Der Justiz der Weimarer Republik wird nachgesagt, sie sei "auf dem rechten Auge blind" gewesen und habe damit als rechtsstaatliche Institution versagt. Rechtsextreme Straftäter hätten kaum etwas zu befürchten gehabt, während Staatsanwälte und Richter Linksextremisten rigoros verfolgt und bestraft hätten. Emil Julius Gumbel, ein junger Mathematiker und Statistiker, untermauerte diese These bereits 1922 in einer Aufstellung der politischen Morde in den Jahren 1919 bis 1922. Seine Recherchen veröffentlichte er unter dem Titel "Vier Jahre politischer Mord" und setzte damit sein Leben aufs Spiel.
"Der Arbeiter Piontek wurde am 12. März 1919, angeblich, weil er sich geweigert hatte, einem Soldaten Feuer zu geben, verhaftet, und in der Normannenstraße von dem Gefreiten Ritter und dem Unteroffizier Wendler erschossen. Am 31. Januar 1922 verurteilte das Schwurgericht Ritter wegen versuchten Totschlags mit mildernden Umständen zu 3 Jahren Zuchthaus, Wendler wurde freigesprochen."
Der Mord an dem Arbeiter Piontek ist einer von mehreren hundert Fällen, die Emil Julius Gumbel in seiner Schrift "Vier Jahre politischer Mord" auflistet. Akribisch sammelte der 1891 in München geborene Mathematiker Daten und Fakten über alle politischen Gewaltverbrechen, von rechts wie von links. Er beschrieb detailliert die Tat, nannte, soweit bekannt, die Namen der Mörder und Auftraggeber sowie die strafrechtlichen Folgen. Dabei berücksichtigte Gumbel die Umstände jedes einzelnen Mordes aus den Jahren 1919 bis 22:
"Ich habe nur solche Fälle aufgenommen, wo die erschießende Partei nicht behauptet hat, dass sie von der Menge angegriffen wurde."
Der Rechtsstaat versagt
Emil Julius Gumbel fasste die Fälle in Tabellen zusammen. Das Ergebnis ist bedrückend: 354 rechtsextremen Morden, hauptsächlich verübt von ehemaligen Soldaten und Freikorps-Angehörigen, stehen 22 linksextreme Morde gegenüber. Noch erschreckender ist die Sühne der Verbrechen. Die Gerichte verhängten bei linken Tätern zehn Todesurteile, in den übrigen Prozessen betrug die durchschnittliche Haftstrafe 15 Jahre pro Mord, rechte Mörder kamen mit durchschnittlich vier Monaten Haft davon.
"Am 10. März kamen zu dem jungen Kurt Friedrich, 16 Jahre, seine beiden Freunde Hans Galaska, 16 Jahre, und Otto Werner, 18 Jahre, in die Wohnung der Mutter des Friedrich zu Besuch. Die drei jungen Menschen hatten sich nie mit Politik beschäftigt. Sie waren kaum zusammen, als acht Regierungssoldaten auf Grund einer Denunziation ankamen. Sie erklärten die drei jungen Menschen für verhaftet und führten sie ab. Nach zwei schrecklichen Tagen des Wartens fand Frau Friedrich die drei jungen Freunde im Leichenschauhaus als Tote wieder. Es erfolgte weder gegen die beteiligten Mannschaften noch gegen die verantwortlichen Offiziere ein Verfahren."
Bilanz: Offiziell bestätigt, aber folgenlos
Das Reichsjustizministerium bestätigte zwar die Angaben Gumbels, aber seine aufrüttelnde Bilanz blieb folgenlos, nicht ein einziger Mörder wurde auf Grund der Recherchen Gumbels bestraft. 1924 fasste der Mathematiker seine Statistiken in einem bitteren Fazit zusammen:
"Es ist amtlich bestätigt, dass in Deutschland seit 1919 mindestens 400 politische Morde vorgekommen sind. Es ist amtlich bestätigt, dass fast alle von rechtsradikaler Seite begangen wurden, und es ist amtlich bestätigt, dass die überwältigende Zahl dieser Morde unbestraft geblieben ist."
Bevor Emil Julius Gumbel mit seiner Veröffentlichung Anstoß erregt, hat sich der Sozialdemokrat als erklärter Kriegsgegner und Pazifist bereits den Hass rechtsradikaler Kreise zugezogen: Im März 1919 taucht ein Offizier der Garde-Kavallerie-Schützendivision mit zehn bewaffneten Männern in seiner Berliner Wohnung auf, um ihn als "Schädling" standrechtlich zu erschießen. Gumbel hat Glück, er befindet sich gerade im Ausland. Die Soldaten verwüsten und plündern daraufhin seine Wohnung. Ein Jahr später schlägt ihn ein rechtsradikaler Mob während einer Versammlung der Deutschen Friedensgesellschaft blutig nieder. Dennoch veröffentlicht er die Statistik der politischen Morde und riskiert damit sein Leben.
Gastprofessur in Paris rettete ihm das Leben
1923 wird Gumbel Privatdozent für Statistik an der Universität Heidelberg, er zieht sich jedoch schon bald den Zorn rechter Studenten und konservativer Professoren zu, als er bei einer Friedensversammlung vom "Feld der Unehre" spricht. Die Universität leitet sogleich ein Disziplinarverfahren gegen ihn ein, es endet glimpflich, aber die Fakultät lässt es sich nicht nehmen, ihn als "ausgesprochene Demagogennatur" zu bezeichnen. Als er im Mai 1932 die Figur einer Kohlrübe für ein Kriegerdenkmal vorschlägt, ist die Empörung groß, die Universität entzieht ihm umgehend wegen "Unwürdigkeit" die Lehrbefugnis. 1991 stellte die Hochschule zu seinem 100. Geburtstag klar:
"Die Universität handelte falsch und beging Unrecht, als sie Gumbel ausschloss."
Emil Julius Gumbel wird noch im selben Jahr Gastprofessor in Paris, und das rettet ihm als Juden womöglich das Leben. 1933 verbrennen die Nazis seine Bücher, darunter "Vier Jahre politischer Mord". Er selbst wird ausgebürgert.
"Ich empfinde es als große Ehre, dass ich wegen meiner Veröffentlichungen über die Schwarze Reichswehr und die politischen Morde bereits auf die erste Ausbürgerungsliste kam."
Schreibt er Jahre später.
Frühzeitig zwei Ursachen für Scheitern der Weimarer Republik benannt
1940 flieht Emil Julius Gumbel vor den Nazis in die USA, dort hält er sich mühsam mit Lehraufträgen über Wasser. Nach dem Krieg möchte er nach Deutschland zurückkehren, aber an seiner alten Heidelberger Universität ist er nicht willkommen. Lediglich die Freie Universität Berlin bietet ihm eine Gastprofessur. Als er 1966 in New York stirbt, würdigt ihn keine deutsche Zeitung.
Dabei hat Emil Julius Gumbel mit "Vier Jahre politischer Mord" bereits Anfang der 1920er Jahre eindringlich auf die hemmungslose mörderische Gewalt von rechts hingewiesen. Er hat zugleich auf das Versagen der Justiz aufmerksam gemacht und damit frühzeitig zwei Ursachen für das spätere Scheitern der Weimarer Republik benannt.
Emil Julius Gumbel: Vier Jahre politischer Mord.
Reprint der Originalausgabe von 1922.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg, 1980. 360 Seiten, 12,80 Euro
Reprint der Originalausgabe von 1922.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg, 1980. 360 Seiten, 12,80 Euro