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Mongolei
Reise in die Tiefkühltruhe

Auch in Ulan-Bator gilt: Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur falsche Kleidung. Die Hauptstadt der Mongolei ist die kälteste Hauptstadt der Welt. Für Ungeübte wird in Ulan-Bator der Gang vor die Tür zum alltäglichen Abenteuer.

Von Ulrich Land |
    Es sind diese unglaublichen Weiten, die mich schon im Flugzeug überwältigen. Noch dazu, wo alles unter einer weißen Decke liegt. Sämtliche Detailkonturen, sämtliche Farbtupfer wegkaschiert. Das ganze Land ein riesiges, blütenweißes Betttuch, das hier und da ein paar Buckel und Falten aufwirft. Wolken, Hügel: Der Horizont zeigt nicht klare Kante in diesen weich gewellten Welten.
    "Winter ist in der Mongolei sehr extrem kalt, Temperaturunterschied zwischen Sommer und Winter kann man 100 Grad rechnen. Im Gebirge könnte minus 50 Grad oder manchmal minus 60 Grad sein, aber im Sommer plus 50 oder 60 Grad. Sehr extrem."
    Baaka, Germanistikstudentin.
    "Aber natürlich gibt es eine schöne Seite: Zu Beispiel sehr tief-blauen Himmel haben wir, immer sonnig."
    Ulan-Bator, kälteste Hauptstadt der Welt. Ich steige aus dem Flugzeug, und die Temperatur stürzt von den, na ja, vielleicht 22 Grad Bordtemperatur auf 32 Grad minus Außentemperatur! Kältesturz im wahrsten Sinne des Wortes. Ich komme mir wahrhaftig schockgefroren vor.
    Und das ist nur der Anfang. In den zwei Winterwochen, die ich in der Hauptstadt der Mongolei verbringe, wird die mit Abstand höchste Temperatur, die ich auf einem Außenthermometer zu sehen bekommen soll, minus 14 Grad sein.
    "Minus 30 Grad oder minus 25 Grad bei uns ist ganz normal."
    Im Januar bewegen sich die durchschnittlichen Temperaturen in Ulan-Bator zwischen -17 und -21 Grad. Im Durchschnitt wohlgemerkt! Es werden durchaus auch 40 Kältegrade erreicht. Fast schon sibirische Verhältnisse.
    "Wirklich kalter Winter, viel Schnee, ist natürlich sehr hart für Nomaden, nicht nur Tiere, sondern die ganze Familie hat keine Nahrung und so weiter."
    Mit dem Flughafenbus nähere ich mich der ausufernden Stadt mit ihren abertausend Schneedächern. Zunächst an einem der rings um den Stadtkern angesiedelten "Jurten-Distrikte" vorbei, wo sich Steinhäuschen und Jurten abwechseln. Es heißt, ein Drittel der Bevölkerung Ulan-Bators lebt noch in diesen großen, weißen Rundzelten aus mehreren Filzlagen. Qualmfahnen steigen auf: schmale schlanke aus den Jurten am Stadtrand, bauchig sich in den Himmel wälzende aus Fabriken und Kraftwerken. Schon am frühen Morgen legt sich eine grau-gelbe Rauchglocke auf die Stadt.
    "Die Wohnungen, haben zentrale Heizung, es gibt zwei zentrale Heizkraftwerk, 24 Stunden arbeiten, mit Kohle. Aber nur ab September oder ab Oktober, und dann Ende März oder im April wird zentral ausgeschaltet. Die Jurten-Distrikt es gibt keine zentrale Heizung, als Kind hab ich in dem Jurten-Distrikt gewohnt, dann zum Beispiel meine Familie hat immer im September oder so eine ganzen große Auto Kohle gekauft, und dann wir haben zum Beispiel abends zwei oder drei Eimer Kohle reingemacht, und dann morgens auch. Wir heizen immer selber. Aber jetzt diese Jurten-Distrikte sehr groß geworden, deswegen dieser Rauch in Winter ist extrem. Und die Regierung macht nichts. Das ist sehr schmutziges Luft."
    In den großen Wohn- und Verwaltungsgebäuden im Stadtinneren bollert selbst im Treppenhaus die Heizung. Und wenn man hinaustritt, dann legt man nach Möglichkeit nur ganz kurze Wege zurück. Geht freiwillig keinen Schritt zu viel. Eilt von einem Haus ins andere. Über dieses Schneestraßenstaubeis, worunter Straßen und Bürgersteige drei, vier Monate lang verschwinden.
