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Moral ohne Anstand

Der Nationalsozialismus gilt als eine Weltanschauung ohne Moral, Auschwitz als ein Tiefpunkt menschlicher Zivilisation. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet ein verbrecherisches System wie das Nazi-Regime moralische Gefühle und Tugenden wie Ehre, Treue, Ehrlichkeit oder Kameradschaft besonders hochhielt.

Von Otto Langels |
    Das Glockenspiel der Potsdamer Garnisonskirche mit der Melodie "Üb' immer Treu' und Redlichkeit". Schon 1933 verfügte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, das Volkslied aus dem 18. Jahrhundert, in dem von der Habgier und Unehrlichkeit der bösen Juden die Rede ist, als Pausenzeichen des Reichsrundfunks zu verwenden. Ein Beispiel, wie das NS-Regime auf subtile Weise bestimmte Werte in der Bevölkerung verankern wollte. Während der Marxismus ökonomische Begriffe wie Kapital, Mehrwert oder Profit in den Vordergrund stelle, spiele im Nationalsozialismus die Moral eine große Rolle, sagt der Frankfurter Historiker Raphael Groß:

    "Im Nationalsozialismus haben Sie schon auf der ideologischen Ebene, wenn Sie sich die Reden anschauen, eigentlich alles moralische Tugenden, Kameradschaft, Treue, Ehre, das heißt es ist eine unglaubliche Moralisierung, die stattfindet. Und die bezieht sich praktisch auf alle Lebensbereiche, auf ganz banale, ob sie jetzt sozusagen ein 'deutsches' Giebeldach haben und deswegen sozusagen mitfühlen, oder einen Gartenzwerg vorne haben, bis zu ihrer intimsten Sphäre, dass man Ihnen eben vorschreibt, mit wem Sie Sex haben dürfen und mit wem nicht."

    Im Unterschied zu demokratischen Gesellschaften, in denen sich alle Bürger – zumindest dem Anspruch nach - auf moralische Werte berufen können, schließt der Nationalsozialismus bestimmte Bevölkerungsgruppen bewusst aus. Die Juden, die als Teilnehmer des Ersten Weltkriegs treu ihrem Vaterland gedient hatten und wegen ihrer Tapferkeit ausgezeichnet worden waren, verwiesen nach 1933 vergeblich auf ihre Verdienste:

    "Es ist eine gezielt partikulare Moral, eine Moral, die sich nur auf eine bestimmte Gruppe bezieht, und die davon ausgeht, dass es einmal eine Hierarchie innerhalb dieser Gruppe gibt, von Menschen, die noch moralischer sind – die SS hat sich in dieser Hinsicht damit schmücken wollen, insbesondere Himmler – und diejenigen, die außerhalb stehen, von denen man vielleicht sogar annimmt, dass sie diese moralischen Gefühle gar nicht verstehen können, da sie nicht Teil der 'arischen Volksgemeinschaft' sind."
    Allerdings hätte man als Leser schon gerne gewusst, wie diese partikulare Moral implantiert wurde und die Gefühle und Vorstellungen der sogenannten "Volksgemeinschaft" prägte. Ausführungen, wie sie etwa der Sozialpsychologe Harald Welzer in seinem viel beachteten Buch Täter gemacht hat, sucht man bei Groß vergeblich. Welzer beschreibt präzise, wie ganz normale Männer innerhalb kurzer Zeit ihre moralischen Skrupel verloren und Massenmörder wurden. Raphael Groß hingegen beschränkt sich auf allgemeine Aussagen:

