Archiv

Moral
"Dem Humanismus neu zum Sieg verhelfen"

Der Publizist und Ethik-Professor Alexander Görlach fordert die Rückkehr zu einer Moral, die den Menschen ins Zentrum stellt. Religionen könnten dabei helfen, wenn sie Empathie förderten und nicht Abgrenzung.

Alexander Görlach im Gespräch mit Christiane Florin |
Teilnehmer des Zuges der Liebe - Rave für mehr Mitgefühl und Nächstenliebe mit Plakaten und Slogans: "Hass ist krass - LIEBE ist krasser - EMPATHIE - Keine Macht den DOOFEN!"
Zug der Liebe - Rave für mehr Mitgefühl und Nächstenliebe in Berlin (imago / Müller-Stauffenberg)
Christiane Florin: Die Europawahl bestätigt einige Trends der vergangenen Jahre. Parteien, die immer noch Volksparteien genannt werden, verlieren an bindender Kraft, die Grünen, die mit globalen Themen wie Klimaschutz, Wahlkampf gemacht haben, könnten eine neue Volkspartei werden, besonders unter den Jungen. Aber auch Populisten, die auf nationalistische Töne setzen, gewinnen hinzu. Kompromisse zu schließen, einen breiten Konsens zu finden, wird schwieriger. Aber genau das wäre nötig, schreibt Alexander Görlach in seinem neue Buch Homo empathicus. Ein Comeback der Moral, fordert er. Alexander Görlach ist Professor für Ethik und Theologie an der Leuphana Universität in Lüneburg und nun aus Bonn zugeschaltet. Guten Morgen, Herr Görlach.
Alexander Görlach: Guten Morgen, Frau Florin.
Christiane Florin: "Homo empathicus" ist der Titel, Sie wünschen sich mehr Bonum Commune – mehr Gemeinwohl. Warum so viel Latein?
Görlach: Ich habe in Worms am Rhein am humanistischen Rudi-Stephan-Gymnasium Abitur gemacht und hatte jahrelang Griechisch und Latein, und für irgendetwas muss es am Ende ja dann gut gewesen sein.
Florin: Das verliert man also nicht …
Görlach:Nein.
Portraitfoto eines Mannes in mittleren Jahren mit Brille und Bart
Dr. Dr. Alexander Görlach, Gründer und Herausgeber des Debatten-Magazins The European (The European/Lars Mensel)
Florin: … trotz oder gerade wegen der internationalen Karriere. Sie machen eine moralische Krise aus. Worin besteht die?
Görlach: Wenn wir zurückschauen auf die Finanzkrise im Jahre 2008: Da sehen wir, dass im Nachgang Barack Obama viele Arbeitsplätze in Amerika geschaffen hat, also quasi nach alter Rezeptur Gutes geleistet. Und trotzdem haben wir heute einen absoluten Gegenkandidaten als Präsidenten in den USA. Warum? Einer der Gründe mag sicher sein, dass viele Menschen im Nachgang der Finanzkrise sich unfair und ungerecht behandelt gefühlt haben. Auf der einen Seite wurden Banken mit viel Geld gerettet, aber der einfache Hausbesitzer in den USA nicht. Also ich glaube, dass die Krisen, die wir heute erleben, eine Fairness- und eine Gerechtigkeitskrise sind, die daraus resultieren, dass eben nicht mehr der Mensch im Mittelpunkt des Ökonomischen steht, sondern zum einen früher – wie man gesagt hat – der Profit und heute in der neuen Ökonomie die Daten.
Florin: Andere Publizisten diagnostizieren "Hypermoral", Moralismus, wittern Verbote allerorten. Sie sagen: zu wenig Moral. Welche Moral fehlt?
Görlach: Genau das ist immer das Problem: Moralisieren, das braucht kein Mensch, weil letztendlich das nur sozusagen die Fassade ist, sich hintendran aber nichts verändert. Mit Moral meine ich, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, dem Humanismus noch mal neu zum Sieg zu verhelfen. Wenn wir zurückschauen: Adam Smith, der bekannteste Ökonom vielleicht, "Der Wohlstand der Nationen", das war angesiedelt im Bereich der Moralphilosophie, also im Reflektieren über das Miteinander und Zueinander der Menschen. Wenn man auch im Ökonomischen – wie im Politischen – nicht um Ausgleich bemüht ist, sondern auf die Interessen der anderen schaut, kann man am Ende eben nichts erreichen, was den Menschen dient.
