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Monika Helfer: "Vati"
Er kehrte heim und kam nie an

Mit ihrem autofiktionalen Mutterroman "Die Bagage" gelang der Österreicherin Monika Helfer letztes Jahr ein Bestsellererfolg. Nun setzt sie mit "Vati" ihre Elternrecherche fort und hat einen Roman über ihren Vater geschrieben. Der flüchtete sich als Kriegsheimkehrer am liebsten in Bücherwelten.

Von Christel Wester |
Die Schriftstellerin Monika Helfer und ihr Buch „Vati“
Später Durchbruch mit 72 Jahren: Die Schriftstellerin Monika Helfer (Foto: imago / Rudolf Gigler, Buchcover: Hanser Verlag)
"Vati": Diese Anrede klingt aus der Zeit gefallen und irgendwie peinlich. Im Gegensatz zum universalen kindlichen Brabbelwort Papa, das emotionale Nähe ausdrückt, spricht aus Vati eine spröde, verklemmte Furcht vor Zärtlichkeit. Nicht zufällig war die Anrede Vati in den 1950er Jahren bei der kriegstraumatisierten Elterngeneration groß in Mode. So auch in der Familie der österreichischen Schriftstellerin Monika Helfer, deren neuer Roman so beginnt:
"Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern. Er wollte vor und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste."

Kein generationstypisches Vater-Anklagebuch

Monika Helfers Vati gehört zu einem Typus von Männern, die man kennt aus der deutschsprachigen Literatur: Schweigsame, in sich gekehrte Kriegsheimkehrer, die ihre traumatischen Fronterlebnisse verdrängen müssen, weil die Erinnerungen daran zu schmerzhaft und oft auch schambehaftet sind. Darüber zu sprechen ist diesen Heimkehrern deshalb nicht möglich, weil diese Generation nie gelernt hat, über Gefühle zu reden. Trotzdem gehört Monika Helfers Vaterroman nicht in die Reihe der typischen deutschsprachigen Väterliteratur, die in den 1970er und 80er Jahren fast schon ein eigenes Genre bildete, in dem sich meistens Söhne, aber manchmal auch Töchter mit der NS-Vergangenheit ihrer Väter auseinandersetzen. Im Unterschied zu ihren von 68 geprägten Schriftstellerkollegen wie Christoph Meckel oder Peter Schneider musste sich Monika Helfer nicht an einem autoritären Charakter, an einer Mitläufer- oder gar Täterfigur abarbeiten. Ihr Vater war ein gebrochener, zutiefst traumatisierter Mann und seit seiner Geburt ein Außenseiter. Monika Helfers Blick auf ihren Vater ist darum nicht politisch anklagend, sondern zärtlich und suchend. Das bringt die Autorin auch in ihrer Hörbuchlesung deutlich zum Ausdruck:
"Auf der Fotografie, die ich über meinen Schreibtisch an die Wand geheftet habe, steht er links, abseits. Er sieht aus, als gehöre er nicht dazu."

Manischer Büchersammler

Monika Helfer weiß wenig über ihren Vater, der bereits in den 1980ern im Alter von 67 Jahren gestorben ist. Er hat sie jedoch geprägt mit seiner geradezu manischen Büchersucht und seinem kritischen Sprachbewusstsein. Einen "Sprachzerleger" nennt Monika Helfer diesen Josef Helfer in ihrem Roman. "Vati" ist der Versuch seine Lebensgeschichte zu rekonstruieren, dabei lässt die Autorin ihre Leser an der Spurensuche teilhaben.
"Die Fotografie über meinem Schreibtisch habe ich von meiner Stiefmutter. Ich besuchte sie, da war unser Vater zehn Jahre schon tot und sie selbst über 80.
Ich sagte: 'Hast du Zeit für mich?'
'Wie lang?', fragte sie.
'Lang.'
'Es geht also um deinen Vater', sagte sie. 'Hab ich recht?'
'Ich möchte einen Roman über ihn schreiben.'
'Wahr oder erfunden?'
Ich sagte: 'Beides, aber mehr wahr als erfunden."

