentliche Meinung verdorben durch den Unsinn, der uns jetzt ansteht.
    Spengler: Ganz kurze Frage zum Schluss, Professor Anthony Glees, mit der Bitte um eine kurze Antwort: Gibt es irgendein Kaninchen, das David Cameron noch aus dem Hut zaubern könnte, was seine Landsleute umdenken ließe?
    Glees: David Cameron ist politisch sehr fähig. Der hat zwei Wahlen gewonnen. Die Wahl, die er jetzt macht, das ist die größte Wahl seines Lebens. Zwei Mal gewonnen – es kann gut sein, dass er auch das dritte Mal gewinnt.
    Spengler: Wir wissen aber nicht, welches Kaninchen er da aus dem Hut ziehen soll. Danke schön, Professor Anthony Glees, für das Gespräch, und ein schönes Wochenende wünsche ich Ihnen!
    Glees: Gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.