Auch lange sicher geglaubte kulturelle Werte werden zunehmend in Frage gestellt. Welche Rolle spielen sie noch in einer globalen Gesellschaft, die sich immer mehr zu nationalisieren und radikalisieren scheint? Und welche Möglichkeiten hat die Kultur, eigene Positionen zu beschreiben und zu fordern? Über diese und andere Themen sprach Kulturstaatsministerin Monika Grütters in den "Kulturfragen" im Deutschlandfunk.
Das Interview in voller Länge:
Stefan Koldehoff: Frau Professor Grütters, Sie haben am Vorabend unseres Gesprächs an einer Veranstaltung des Deutschen PEN-Zentrums hier in Köln teilgenommen. Da ging es um das Programm "Writers in Exile", das durch das BKM unterstützt wird, ein Programm, das es Dichterinnen und Dichtern aus Ländern, in denen keine freiheitlichen Verhältnisse herrschen, ermöglicht, nach Deutschland zu kommen, verfolgten Dichterinnen und Dichtern, um hier zu leben und arbeiten zu können. Das war eine Veranstaltung, die unglaublich beeindruckt hat, weil da die Menschen standen, die nicht nur geschrieben haben, sondern die das geschrieben haben, was sie auch erlebt haben. Was haben Sie an diesem Abend gelernt?
Monika Grütters: Es hat mehrere Ebenen. Das eine ist die kulturelle. Wenn man bedenkt, dass Schriftsteller aus ihren Ländern fliehen müssen und in einem Land, in dem nicht ihre eigene Sprache gesprochen wird, ihr Leben wiederfinden müssen, nicht nur das Überleben im Alltag, sondern auch das Leben aus der Kunst mit ihrer Sprache wieder erlernen müssen, dann ist das eine große Herausforderung. Und wir haben über Krieg und Poesie gesprochen, also über Dinge, die eigentlich überhaupt nicht zusammen passen: Verrohung und Behutsamkeit oder zerstörerisches und schöpferisches Potenzial, über eine Verbindung des Schlechtesten mit dem Besten im Grunde genommen, und deshalb war das so eindrucksvoll, wenn man dann nicht nur Gedichte hört, sondern Gedichte, die zum Inhalt das eigene Erleben dieser geflüchteten und gedemütigten Menschen haben. Aber daran sieht man natürlich auch: Texte von maßlosem Leid, dieses verzweifelte Ringen nach Worten ist das eine, aber auch zu erleben, dass die Kraft eines Gedichtes den Krieg überdauern kann, dass eine poetische Aneignung solcher bitteren Erfahrung auch ein bisschen aus der Qual des gelähmt seins befreit, und dass für uns, die das nicht erleben mussten, damit geradezu wunderbare Zeugnisse dessen entstehen, was wir zum Glück nie sehen müssen.
"Es ist einer vornehme Pflicht, für diese Menschen da zu sein"
Koldehoff: Das waren Männer und Frauen aus Syrien, aus Tunesien, aus Russland, aus Kamerun, aus Tschetschenien, die da ihre Texte gelesen haben und die vom Deutschen PEN-Zentrum nicht nur hergeholt werden und dann sich selbst überlassen, sondern auch in alltäglichen Geschäften, Verrichtungen, Behördengängen, Ärzten und so weiter unterstützt werden. Das Ganze wäre nicht möglich, wenn es nicht durch Bundesmittel finanziert würde - seit vielen Jahren schon. In Zeiten, in denen der Ruf nach nationalem Bewusstsein, Deutschland zuerst, USA zuerst (in anderen Ländern hört man Ähnliches), immer lauter werden, warum fördern Sie so ein Programm?
Grütters: Weil die Dinge unmittelbar miteinander zusammengehören. Da wo aus einem gesunden Patriotismus ein problematischer Nationalismus wird, da wo radikalere Kräfte anfangen, wieder autoritäre Systeme zu errichten und als erstes die Denker, die schöpferischen Kräfte, Künstler mundtot machen, da muss Deutschland aus Verantwortung vor der eigenen Geschichte, finde ich, als erstes auch Exilanten aufnehmen und betreuen. Wir haben - das ist noch nicht lange her - so viele Künstler und Kreative aus unserem Land vertrieben, dass es jetzt geradezu eine vornehme Pflicht ist, für diejenigen, die ihrerseits ihre Heimat verlieren (etwas ganz Furchtbares), für diese Menschen da zu sein.