    Die Schlaglochpfützen zu Glaslinsen gefroren, übel verkratzt von den Krallen der Steinsplitter und Splitsteine, die sich in den Sohlen der breiten Stiefel verfangen haben. Nicht jedoch in den Sohlen meiner Stiefel. Die haben viel zu wenig Profil. Ich baue bereits am zweiten Tag einen steilen Abgang, rutsche weg, knalle Voll-Karacho auf den Rücken. Mir bleibt die Luft weg, habe Angst um jeden einzelnen meiner 24 Wirbel. Erst nach Minuten kann ich mich wieder rühren. Kurz bevor ich auf dem Bürgersteig festfriere. Postwendend gewöhne auch ich mir diese besondere mongolische Winter-Gangart an: schnelle, kurze Schlurfschritte, die über spiegelglatte Schleichwege schieben, ohne die Sohlen mehr als einen Millimeter vom Boden zu heben.
    "Wir haben sehr dicke Hosen getragen als Teenager, zum Beispiel ich war – oh, peinlich, so!, ich sah sehr dick aus, ich mochte nicht, aber moderne Teenager vielleicht sie frieren nicht, sie ziehen nur Jeans und dann eine kurze Jacke, zum Beispiel die Frauen Stiefel mit hohem Absatz und, ja, haha. Aber eigentlich in der Mongolei, wenn man sehr gut warm anzieht, ist nicht so schlimm."
    Auch hier gilt die Devise: "Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung."
    "Lieber drei Hosen oder drei Socken, anstatt nur eine dicke Socken und eine dicke Hose. Je mehr, desto wärmer. Sagt man: Zwiebeltechnik. Haha."
    Und als äußerste Zwiebelschale: der fußlange, wollgefütterte Mantel aus Seide oder Baumwolle. Genannt "Del".
    "Wir tragen keine Handschuhe, sondern unser Mantel, dieser Del hat sehr lange Arme. Deswegen wird nicht kalt. Und zum Beispiel Del kann man in der Nacht als Decke nutzen, sehr angenehm, schön lang und bequem."
    Monatelang eingefroren, tiefgefroren, die ganze Stadt. Stillstarr wie diese Handvoll Birken da drüben im Innenhof. Sollte man meinen! Aber weit gefehlt: Die Stadt pulsiert! Gibt sich nicht geschlagen. Warum auch, sind ja nur die paar wenigen Minusgrade!! Alles geht seinen gewohnten Gang.
    "Minus 40°, das ist kalt, aber trotzdem wir müssen leben weiter, etwas kaufen, verkaufen, das ist Ulan-Bators Leben, // (8:02) ob man ein Pferd hat oder ein Auto hat, muss man sich bewegen."
    Das zentrale Kino mit seinen 4 großen Vorführsälen fungiert als eine der entscheidenden Anlaufstellen, wo man keineswegs nur Filme sieht. Wo man sich trifft, zufällig oder verabredet, einen Plausch hält, sieht und gesehen wird.
    Die Klubs, die Jazzkeller werden emsig frequentiert. Nicht mal das Bretterbüdchen draußen an der brüchigen Ausfallstraße – zwischen Plattenbauten und Industriegebiet, umringt von zugefrorenen bodenseegroßen Schlaglöchern – hat sich in den Winterschlaf zurückgezogen. Bietet auch bei dieser knochenharten Kälte CDs feil: grelle Schlager neben mongolischer Nomadenmusik. Dizzy Gillespie neben Hits in bonbonfarbenem Cover. Bollywood-DVDs neben Brahms' deutschem Requiem.
    Auch die traditionelle mongolische Musik ist keinesfalls in die Winterstarre gefallen. Konzerte finden allenthalben statt; beispielsweise ein Contest, bei dem die besten Nachwuchsgruppen gegeneinander antreten.
    Auch der Uni- Betrieb wird bei minus 30°-Außentemperaturen ungerührt aufrechterhalten.
    Etwa das Seminar für Obertongesang.
    Als wollten die jungen, kälterekordgeprüften Mongolen den beißenden Frost wegbeißen mit ihrem hoch hinaufkletternden Gesang, mit ihren unendlichen Liedern, den wimmernden Saitentönen, die sie der Pferdekopfgeige entlocken. Ein Streichinstrument, das sich schlank wie die kleinen, aber extrem robusten Pferde gestaltet, die draußen in der schneidenden Kälte der Steppe stehen und von einem Huf auf den anderen trippeln.
    Erfrorene Tiere in den Hügeln der Provinz Hentii in der Mongolei.
    Menschen und Tiere leiden unter den extremen Temperaturen in der Mongolei. (AP)
    "Natürlich Winter hat schöne Seiten auch in der Mongolei. Die Mongolen singen sehr gerne. Es gibt viele Lied über Winter, wir erzählen eigentlich im Winter viele Märchen in der Familie, das ist wirklich schön."
