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Monika Helfer: "Die Bagage"
Abgrundtiefe Ablehnung

"Bagage" ist der französische Ausdruck für Gepäck. Im übertragenen Sinne trägt man die Bagage mit sich herum, so wie in Monika Helfers Roman ein Geheimnis über Generationen hinweg zur Last wird. Helfer ist bekannt für ihre vertrackten Familiengeschichten. Nun erzählt sie von ihrer eigenen Familie.

Von Christel Wester |
Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer
Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer erzählt diesmal von ihrer eigenen "Bagage" (imago / Rudolf Gigler)
"Bagage": So nennt man lästige Familienclans oder Gruppen von zwielichtigen Gestalten, die sich nicht an die üblichen Regeln halten. Das Wort kommt jedoch ursprünglich aus dem Französischen und bedeutet Gepäck. So ist die Bagage also etwas, das man mit sich herumträgt und das mitunter eine ziemlich schwere Last sein kann. Kann man sich einen besseren Titel als "Die Bagage" für einen Roman vorstellen, in dem es um ein dunkles Familiengeheimnis geht, das über Generationen hinweg eine Belastung darstellt? Von einem Familiengeheimnis, das sich nie wirklich lüften ließ, erzählt die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer. Sie tut das skizzenhaft, in kargen, spröden Sätzen und entfaltet dabei dennoch eine enorme emotionale Wucht. Das wird gleich zu Beginn ihres autobiografischen Romans in einer Szene offenbar, die die Autorin hier selbst liest:
"Das Mädchen, zwei Jahre alt, steht vor dem Bett, mitten in der Nacht. Es ist Margarete. Die Grete. Sie zittert.
,Mama', flüstert sie.
Die Mama flüstert auch: ,Komm!'
Die Kleine kriecht zu ihr unter die Decke. Der Vater soll es nicht wissen."
Ist Grete nicht sein Kind?
Der Vater darf das Kind im elterlichen Bett nicht bemerken, denn er lehnt dieses Mädchen ab, nie sieht er es an, und bis zu seinem Tod spricht er kein einziges Wort mit ihm. Misstrauen ist die Ursache für seine abgrundtiefe Ablehnung, er denkt, dass dieses Mädchen namens Grete nicht sein Kind sei. Denn Grete wurde während des Ersten Weltkriegs geboren, als er noch als Soldat an der Front war. Zwar ist dieser Josef Moosbrugger zwischendurch auf Heimaturlaub gewesen, doch das ganze Dorf munkelte, dass seine Frau Maria ihm nicht treu gewesen sei. Denn Maria war eine Schönheit, die auffiel und der alle Männer gern nachgestiegen wären. Deshalb hält Josef die kleine Grete für das Resultat eines Seitensprungs.
"Er hatte keinen Zorn auf sie, keine Wut; er verabscheute sie, er ekelte sich vor ihr, als würde sie nach dem Zudringling riechen ihr Leben lang. Sie schlug er nie. Die anderen Kinder manchmal. Die Grete nie. Er wollte sie nicht einmal im Schlagen berühren. Er tat, als gäbe es sie nicht."
Das verstoßene Mädchen, die Grete, war Monika Helfers Mutter, das gibt die Autorin unumwunden zu verstehen, indem sie sich selbst als Erzählerin in ihren Roman einbringt:
"Das hat mir meine Mutter erzählt, da war ich erst acht."
Eindringliche Erzählung eines Frauenlebens
Heute ist Monika Helfer 72 Jahre alt. Ihre Mutter kam im Kriegsjahr 1916 auf einem einsamen Hof am äußersten Rand eines Bergdorfes zur Welt. Helfers Roman "Die Bagage" ist nun der Versuch, die Umstände zu rekonstruieren, unter denen ihre Mutter gezeugt wurde. Doch die Frage, ob die schöne Maria ihrem Josef treu blieb, gerät allmählich in den Hintergrund. Ins Zentrum rückt stattdessen die eindringliche Erzählung eines Frauenlebens aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Grete war Marias fünftes Kind, zwei weitere sollten noch folgen. Dabei wusste sie kaum, wie sie die hungrigen Bäuche füllen sollte. Auf ihren Feldern wuchs wenig, denn der Boden war karg und kaum fruchtbar. Doch Marias Familie war auf Selbstversorgung angewiesen, denn solange ihr Mann im Krieg war, fiel sein Zusatzverdienst durch gelegentliche "Geschäftchen", wie es im Roman heißt, weg.