Abgesehen mal davon, dass sie für uns natürlich eine enorme Bereicherung sind. Es ist ja nicht nur, dass man ihnen ein Almosen durch Zuwendung gibt, sondern tatsächlich glaube ich, dass das unser Land, unser Zusammenleben aufwertet, wenn wir Umgang mit diesen Menschen, mit diesen starken Menschen führen können. Und deshalb bin ich froh, dass wir da Stipendien geben. Für ein bis drei Jahre werden sie hier in der Tat betreut, aber vor allen Dingen in die Lage versetzt, wieder zu schreiben, wieder zu denken, wieder Kunst und Kultur zu machen und schöpferisch tätig zu sein, weil das ihnen auch beim Überleben hilft und natürlich Zeugnisse für uns alle hinterlässt.
"Deutschland muss solidarisch mit diesen verfolgten Menschen sein"
Koldehoff: Sie haben in Ihrer Rede zu Beginn dieser Veranstaltung ganz deutlich gesagt, die Freiheit der Kunst, die Freiheit des Wortes zu schützen und zu verteidigen, ist oberster Grundsatz und vornehmste Pflicht unserer Kulturpolitik. Wird das aber nicht immer schwerer, wenn ich mir angucke, was allein rings um Deutschland - da muss man gar nicht weit bis nach Afrika oder nach Asien gucken - so los ist? Die Freiheit des Wortes ist doch eigentlich ein immer bedrohteres Gut.
Grütters: Und man denkt als Kulturpolitikerin, das ist doch selbstverständlich, dass wir die Freiheit der Kunst verteidigen. Bei uns hat sie einen sehr vornehmen Verfassungsrang. Artikel fünf unserer Verfassung lautet, Kunst und Wissenschaft sind frei. Diese Verfassung ist auf den Trümmern einer der brutalsten Diktaturen der Welt gebaut, der Nazi-Diktatur, und wir wissen, dass jedes autoritäre System wie gesagt damit anfängt, dass es kritische Geister mundtot macht.
Dass eine vitale Demokratie aber genau dieses kritische Korrektiv dieser Denker, dieser Vordenker, dieser zuweilen unbequemen Typen fundamental benötigt, das versuche ich immer wieder klarzumachen. Wenn wir Kulturpolitik machen und diese Künstler zum Experiment ermutigen, weil wir wissen, dass nur dann Fortschritt entsteht, dann tun wir das nicht, um denen einen Gefallen zu tun, sondern weil es für uns geradezu lebensnotwendig und ein konstitutives Element unserer Demokratie ist. Selbst bei uns zuhause fängt das ja wieder an, dass man einen Kanon fordert, leitkulturelle Überlegungen durch Engführung definiert. Aber wenn man auf europäischem Boden allein nach Ungarn oder Polen schaut, dann ist es offensichtlich, dass die Pressefreiheit dort bedroht ist. Oder schauen Sie, wie in der Türkei die Totenglocke der Demokratie geläutet wird. Das hat natürlich Auswirkungen weit über die Grenzen der Türkei hinaus und das muss uns alle aufrütteln. Und wenn Deutschland, wo so viele zum Beispiel türkische Mitbürger leben, eine Rolle hat, dann die, solidarisch zu sein mit diesen verfolgten Menschen, nicht aufgrund unserer Geschichte allein, sondern auch, weil sie für unser heutiges Zusammenleben von entscheidender Bedeutung sind.
"Es darf nicht bilaterale Kontakte um jeden Preis geben"
Koldehoff: Wenn Sie diese Länder jetzt, wie Sie es auch bei der PEN-Veranstaltung getan haben, ganz klar beim Namen nennen, geht dann nicht ein Stöhnen durchs übrige Kabinett? Ruft Sie dann nicht der Wirtschaftsminister an und sagt, wie konntest Du, Monika, mit denen müssen wir doch noch zusammenarbeiten? Oder an dem Tag, an dem Sie beim PEN gesprochen haben, war die Kanzlerin in der Türkei, musste da natürlich auch diplomatisch vorgehen. Wie frei sind Sie da in Ihren Möglichkeiten?