    Ulan-Bator, die weiße Matrone mit dem schwarzen schweren Haar, das ihr die Striemen aus festgefrorenem Reifenabrieb in die Schnee- und Eisdecke auf den Straßen flechten. Im Zentrum ein fast quadratisches Straßennetz, das von einem Labyrinth aus Seitenstraßen und Sackgassen flankiert wird.
    Am Rande der Peace-Avenue, der zentralen Magistrale Ulan-Bators, hockt in einer Einfahrt ein Kleiderberg. Entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein altes Mütterchen, das sich in mehrere Schichten aus Pullovern, Jacken, Mänteln gehüllt hat. Die alte Frau verkauft hundert-Gramm-weise winzige Nüsse an die vorbeieilenden Passanten. Überhaupt: Das Einkaufen ist im winterlichen Ulan-Bator ein Unterfangen für Insider. In den Seitenstraßen und Hinterhöfen des Zentrums trifft man hier und da auf, um es vorsichtig auszudrücken: unscheinbare Gebäude, die in ebenso unscheinbaren Lettern das Label "Super Market" im Schilde führen.
    Ich fasse mir ein Herz, stoße eine der schweren Metalltüren auf und stehe unversehens vor einer Wand aus noch schwereren, dicken Filzdecken. Dahinter ein quirliger Mix aus orientalischem Bazar, alten Budengassen und den Halles de Paris. Buntes Markttreiben mit Dach überm Kopf. Die Stände sind nach Produktgruppen sortiert: Gemüse, Zahnpasta, Handys und was das Herz sonst begehren mag. Praktisch alles da, was es auch hierzulande gibt. Natürlich mit asiatischem Schwerpunkt. Vor allem aber: Fleisch. Die Mongolen sind im Herzen und zu einem beträchtlichen Teil auch noch de facto Nomaden.
    "Wir können nicht im Winter zu Hause sitzen, wir müssen sich bewegen, Leute treffen, wir sind sehr neugierig, bewegliche Nomaden."
    Am beeindruckendsten etwas weiter außerhalb der sogenannte "Schwarzmarkt", der seinem Namen nicht gerecht wird, sondern sich als eine Art Flohmarkt ohne antiquarischen Anspruch geriert. Und: Ohne geschlossene Halle!
    Als ich am Abend noch mal übers Bürgersteigeis der Peace-Avenue schlurf-schreite, sitzt dort immer noch die alte Frau und verkauft unverdrossen Nüsschen. Stundenlang hat sie in ihrem Berg aus Mänteln den Minusgraden getrotzt. Und morgen wird sie genau das wieder tun. Und übermorgen.
    Die Busse ziehen schwarze Qualmgirlanden hinter sich her, aber sie fahren. Da kennen die nichts. Sehen zu, dass sie den ganzen Tag nicht verstummen, vorsichtshalber, nicht, dass der Diesel stockt und der Motor nicht wieder anspringt. Das Busnetz ist für mich als Außenstehenden absolut undurchschaubar. Also hocke ich mich für einen Sonntagsausflug in den Flughafenbus, der, wie ich weiß, zum südwestlichen Stadtrand fährt.
    Die Busfenster sind zwar noch als Fenster erkennbar, aber mein Blick dringt beim besten Willen nicht hindurch. Komplett undurchsichtig. Zentimeterdick und wochenalt ist die milchige Schicht des schockgefrorenen Atem-Taus all der Leute, die jeden Tag und jeden Tag die Busse entern. Wird mir ein ewiges Rätsel bleiben, woher die wissen, wann sie wieder auszusteigen haben. Lautsprecherdurchsagen jedenfalls gibt es keine, und aus dem Fenster sehen, wie gesagt, geht überhaupt nicht.
    "Schnee und Winterkälte, das ist ein Teil von unseres Leben, das ist richtig kalt, trocken kalt, sehr angenehm, eigentlich mongolische Winter auf dem Land ist schön."
    An irgendeiner, irgendeiner Haltestelle springe ich raus. Und stehe mitten in der weißen Steppe. Noch weit eisigere Kälte als in der Stadt selbst lässt mir der Wind um die Ohren pfeifen. Ich wage ein paar Schritte durch den Schnee, sehe der eiskalten Sonne ins Gesicht, genieße den horizontweiten Rundblick über diese traumhaft weiße Hügellandschaft unter blauem Himmel. Und will zehn Minuten später nur noch eines: Zurück in die kuschelig warme Stadt!