Staatsbürger aus Gnade
Florin: Sie berufen sich auch auf Ralph Dahrendorf, den liberalen Denker, der auch appelliert hat, dass im Mittelpunkt eines Wirtschaftssystems, eines politischen Systems der Mensch stehen muss. Nun ist das eigentlich banal. Warum ist es so schwierig durchzusetzen, dass der Mensch wirklich der Maßstab ist?
Görlach: Es geht ja nicht nur sozusagen um das Abstrakte des Menschen, sondern, wenn wir konkret schauen, dann gibt es sofort bei uns in der Nachbarschaft, in der Schulklasse oder an der Uni, am Arbeitsplatz Menschen, die wir eben nicht so gut leiden können oder die andere Interessen haben als wir, und Dahrendorf ist ein guter Stichwortgeber, weil er nochmal darüber reflektiert, was uns eigentlich als Menschen sozusagen in einer Gesellschaft ausmacht. Daran sehen wir auch in einem Atemzug, wo die Krise der Demokratie heute liegt. Dahrendorf sagt: Wir alle sind aufgrund der Geburt, also quasi ohne Verdienst – als Christen würden wir sagen aus Gnade –, Staatsbürger eines bestimmten Landes. Und diese Staatbürgerschaft verliert man eigentlich auch gar nicht, die kann man nicht verlieren, Gottseidank, aber wie drückt die sich denn aus? Und er sagt, dass auf den Menschenrechten beruhende Rechtsordnungen immer auch den Menschen bürgerliche und soziale Rechte geben. Das heißt, das Wahlrecht bringt ihnen nichts, wenn sie nicht zu beißen haben. Das heißt, in einer Gesellschaft, in einer demokratischen Gesellschaft, muss der Zugang zu Bildung, muss der Zugang zu Gesundheit für alle da sein, und darauf aufbauend kann dann jeder seines Glückes Schmied sein, wenn Sie so wollen, beziehungsweise versuchen, dass ihm Gemäße im Leben zu entdecken.
Je nachdem, wie man auf Daten schaut und was man daraus lesen mag, kann man zumindest so graduell feststellen, dass in vielen Demokratien in den letzten 25 Jahren, sagen wir mal einfach, es zumindest zu einer Disbalance gekommen ist und viele Menschen sich entweder wirklich oder auch nur gefühlt von der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen. Keine Demokratie kann überleben, wenn die Menschen, die in ihr sind, nicht an ihr partizipieren können.
Religion als Identitätsmarker
Florin: Sie haben auch Theologie studiert. Welche Bedeutung kommt den Religionen zu – im Positiven wie im Negativen?
Görlach: Religion hat verschiedene Funktionen, und das öffentliche Reden von Gott ist wiederum etwas anderes, anders einstudiert und folgt anderen Regeln als eben das private und spirituelle. Wir erleben auf der politischen Bühne eine Renaissance des Religiösen. Das Pew-Institute in Washington hat letztes Jahr eine Umfrage unter Europäern gemacht, dabei kam raus, dass 90 Prozent der Befragten getauft waren – also sich erinnern konnten, dass sie getauft sind, das ist ja schon mal etwas –, 70 Prozent sagten, dass christliche Werte in ihrem Leben eine Rolle spielen, und nur 20 Prozent haben regelmäßig den Gottesdienst besucht. Daran sieht man, dass eben das Verständnis von Religion als öffentlicher Größe, als Identitätsstifter was ganz Eigenes ist, und daneben oder nur teilweise damit verquickt eben die religiöse Praxis. Und daher kommt es, dass man sich wundert, dass so radikale Parteien wie in Ungarn oder in Polen einfach das Christentum auf die Fahne heben, dass aber in echt und gefühlt auch mit dem Christentum, das man so spirituell vor Augen hat, im Gebet oder in der Anschauung Jesu, das hat damit gar nichts zu tun, weil Religion in dieser Weise eben als Indentitätsmarker genutzt und ausgenutzt werden kann, um die gegen die anderen, uns gegen die anderen abzugrenzen und letztendlich dann auch abzuwerten. Das erleben wir ja auch bei der AfD in Deutschland: Da werden Weihnachtslieder gesungen und gleichzeitig Menschen anderer Hautfarbe und anderer Religion verteufelt. Umgekehrt das Gute: Wenn wir auf die Flüchtlingskrise 2015 schauen und was im Nachklapp passiert ist, sind vor allem die christlichen Kirchen in Deutschland, Italien und Frankreich auch – um nur einige Beispiele zu nennen – vorangegangen, haben gesagt, wir müssen auf den Mitmenschen schauen, wir müssen uns in die Schuhe der Flüchtlinge stellen, um überhaupt zu verstehen, was die Krise ausgemacht hat.