Zwar hatte Josef vor seiner Einberufung den Bürgermeister des Dorfes gebeten auf seine Frau zu achten und die Familie zu unterstützen. Denn mit ihm machte Josef seine "Geschäftchen", und er betrachtete ihn als Freund. Doch ausgerechnet gegen dessen sexuelle Zudringlichkeit musste Maria sich nun wehren. Ohne den Schutz des männlichen Familienoberhauptes gerieten sie und ihre Kinder immer stärker in Not und schafften es letztlich nur durch Tricksereien und Mundraub, die Kriegsjahre zu überleben. Das brachte die Familie im Dorf in Verruf. Wenn auch nur eines der Kinder auftauchte, tuschelten alle das Schimpfwort "die Bagage".
"Die haben gedacht, die Bagage, die da oben, das sind Halbwilde."
Fakten und Fiktion ununterscheidbar
Die Atmosphäre in Monika Helfers Roman lässt einen an den preisgekrönten Film "Das weiße Band" ihres österreichischen Landsmanns Michael Haneke denken, der ebenfalls die patriarchalen und gewalttätigen Strukturen in der Enge eines Dorfes am Vorabend des Ersten Weltkriegs durchleuchtet. Monika Helfer stützt sich in ihrem Roman allerdings auf mündlich überlieferte Familienerinnerungen. Davon gab es viele. Helfers Mutter selbst starb früh, als die Autorin erst elf Jahre alt war. Später erzählten ihr die sechs Geschwister alle ihre eigenen Versionen des Familiengeheimnisses. Deren Wahrheitsgehalt lässt sich allerdings nicht mehr überprüfen, da niemand aus der älteren Generation der Familie mehr lebt. Nachfragen sind also nicht mehr möglich. Deshalb sind Fakten und Fiktion in dieser Familiengeschichte unterunterscheidbar. Oder, wie die Autorin in ihrem Roman schreibt:
"Die Erinnerung muss als heilloses Durcheinander gesehen werden. Erst wenn man ein Drama daraus macht, herrscht Ordnung."
Eine dramaturgische Ordnung hält die Autorin jedoch auch für trügerisch.
"Eine Ordnung in die Erinnerung bringen – wäre das nicht eine Lüge?"
Monika Helfer erzählt nicht chronologisch, sondern in Bruchstücken, mit vielen Auslassungen und zeitlichen Sprüngen. Nur wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sterben Maria und Josef Moosbrugger. Sie hinterlassen sieben Kinder, die nun ohne Eltern auf sich allein gestellt sind. Die Älteren sorgen für die Jüngeren. Monika Helfer verfolgt andeutungsweise alle Lebenswege dieser Onkel und Tanten und lässt ihre Geschichten in eigene Lebensgeschichte hineinragen.
"Wann und wo endet die Bagage? Gehöre ich noch dazu? Gehören meine Kinder noch dazu? Gehört mein Mann dazu?"
Komplexes Familienporträt
Wie wirken historische und private Traumata über Generationen hinweg fort? Das ist die zentrale Frage, der Monika Helfer in ihrem Roman "Die Bagage" nachgeht. Dabei entwirft sie auf gerade mal 159 Seiten ein komplexes Familienporträt, das an ein Mosaik erinnert, aus dem einige Steinchen herausgebrochen oder verblasst sind, andere dagegen in voller Farbigkeit leuchten. Doch gerade die Leerstellen in diesem eindrücklichen Familienroman sind es, die einen auch nach der Lektüre noch lange beschäftigen.
Monika Helfer: "Die Bagage".
Carl Hanser Verlag, München. 159 Seiten, 19 Euro.
Monika Helfer: "Die Bagage".
Gelesen von der Autorin.
Der Hörverlag, München. 4 CD's, 4h 36 min, 19 Euro.