Beide Eltern sind schon als Kinder "Versehrte"

Josef Helfer war das uneheliche Kind einer Magd. Sein Vater war der Bauer, bei dem sie arbeitete – für Kost und Logis. Doch die Vaterschaft des Bauern wurde weder zugegeben noch abgestritten. Die ledige Mutter lebte mit ihrem Sohn weiterhin auf seinem Hof, in einer stallartigen Unterkunft mit gestampftem Lehmboden. Einer der Dorfhonoratioren und der Pfarrer erkennen die Intelligenz des Jungen, sie sorgen dafür, dass er aufs Gymnasium kommt und bringen ihn in einem katholischen Schülerheim unter. Kurz vor dem Abitur wird er zum Kriegsdienst eingezogen und an die Front nach Russland geschickt. Er verliert ein Bein. Im Lazarett verliebt er sich in die Krankenschwester: Monika Helfers Mutter, die letztlich genau wie er selbst eine Außenseiterin war. In dem Bergdorf, in dem sie aufwuchs, galt sie als Kuckuckskind, angeblich gezeugt bei einem Seitensprung der Großmutter, während ihr Ehemann im Ersten Weltkrieg als Soldat an der Front war. Als er zurückkehrte, hat er das Mädchen nicht anerkannt.
"Darum hat er mit diesem Kind sein Leben lang kein Wort gesprochen."
Die Herkunft ihrer Mutter hat Monika Helfer in "Die Bagage" erkundet. In ihrem neuen Roman "Vati" knüpft sie an den Vorgängerroman an. Allerdings stellte Helfer in "Die Bagage" ihre Großmutter und die Zeit rund um den Ersten Weltkrieg ins Zentrum. Nun widmet sich die Autorin in der Fortsetzung ihrer autofiktionalen Familienerkundung ihrem Vater und der Kriegs- und Nachkriegsgeneration des Zweiten Weltkriegs. Dabei rückt auch ihre eigene Kindheit ins Blickfeld: Monika Helfer wurde 1947 geboren. Ihre Kindheit war massiv von den Traumata der Erwachsenen geprägt. "Eine Versehrtenliebe" nennt sie die Ehe ihrer Eltern: Es sind zwei Depressive, die sich gefunden haben, um ihre Last gemeinsam besser ertragen zu können und die doch oft heillos überfordert sind. "Geteiltes Leid" ist eben nicht immer "halbes Leid", wie das Sprichwort behauptet, sondern manchmal auch doppeltes Leid. Monika Helfer gelingt das Kunststück, Worte zu finden für die Sprachlosigkeit, die in ihrer Kindheit herrschte. Sie erzählt bruchstückhaft, "Vati" ist eine Montage aus Erinnerungen, Anekdoten und Reflexionen, die viele Leerstellen lässt. Die Ich-Erzählerin springt dauernd zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her – von der Kindheit des Vaters über die eigene Kindheit bis zur Gegenwart des Schreibens.
"Ich träume mich auf die Tschengla, 1220 Meter über dem Meer, zurück ins Jahr 1955, ich war acht."

Bleiernes Schweigen der Nachkriegszeit

Die Tschengla ist ein Hochplateau in Vorarlberg, hier lebte die Familie Helfer. Der Vater war wie erwähnt ein Kriegsversehrter mit Beinprothese und leitete dann hier oben ausgerechnet ein Kriegsopfererholungsheim. Allabendlich sitzen die vom Krieg gezeichneten Gäste auf der Tschengla gesellig beisammen: eine brüchige, fragile Idylle. Gegen Ende der 1950er Jahre wird das Erholungsheim von den Besitzern in ein Hotel umgewandelt. Das entzieht dem Vater die Existenzgrundlage, die Mutter erkrankt an Krebs und stirbt, die Familie fliegt auseinander. Josef Helfer erleidet einen psychischen Zusammenbruch und wird in einem Kloster untergebracht. Monika Helfer und ihre drei Geschwister werden in der Verwandtschaft der Mutter verteilt. Auch hier herrscht Schweigen.
"Kann man das glauben? Da waren wir schon so lange in der Südtirolersiedlung, und niemand hat je mit uns über unsere Mutter oder unseren Vater gesprochen! Als hätten wir nie Eltern gehabt."
Monika Helfer erzählt eine tragische Familiengeschichte, spickt sie aber mit vielen aberwitzigen Familienepisoden voller Absurdität und lakonischem Humor. Dabei gelingen ihr auf wenigen Zeilen viele eindrückliche wie überraschende Charakterzeichnungen: Ob das Onkel Theo ist, der wortkarge Knochenmann, der sich ausschließlich von Bier ernährt, aber letztlich als Einziger, das Kind auf die verstorbene Mutter anspricht. Oder Tante Kathe, die es mit ihrem herben, aber dennoch warmherzigen Pragmatismus schafft, die Familie irgendwie zusammenzuhalten. Wie schon in ihrem Roman "Die Bagage" erweist sich Monika Helfer auch in "Vati" als eine Meisterin der Verdichtung. Auf 173 Seiten hat sie ein bewegendes und komplexes Familienporträt geschaffen, das zugleich auch ein Spiegel der frühen Nachkriegsgesellschaft ist.
Monika Helfer: "Vati"
Carl Hanser Verlag, München. 172 Seiten, 20 Euro.