Grütters: Ja, das ist eine gute und richtige Frage. Diplomatie und gutes Miteinander auch auf europäischem Boden lebt natürlich von der Behutsamkeit und davon, dass man eine diplomatische Balance immer wieder findet, zwischen den legitimen Handelsinteressen nicht nur der Polen in dem Fall zum Beispiel, um das noch mal aufzugreifen, sondern auch der deutschen bilateralen Beziehungen. Aber ich glaube, dass die Kulturpolitik eine mahnende Funktion hat. Das ist ja kein affirmatives Gesellschaftsfeld, wo es nur um Unterhaltung ginge und um ein Milieu, das sich gerne ins Theater verfügt, sondern die Kultur ist ein fundamentales Element unseres deutschen Selbstverständnisses am Beginn des 21. Jahrhunderts. Das ist ein Modus unseres Zusammenlebens geworden und das hat immer eine moralische Implikation.
Deshalb glaube ich, wir sind uns da schuldig zu sagen, bis hierhin und nicht weiter. Man muss auch Missstände benennen. Es darf auch nicht bilaterale Kontakte um jeden Preis geben. Ich sehe meine Rolle vor allen Dingen darin, verfolgten oder unterdrückten, auch gedemütigten Künstlern und Freidenkern auch in unseren europäischen Nachbarstaaten die Hand zu reichen und zu sagen, wir sehen, was dort passiert, es gibt eine Solidarisierung und es gibt auch konkrete Hilfsangebote, wenn Du Dich drüben nicht mehr sicher fühlst, dann sorgen wir dafür, zum Beispiel über die Stipendiatenprogramme des Writers in Exile des PEN, dass hier Deine schöpferische Kraft nicht versiegt.
Koldehoff: Sind Sie vor dem Hintergrund manchmal auch ein bisschen froh, dass die Zuständigkeit für die auswärtige Kulturpolitik nicht bei Ihnen, sondern beim Auswärtigen Amt liegt?
Grütters: Die auswärtige Kulturpolitik im Auswärtigen Amt, die vor allen Dingen so wichtige Organisationen wie die Goethe-Institute ja umsetzen vor Ort, folgt einem Prinzip, nämlich dem des Miteinanders in den jeweiligen Zivilgesellschaften. Da wird ja nicht staatliche Politik aus Deutschland dort proklamiert, sondern die Institute vor Ort versuchen, durch vielfältige Kontakte in die jeweilige Zivilgesellschaft demokratische Strukturen und kulturelles Leben aufzugreifen als Element des Miteinanders. Insofern greifen da die Kulturpolitik des Bundes hier zuhause und die auswärtige Kulturpolitik tatsächlich Hand in Hand zusammen und wir können uns zum Beispiel bei so einer Künstlerakademie in Tarabya in der Türkei sehr gut ergänzen. Ich habe zum Beispiel die Villa Massimo in Rom in meinem Zuständigkeitsbereich und immer da, wo in den meinungsbildenden Milieus ein lebhafter Austausch der Künstler miteinander vor Ort gepflegt wird, erfährt ja auch die Gesellschaft hier in Deutschland viel mehr über die Länder, um die es uns geht.
Teheran-Ausstellung: "Wir wissen heute mehr über die Möglichkeiten und Grenzen gut gemeinter kultureller Initiativen"
Koldehoff: Das heißt, dieses Jahr sind Bundestagswahlen, danach wird es Koalitions- und andere Verhandlungen geben. Die Frage, alle Kultur unter einem Dach, wird nicht auf der Agenda stehen?
