Zunächst meint man, in eine Ausstellung der Malerschule von Barbizon geraten zu sein: beschauliche kleine Idyllen vom Lande, Blicke hinter schattige Bauernhöfe, durch Birkenhaine und Blattwerk im Gegenlicht, viel sattes Grün, brüchiges Mauerwerk. Alles in schweren, erdigen Farben, auch mal heiter flatternde Wäsche vor dem blanken, blassblauen Himmel.
Der 1872 bei Utrecht geborene Piet Mondrian fühlte sich zunächst ganz in der Tradition Rembrandts. Die Farben der Natur und des Wetters wurden ihm Material zur Darstellung seiner Wirklichkeit. Goethes damals eben ins Niederländische übertragene Farbenlehre machte ihn dann auf die Bedeutung der Primärfarben aufmerksam. Goethes umstrittene Mutmaßung, dass die reinen Farben sich aus den Eintrübungen entwickeln, ließ den Landschaftsmaler zu Bildern aus Blau und Rot kommen. Um 1905 klart das Wetter in Mondrians Landschaften gleichsam auf, wie ein Demiurg scheidet er das Licht von der Dunkelheit. Hinzu kommt seine Beschäftigung mit der damals neu erfundenen Theosophie, die in der Reinheit der Farben Emanationen des Edlen und Vergeistigten einer All-Natur sah.
1909 tritt Mondrian der Theosophischen Gesellschaft bei. Und nun beschleunigt sich sein Weg zur Abstraktion sichtlich. Aus den Farben der Natur werden Farben der Reinheit destilliert. Später macht Mondrian das holländische Motiv der Windmühle zum strahlenden Zeugen seiner Abstraktion. Die Pinseltupfen der Pointillisten emanzipieren sich zu freien Farbtupfen, die intensive Palette des Symbolismus und Expressionismus verschmilzt zu Bildern, die von Munch sein könnten.
Geradezu atemlos ist Mondrian aber schon unterwegs zu einer kubistischen Phase. In Holland, wohin er durch den Ausbruch des Weltkriegs zurückzukehren gezwungen ist, entstehen nun zahlreiche Variationen von algebraischen Raster- und Diagrammbildern. Barnett Newman sprach noch in den 40er-Jahren, als Mondrian ins amerikanische Exil getrieben wurde, abfällig vom "Diagrammmaler Mondrian". Doch diese Experimente waren nur Durchgangsstationen auf Mondrians Weg zur reinen Farblehre: Ab 1921 bestanden seine Gemälde nur noch aus den drei Primärfarben Blau, Rot und Gelb.
Das beeindruckend Neue an der Hamburger Ausstellung: Sie zeigt anschaulich, dass Piet Mondrian niemals mechanisch Vorgewusstes konstruierte. Bei allem Rationalismus sieht man der Faktur und den Proportionen seiner Farbwerte und Maßwerke an, dass hier ein Avantgardist der Farbe nach immer feiner abgestimmter Harmonie suchte. Die Schritte und Entwicklungen dieser Suche werden nun so behutsam nachgezeichnet wie exemplarisch vorgeführt. So erscheint der Meister des Orthogonalen nicht als Zwangsneurotiker des praktisch-guten Quadrats, sondern als skrupulöser Forscher auf dem steinigen Weg zu einer von aller Erdenschwere befreiten Utopie, in der sich - wie bei seinem großen philosophischen Vorbild Baruch Spinoza - das Edle eines ethischen Lebensgefühls mit den abstrakten Mitteln der Geometrie darstellen lässt.