Florin: In der vergangenen Woche wurde hier in Deutschland ein Gemeinwohlatlas veröffentlicht. Dafür wird ermittelt, welchen Unternehmen und Institutionen positive Wirkung fürs Gemeinwohl zugeschrieben werden. Da war die evangelische Kirche auf Platz 19, die katholische auf Platz 102, knapp vor dem Deutschen Fußballbund, und andere Religionsgemeinschaften, etwa Judentum und Islam, tauchten gar nicht auf. Was sagt Ihnen denn das?
Görlach: Also, ich glaube, die katholische Kirche hat einfach aufgrund der gegenwärtigen Situation große Probleme, gesellschaftliche Akzeptanz …
Florin: Ja, das ist schon klar mit der katholischen Kirche, aber ich meinte, dass die anderen gar nicht auftauchen. Obwohl wir in einem multi-religiösen Land leben.
Deliberative Demokratie
Görlach: Ich kann jetzt über die Methodik dieser Umfrage nichts sagen, also die Mehrheit der Deutschen, wenn sie überhaupt noch religiös organisiert sind, sind ja in einer Kirche organisiert. Die Kirchen gehören zu den bekanntesten Institutionen des Landes. Das heißt, deswegen hat man zu denen auch eine Haltung, und wie gesagt, es gibt noch 55 – wenn ich richtig informiert bin – Millionen Kirchenmitglieder und noch mal 20 Millionen, die irgendwann mal ausgetreten sind oder was weiß ich wie viel. Das heißt also, ich nehme eher an, dass das daher resultiert, kann Ihnen das mit Gewissheit aber nicht sagen.
Florin: Ist Gemeinwohl – das ist ein wichtiges Wort in Ihrem Buch – für Sie etwas Christliches? Gemeinwohlorientierung?
Görlich: Ich glaube, dass es im Christentum ganz viele Reflexionen dazu gibt, aber ich bin mir auch sicher, dass das in anderen Religionen und vor allem auch ohne religiöses Bekenntnis funktioniert. Der Stanford-Professor James Fishkin hat das Modell einer sogenannten deliberativen Demokratie ins Leben gerufen, wenn Sie so wollen, und das in der Praxis ausprobiert. Das heißt im Prinzip, Sie haben eine Frage zu lösen, was weiß ich "Wird die Wasserversorgung privatisiert?", und dann kommen die Menschen in einem Stadtparlament zusammen, gemäß der wirklichen Verteilung in einer Gesellschaft, also Männer, Frauen, Schwarze, Weiße, Gelbe, Grüne, Juden, Christen, wie auch immer, und dann hat er festgestellt, dass die Menschen, wenn sie wirklich mit der Repräsentanz des anderen sprechen, auch in der Lage sind, Abstriche an der eigenen Position zu machen. Das heißt, für Demokratie ist auch sehr wichtig, dass die Repräsentanz stimmt, und dass man partizipieren kann. Also das zeigt eben dieses Fishkin-Modell, da eben in China genau so funktioniert hat auf lokaler Ebene wie in der Türkei oder der Mongolei oder in San Francisco. Das heißt, Sie brauchen – und das meint Empathie ja auch – eine Mischung aus Verstand und Emotion und Gefühlsleistung, und Religionen können das befördern, sie können diese empathische Grunddisposition des Menschen aber auch behindern.
Alexander Görlach: Homo empathicus. Von Sündenböcken, Populisten und der Rettung der Demokratie. Erschienen ist es im Herder 2019. 192 Seiten, 18 Euro.