Grütters: Ich glaube, die Bedeutung der Kultur kann man nicht durch Organisationsfragen klären, sondern die Beauftragte für Kultur und Medien, also ich im Moment, habe Kabinettsrang. Ich bin im Kanzleramt verortet und laufe deshalb immer on the top mit. Zum Beispiel bei Parlamentsdebatten oder wenn es um Haushaltsfragen geht, sind wir im sogenannten Einzelplan 04 des Kanzleramtes ganz oben und ganz am Anfang jeder Gesellschaftsdebatte im Bundestag mit dabei. Ich habe den Status einer Staatsministerin und fürchte eher, dass bei einem großen Ministerium wir mit anderen inhaltlichen Ressorts zusammengelegt würden. Ob das der Kultur besser tut als im Kanzleramt zu sein, das muss man noch beantworten.
Koldehoff: Manchmal gibt es schon Dissonanzen. Die Teheran-Ausstellung war so ein Fall, da lag die Federführung eher beim Auswärtigen Amt. Sie haben relativ früh gesagt, mal gucken, ob das alles so hinhaut. Ist es schlimm, wenn man sich über Kultur auch streitet?
Grütters: Nein, das ist gut. Das ist ja ein Charakterzug der Kultur, dass sie unbequeme Fragen stellt, auch manchmal nicht zu eindeutigen Antworten führt, sondern auch mal der Konflikt produktiv geführt wird. Bei der Teheran-Ausstellung war das in der Tat eine Initiative von Außenminister Steinmeier im Iran und wir wollten dann mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz tatsächlich Arbeiten aus Teheran (der zeitgenössischen Kunst übrigens) hier in Deutschland zeigen. Ich hatte da in der Tat meine Zweifel, ob das dem dortigen Regime überhaupt recht sein kann, wenn Bilder, die sie dort nicht zeigen, hier in Deutschland plötzlich vorgeführt werden, und in der Tat konnte das dann am Ende nicht realisiert werden.
Aber ich glaube, die Debatte darum hat ja auch schon einen Mehrwert gehabt. Wir wissen heute mehr übereinander und auch über die Möglichkeiten und Grenzen selbst gut gemeinter kultureller Initiativen.
"Wir dürfen uns tatsächlich nie auf dem Erreichten ausruhen"
Koldehoff: Gestern hieß es ja, vielleicht ist das Tischtuch noch nicht völlig zerschnitten, vielleicht gibt es doch noch eine Chance. - Wir haben jetzt viel gesprochen über andere Länder, in denen Unfreiheit herrscht und in denen Künstlerinnen und Künstler sich nicht so äußern können, wie sie das eigentlich möchten, so frei vor allen Dingen. Wenn wir mal nach Deutschland gucken, dann könnte man, wenn man Kulturpessimist wäre, auch zumindest Tendenzen entdecken. Da gibt es eine Anfrage der AfD zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ob das denn alles so sein müsse. Da gibt es Anwürfe gegen Theater, wie denn die Spielpläne bitte auszusehen hätten. Und fast gibt es auch den Eindruck, als fiele das auf einen relativ breit klingenden Resonanzboden. Ist die Kultur nach wie vor Sache eines bestimmten Milieus und ein anderes Milieu, das eher kulturfern ist, verschafft sich jetzt Gehör und bezeichnet, ähnlich wie in den USA Trump das ja sehr erfolgreich getan hat, Kultur als eine Sache der Elite und steht dadurch Kultur in Gefahr?
Grütters: Zum einen sollten wir uns tatsächlich nie auf dem Erreichten ausruhen, nie bequem werden, eine Demokratie nie einschläfern, nur weil es uns so gut geht. Insofern finde ich auch solche Grundsatzfragen, misstrauische Infragestellungen des Erreichten (und sei das so eine große Ausstattung Deutschlands mit Theatern beispielsweise und was dort gespielt wird), das kann eine belebende Wirkung haben, weil es uns aufrüttelt zu fragen, machen wir eigentlich wirklich alles richtig, verteidigen wir hier eine Vielfalt an Kultur und einen großen Mitteleinsatz, obwohl der gar nicht mehr wirklich in der Breite ankommt. Die Fragen sind ja berechtigt, selbst wenn sie von dieser Seite gestellt werden. Also gehen wir an die Antwort.
