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Moore und Seen

Worpswede steht für ein Wunder der deutschen Kunst. Die Siedlung im Teufelsmoor vor den Toren Bremens war für Jahrzehnte so etwas wie der komplette Künstlerhimmel auf Erden. Im süddeutschen Bietigheim-Bissingen werden nun in einer breit angelegten Ausstellung mehr als 160 Arbeiten gezeigt, die um 1900 in der Künstlerkolonie entstanden sind.

Von Wolf Schön | 08.05.2007
    Stiller Kanal mit steiler Böschung, auf der sich weiße Birken dem Herbstwind beugen. Ein Torfstecher stößt sein voll beladenes Boot vom Ufer ab, damit der Brennstoff unverzüglich die nahe gelegene Großstadt erreicht. Warmes Sonnenlicht fällt auf die ländliche Idylle, über der kräftige Wolken so rücksichtsvoll segeln, dass der Blick auf ein seidiges Blau nicht verstellt wird. Die bescheidene, doch andächtig überlieferte Szene dient als Vorlage für die Plakat- und Katalogwerbung der Städtischen Galerie im süddeutschen Bietigheim-Bissingen. Buchstaben treiben da auf dem Wasser des Kanals: "Ein Stück vom Himmel" steht dort zu lesen, versehen mit einem irritierenden Fragezeichen. Geworben wird so für die breit angelegte Ausstellung mit mehr als 160 Arbeiten, die um 1900 in der Künstlerkolonie Worpswede entstanden sind.

    Ein Stückchen Himmelsblau - das wäre in der Tat untertrieben gewesen. Das Markenzeichen Worpswede steht für ein Wunder der deutschen Kunst; die Siedlung im Teufelsmoor vor den Toren Bremens war für Jahrzehnte so etwas wie der komplette Künstlerhimmel auf Erden. Doch das unter den denkbar einfachsten Voraussetzungen. Denn was die ersten beiden Aussteiger, die Düsseldorfer Kunststudenten Otto Modersohn und Fritz Mackensen 1889 in ihrem Refugium vorfanden, war alles andere als spektakulär: keine pittoreske Naturkulisse, nur plattes armes Land mit redgedeckten Katen, deren Bewohner mit harter Arbeit ihr karges Brot verdienten. Auch konnte von unberührter Natur keine Rede sein. Das Moor war bereits im 18. Jahrhundert trocken gelegt worden, was schnurgerade Entwässerungsdrainagen sowie in Reih und Glied gepflanzte Bäume nicht verheimlichen konnten.

    Wenn die Einsiedelei wenigstens originell gewesen wäre. Bereits sechs Jahrzehnte zuvor hatten Frankreichs Freiluftmaler in Barbizon vorgemacht, wie man die Flucht vor der Industrialisierung der Stadtregionen organisiert. Mittlerweile war auch in Deutschland der Reißaus vor den rauchenden Schloten zu einer künstlerischen Massenbewegung geworden. Dass den Worpsweder Heimatmalern der steile Aufstieg zum Olymp des Ruhms gelang, lag wohl daran, dass sie mit ihren farbfrischen, naturnahen Bildern zur rechten Zeit am rechten Ort zur Stelle waren. Nach dem Debut in der Bremer Kunsthalle war Eugen Otto von Stieler auf die muntere, um so vielversprechende Talente wie Fritz Overbeck und Heinrich Vogeler angewachsene Gruppe aufmerksam geworden. Der mächtige Manager des Münchner Glaspalastes, in dem alljährlich der renommierte moderne Salon der Kaiserzeit stattfand, stellte der norddeutschen Kolonie 1895 einen eigenen Saal zur Verfügung. Der Erfolg war überwältigend, schlagartig waren die Worpsweder deutschlandweit bekannt und gefragt.

    Über Nacht verwandelte sich das bescheidene Dorf zu einem Mekka der Avantgarde, der sich auch die frühvollendete Paula Modersohn-Becker anschloss. Zum so genannten Barkenhoff des genialen Jugendstilkünstlers Vogeler, einem märchenhaften Gesamtkunstwerk aus Architektur, Malerei und Kunstgewebe, pilgerte Prominenz aus Kunst, Literatur und Theater, darunter Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke und Max Reinhard. Die Bilder mit dem Qualitätssiegel Worpswede trafen den Nerv der Zeit, sie waren die deutsche Antwort auf den französischen Impressionismus. Wenn heute die pastoralen Landschaften mit ihrem bodenständigen Personal Revue passieren, wird deutlich, warum sich die einst hochgeschätzten deutschen Werte auf Dauer nicht exorbitant verzinsen konnten. Gerade die Suche nach der tieferen Wahrheit im Naturerlebnis, die feierliche Stimmung waren schließlich der Grund dafür, dass die unbeschwerte Konkurrenz aus Frankreich mit ihrem angeblichen Formenzerfall und ihrer geschmähten Oberflächlichkeit uneinholbar davonzog. Das Fragezeichen hinter dem Stück vom Himmel bekommt am Ende des Ausstellungsrundgangs doch einen melancholischen Sinn. Was vom verblassten Mythos bleibt, ist aber nicht gering: Das Projekt Worpswede präsentiert sich mit berechtigtem Stolz als wichtigste Zwischenstation auf dem Weg vom blutleer gewordenen Akademismus zur wirklich radikal befreiten Künstlergemeinschaft der Brücke-Expressionisten.