    "Wir sind uns oft gar nicht so bewusst, in welcher Weise wir moralisch empört zum Beispiel reagieren und wie stark wir da konditioniert werden im Verlaufe eines Lebens. Das heißt Ideologien, ob Sie jetzt sozusagen nach 45 im Westen ein Demokrat werden oder im Osten ein Kommunist, das können sie relativ leicht sehen, wie die Leute das verändern. Aber wie sozusagen Ihre moralischen Urteile funktionieren, da sind Sie gar nicht so frei, weil Sie oftmals da viel unbewusster agieren. Insofern ist die Vorstellung, dass es da einen Apparat gibt, der das durchsteuert, falsch."
    Immerhin liefert Raphael Groß einige Hinweise, wie sich das moralische Wertesystem nach 1933 schrittweise veränderte. So verknüpften die Nationalsozialisten den Begriff der Ehre mit der Reinhaltung des Blutes. Meyers Lexikon von 1937 definierte Ehre als "Bewahrung der Rasse in leiblich-instinktiver, seelisch-gemüthafter und geistig-weltanschaulicher Beziehung". Rassenverfall bedeutete dagegen Ehrlosigkeit. Eine Verordnung zur Wiederherstellung der Ehrlichkeit beim Viehhandel verbot den Gebrauch der jüdischen Sprache. Jüdische Viehhändler waren demnach unehrlich. Der Film Jud Süss, den allein zwischen 1940 und 1943 mehr als 20 Millionen Menschen sahen, thematisierte moralische Begriffe wie Treue, Ehre, Schande und provozierte mit seinem antisemitischen Gehalt Hass und Empörung gegenüber den Juden. Und in seiner berühmt-berüchtigten Posener Rede nannte es Heinrich Himmler ein Ruhmesblatt der Geschichte, dass seine SS-Männer trotz der Massenmorde und Leichenberge in den KZs anständig geblieben seien. Die Zustimmung für Hitler und den Nationalsozialismus, die viele Deutsche auch noch im Angesicht der Niederlage äußerten, führt der Autor auf den Einfluss der NS-Moral zurück:

    "Das kann durchaus auch damit zu tun haben, dass eben in diesen zwölf Jahren doch ein gewisser 'Lerneffekt' da war, und dass es entsprechend nach 45 auch gar nicht so leicht war, diese eingeübten, geteilten moralischen Gefühle plötzlich loszuwerden."
    Mit diesem Fortwirken der nationalsozialistischen Moral ließe sich manche bis in die Gegenwart reichende und die Gemüter erhitzende Diskussion über Hitler, Auschwitz und das Dritte Reich erklären, unter anderem die Kontroverse zu Daniel Goldhagens Buch über Hitlers willige Vollstrecker, der Streit um das Berliner Holocaust-Mahnmal oder die Walser-Bubis-Debatte über Auschwitz als Moralkeule. Womöglich sind späte – unbewusste - Ausflüsse der NS-Moral im Spiel, wenn ein Bundesbankvorstand von jüdischen Genen spricht oder eine Sportmoderatorin die Gefühlslage eines Fußballspielers nach einem Torerfolg bei der Weltmeisterschaft als inneren Reichsparteitag beschreibt. Um solche Zusammenhänge belegen zu können, bedarf es aber weiterer Analysen:

    "Wir brauchen ein sehr starkes ethisches, philosophisches Grundgerüst. Da habe ich einen Anfang gemacht in dem Buch, aber da muss noch sehr viel mehr gemacht werden. Da könnte man auch psychoanalytische Methodik heranziehen, Psychologen können sich damit beschäftigen. Insofern ist da zunächst nur ein erstes Gerüst von mir erarbeitet worden."
    Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich in der Tat nur um ein Gerüst. Die Darstellung leidet darunter, dass keine stringente Abhandlung vorliegt, sondern eine Textsammlung. Die Mehrzahl der Kapitel wurde bereits an anderer Stelle veröffentlicht. So bietet Raphael Groß mit seinem Buch in erster Linie eine Fülle interessanter Anregungen, weitere Studien zu einem bisher kaum erforschten, aber wichtigen Thema durchzuführen.

    Otto Langels über Raphael Groß: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. Erschienen bei S. Fischer, 277 Seiten für 19,95 Euro, ISBN 978-3-10-028713-7.