Ich glaube, dass Deutschland sein gesundes Selbstbewusstsein deshalb wiedererlangt hat nach dem Zivilisationsbruch des Nazi-Regimes und des Zweiten Weltkrieges, weil wir uns unserer Geschichte stellen. Die Erinnerungskultur ist ja ein ganz maßgeblicher Anteil unserer deutschen Kulturarbeit, die Aufarbeitung unserer zwei Diktaturen in einem Jahrhundert.
Wir haben aber auch über die Kriege hinweg eine Vielfalt an Theatern, Museen, Literatureinrichtungen, Bibliotheken verteidigt, die nicht zerstört worden sind, weil wir wissen, dass sie zu einem Grundcharakterzug unseres deutschen Miteinanders hier in dieser Gesellschaft gehören.
"Wo wir Nachholbedarf haben, ist in der Vermittlungsarbeit"
Und dann müssen sie ihr Publikum eben auch erreichen. Die Auslastungszahlen sprechen dafür. Es gehen zehnmal so viele Menschen in alle Museen wie in alle Bundesligaspiele zusammen. Wir haben auf tausend Einwohner eine Erstveröffentlichung eines Verlages; eine solche literarische Vielfalt gibt es weltweit nicht noch mal. Also geht es doch darum zu fragen, ist das wirklich nur das Interesse einer Elite, oder kommt das in der Breite an.
Wo wir Nachholbedarf haben - da stimme ich solch einem Befund zu -, ist in der Vermittlungsarbeit. Wir haben in den deutschen Museen nach wie vor viermal so viele Kuratoren, die sich mit den Ausstellungsinhalten beschäftigen, wie Vermittler, die die Museumspädagogik machen, und dabei hat es schon in den 70er-Jahren Hilmar Hoffmanns Schlachtruf Kultur für alle gegeben. Den sollten wir mal nicht nur gut finden, sondern umsetzen. In vielen Ländern der Welt, die ich bereise, stelle ich fest, da gibt es viel mehr Museumspädagogen als solche, die tatsächlich für die Ausstellung und die Sammlung zuständig sind. Da haben wir Nachholbedarf, aber wir reagieren auch darauf. Und ich glaube, dass die Kultur ihren gesamtgesellschaftlichen Wert dann zurecht behauptet und verteidigt, wenn sie eine Begeisterung in der Gesamtbevölkerung auslöst. Ich erlebe in den Theatern, in den Musiksälen und vor allen Dingen in den Museen sehr viele Schulklassen und nicht in erster Linie eine wohlhabende Gesellschaftselite.
Koldehoff: Wobei, glaube ich, diese Vermittlungsangebote sich durchaus auch mehr an erwachsene Menschen richten dürften, oder?
Grütters: Ja.
Koldehoff: Es ist viel in den Angeboten für Kinder und Jugendliche, aber zeitgenössische Kunst, zeitgenössisches Theater, das sind keine sofort kapierbaren Sachen mehr, die da gezeigt werden.
Grütters: Das ist richtig. Das war sie übrigens nie!
"Kultur hat eine gesamtgesellschaftliche Rolle"
Koldehoff: Eben! Mir hat zum Beispiel der Kurator Felix Krämer vom Städel mal gesagt, jemanden wie Ernst Ludwig Kirchner, eine Größe der deutschen Kunst, muss man trotzdem alle 20 Jahre neu erklären, weil sich neue Erkenntnisse ergeben haben und weil eine neue Generation da ist. Sie schaffen es irgendwie, jedes Jahr den Kulturetat zu erhöhen; es könnte wahrscheinlich immer auch noch mehr sein. Sind Sie vor dem Hintergrund glücklich über die schwarze Null, die nicht nur das Ziel des Bundesfinanzministers, sondern sicherlich auch der Länderfinanzminister, in deren Trägerschaft ja viele Museen beispielsweise liegen, immer wieder anstreben?
