"Politik ist ein schmutziges Geschäft", diese These gebe es nicht nur in der allgemeinen Öffentlichkeit, sondern auch in der Wissenschaft. "Die Theorie der schmutzigen Hände gewissermaßen, also die politische Praxis, ist eine so andere mit so anderen Kriterien und Herausforderungen zum Beispiel Macht, Konkurrenz, dass sie die üblichen moralischen Standards eben nicht zulasse, und man deswegen auch einen Fehler macht, wenn man dieselben Kategorien anlegt", sagte Julian Nida-Rümelin im Deutschlandfunk.
In den USA interessiert die Frage nach einem Seitensprung
Er betonte, "dass hier eine Verwechslung von zwei ganz unterschiedlichen Fragestellungen stattfindet". Zum einen müsse man sich fragen, ob man Politiker nach moralischen Maßstäben ihres privaten Verhaltens, ihrer Persönlichkeit beurteilen soll. Nida-Rümelin nannte das Beispiel von puritanischen Gesellschaften wie beispielsweise den USA. Dort sei diese Praxis extrem weit verbreitet. "Eine ganz wichtige Frage ist, hat es einen Seitensprung in der Vergangenheit gegeben oder nicht – für Präsidentschaftskandidaten."
Doch das gehöre da nicht hin. "Die politische Praxis ist nicht eine Praxis der Heiligen. Man bewirbt sich nicht um ein Bischofsamt, sondern es geht hier um eine ganz spezifische Tätigkeit, die aber jetzt nicht besondere Moralapostel erfordert." Der Philosoph wies aber auch darauf hin, dass die politische Praxis selbst höchst anfällig für unethisches Verhalten sei. Und zwar gerade deswegen, weil es um Macht gehe.
"Wenn ich Macht habe, dann muss ich auch darauf achten dass ich diese Macht nicht missbrauche. Und die Missbrauchsmöglichkeiten sind viel größer als im Privatleben. Deswegen sind die moralischen Ansprüche höher als in anderen Bereichen der Praxis", sagte Nida Rümelin im Dlf.
Respekt gegenüber der Verfassung reicht nicht aus
Die gesamte Rechtsordnung sei durchsetzt mit Normen und Werten. Es sei aber ein Fehler des Liberalismus zu glauben, "dass der bloße Respekt gegenüber Verfassungsnormen ausreicht". "Nein", sagte Ninda Rümelin, "es geht um Alltagsverhalten, um Zivilität. Um eine zivile Praxis des Alltags." Diese sei nicht selbstverständlich und könne auch rechtlich gar nicht erzwungen werden. Das jeweilige Gesetz mit seinen Sanktionen und die alltägliche Praxis seien aber eng aufeinander bezogen und voneinander abhängig.
Strache und das Ibiza-Video
Mit Blick auf die Ibiza-Affäre um Heinz-Christian Strache erwähnte er dessen "jahrzehntelange rechtsradikale Vergangenheit, die er ein bisschen zivilisiert hat, um eine Regierungskoalition zu erreichen und Vizekanzler zu werden."
Seine politische Gesinnung sei aber absolut authentisch: "Die ist tief in Fleisch und Blut übergegangen und deswegen hat er auch diese massiver Überzeugungskraft, die wirkt ja so stark, dass seine Anhänger ihn jetzt noch in jeder Hinsicht verteidigen - obwohl ja alles mit Füßen getreten ist, für das die FPÖ sich eingesetzt hat: keine Vetternwirtschaft, keine Korruption und so weiter."
Strache habe offensichtlich immer noch dieses Charisma. Dies hänge damit zusammen, dass er als Rechtspopulist oder rechts Nationalist gewissermaßen glaubhaft sei.
Intrinische Motivation als Antrieb
Pragmatisch betrachtet, würde das Rollenspiel nie funktionieren. "Man sieht den Leuten an, wenn sie etwas spielen". Ethisch gesehen, müsse man aber eine Motivation haben, warum man sich für etwas einsetze. Die sei ein Zerrbild der Politik. Man verdiene nicht besonders viel Geld und müsse sich fragen: "Warum gehen die Leute überhaupt diesen mühsamen Weg?" Es sei unglaublich mühsam, Plakate zu kleben, Ortsvereinsversammlungen zu besuchen und sich mit anderen zu streiten. "Die Leute müssen intrinsisch motiviert sein, um sich Politik anzutun. Man unterschätzt das, wenn man meint, die sind alle nur auf ihren persönlichen Vorteil aus."
Sucht nach Macht und Anerkennung
Nida-Rüdelin, der sich seit seinem 17. Lebensjahr politisch engagiert und selbst lange Jahre Ämter besetzt hat, beobachte in der Praxis aber auch, dass bei vielen Menschen, die Politik zu ihrem Beruf gemacht hätten und über Jahrzehnte in diesem Geschäft seien, eine Art psychische Abhängigkeit entstehe. "So wie Alkoholiker süchtig sind nach Alkohol, süchtig sind nach Zustimmung und Anerkennung und vielleicht auch nach Macht." Dies sei eine Gefährdung, die umso mehr Charakterstärke erforderlich mache. Als wesentlich für die politischen Praxis nannte er Stärke, Unerschütterlichkeit und Orientierung am Gemeinwohl. "Das ist viel wichtiger, als ob es Seitensprünge gegeben hat oder was auch immer."