Grütters: Ja. Natürlich profitiert auch und nicht zuletzt die Kultur von der schwarzen Null und vom guten Wirtschaften hier in Deutschland, von ausgeglichenen Haushalten und von der Möglichkeit, Geld auszugeben und nicht einzusparen. Das finde ich auch gut so. Aber noch mal zu dieser Vermittlung. Sie haben Recht: Früher hat man immer gesagt, Kulturpädagogik muss sich an die jüngere Generation richten, damit die sehr schnell an die Kultureinrichtungen herangeführt werden und das nicht in der Tat am Ende nur noch ein Freizeitverhalten von älteren Milieus in Deutschland ist. Das ist nur eine Aufgabe. Die "digital natives" auch mit anderen Formen der Vermittlung abzuholen bedeutet ja, dass die Kultureinrichtungen selber umdenken müssen. Die müssen zum Beispiel offenes WLAN in ihre Museen installieren, damit auch mit Apps die Sammlungen und die Ausstellungen erfahrbar sind beispielsweise - wir proben das jetzt auch beim Humboldt-Forum in Berlin als neue Einrichtung mal ganz modern.
"Wir müssen ältere Leute wieder heranführen"
Das zweite ist aber: Wir müssen ältere Leute auch wieder heranführen, denn die bleiben - das ist eine Folge der demographischen Entwicklung - ein bisschen zurück. Oder zum Beispiel Demenzkranke, die gerade mit Kultur im Übrigen sehr gut beschäftigt und belebt werden können. Das hat sich als sehr wohltuend auch gerade da erwiesen. Und wir haben noch ein anderes Problem, nämlich in der Fläche der Bundesrepublik ziehen ja viele Menschen weg, und damit die nicht veröden, bauen wir mit großen Programmen unserer Kulturstiftung des Bundes zum Beispiel geschlossene Regionalbahnhöfe zu Kulturzentren aus und versuchen, dort in der Fläche Projekte gerade über die Kultur wieder in eine Gesellschaft hineinzubringen, die sonst verkümmern würde.
Das andere, vierte Element ist: In den großen Zentren haben wir es mit einer zunehmenden ethnischen Durchmischung der Bevölkerung zu tun. Auch da kann zu allererst die Kultur Brücken bauen bei Fragen der Integration und der Vermittlung. Also: Die Kultur ist nicht ein Selbstzweck, sondern sie hat eine gesamtgesellschaftliche Rolle, die überall erkennbar erledigt werden will.
Koldehoff: Kultur ist immer der andere Blick auf die Welt. Da geht es nicht um die - das wird vielleicht thematisiert, aber es ist nicht die Grundlage - politischen Zwänge, nicht um diplomatische Notwendigkeiten, nicht um wirtschaftliche Gegebenheiten. Kultur ist zunächst mal frei und das heißt, sie kann vermitteln. Deswegen ist es wahrscheinlich Artikel fünf, den Sie gerade zitiert haben, so weit oben, was Werte sind. Und man muss im Moment ein bisschen die Angst haben, dass diese Werte gar nicht mehr Commonsense sind, dass es darüber gar keine gesellschaftliche Verständigung mehr gibt, welche Werte sind eigentlich wichtig. Trauen Sie der Kultur noch die Kraft zu, da ein Ruder herumzureißen?
Grütters: Die Kultur ist ja nicht abstrakt, sondern die wird ja von Künstlern und Verantwortlichen in den Kultureinrichtungen, zum Beispiel Intendanten verantwortet und gemacht und an uns herangetragen. Man darf sie nicht überfordern, indem man ihnen die ganz großen Aufgaben der Gesellschaft alleine überlässt, sondern die Medien, die Politik, wer auch immer wir sind, wir agieren da ja gemeinsam. Aber die große Kraft der Kultur - ich möchte ein Beispiel erzählen - können Sie natürlich gerade in einzelnen Einrichtungen studieren.
Ich habe eine Theaterreise in den Osten der Republik gemacht und bin mehrere Tage mit Journalisten unterwegs gewesen - in Jena, in Senftenberg, in Altenburg, in Halle, in Chemnitz - und wir haben uns dort Theaterstücke angeguckt, aber auch mit den verantwortlichen Kulturschaffenden vor Ort gesprochen: Was bewegt euch, worauf reagiert ihr. Und keiner von denen arbeitet da routiniert einen Kanon von Schiller, Goethe, Lessing ab, nur weil er ein Theater zu bespielen hat, sondern gerade die Theater reagieren seismographisch und, wie ich finde, sehr schnell auf sich verändernde gesellschaftliche Zusammenhänge und Fragestellungen und haben zum Beispiel in ein Bürgertheater Leute, die sonst bei Pegida-Demonstrationen mitlaufen, mit auf der Bühne stehen zusammen mit farbigen Schauspielern, und das geht dann plötzlich doch. Da werden Erfahrungen gemacht ganz archaischer Natur, ganz konkreter Fragen des Miteinanders, und gar nicht durch elaborierte und abgehobene Kulturangebote, die man erst mühsam erklären müsste, sondern sie werden dort gemeinsam erarbeitet. Und da liegt schon ein Stück auch gesellschaftlicher Kraft der Kultur, die es zu fördern gilt, und ich bin diesen Leuten sehr, sehr dankbar. Das kann die Politik gar nicht leisten, was sie vor Ort schaffen.
"Sprache ist für unser aller Zusammenleben wichtig geworden"
Koldehoff: Das heißt, wenn in der PEN-Veranstaltung Seamus Heaney zitiert wurde, kein Gedicht hat je einen Panzer gestoppt, dann würden Sie sagen, das ist auch gar nicht die Aufgabe eines Dichters?
Grütters: Immerhin! Dass Seamus Heaney, ein Schriftsteller, damit immer wieder zitiert wird zeigt, wie wichtig es ist, überhaupt auch kunstvolle Sprachgebilde zu schaffen, weil das ein unmittelbar einleuchtendes Bild ist, was Sie und ich wahrscheinlich so gar nicht gesagt hätten, was aber seine Bedeutung hat. Und ich behaupte mal, natürlich kann ein Gedicht, der sorgfältige Umgang mit Sprache unser Bewusstsein verändern. Gerade das! Es ist ja ein Postulat, was so bedeutsam ist und aktuell, wie es selten lange nicht mehr war. Geht sorgfältig mit eurer Sprache um. Sprecht nicht von Flüchtlingsströmen, als wäre das eine Naturkatastrophe gewesen, sondern nehmt die Geflüchteten, die um ihr Leben ringen müssen, bei uns auf, weil wir wohlhabend sind und weil das ein Akt der Barmherzigkeit ist, der uns gut zu Gesicht steht und den wir auch leisten können, wenn wir ihn leisten wollen. Daran sieht man, wie wichtig Sprache für unser aller Zusammenleben geworden ist.
Koldehoff: Sie haben, Frau Grütters, in den drei Jahren, die Sie jetzt im Amt sind, immer wieder durch kulturelle Arbeit politische Akzente gesetzt. Sie haben immer wieder gezeigt, dass kulturelles Agieren auch politisches Agieren in einer demokratischen Gesellschaft ist - ob das nun das Thema NS-Raubpolitik war, ob das nun das Kulturgut-Schutzgesetz gewesen ist, die Förderung von Initiativen wie dieser PEN-Initiative. Wird das nach der Bundestagswahl so weitergehen?
Grütters: Wenn mich die Wähler in die Situation versetzen, weitermachen zu dürfen, dann würde ich mich darüber freuen.
"Ich glaube, dass die Kultur sehr wach sein muss und nie in Routine erstarren darf"
Koldehoff: Und wird das angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich im Moment entwickeln, auch so weiter möglich sein, oder werden Sie eventuell andere Schwerpunkte setzen müssen?
Grütters: Ich glaube, dass die Kultur sehr wach sein muss und nie in Routine erstarren darf. Einfach nur die Einrichtungen, die es schon gibt, ordentlich betreuen, das wäre zu wenig, auch zu wenig Ehrgeiz, weil in der Kulturpolitik natürlich die großen Fragen gestellt und hoffentlich auch Antwortversuche unternommen werden. Wenn man fragt, nationale Identität, was ist das, die erwächst zu allererst aus dem Kulturleben eines Landes, aus dem Erbe, was uns anvertraut wurde, aber natürlich auch aus dem, was wir an avantgardistischem Spürsinn der Künstler zur Entfaltung bringen können. So, glaube ich, sollten wir versuchen, verantwortungsvoll mit unserer Kultur umzugehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.