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Moral und das Recht des Stärkeren

Vor 150 Jahren veröffentlichte Charles Darwin sein Bahn brechendes Werk "Über die Entstehung der Arten" und schuf damit die Evolutionstheorie. Sie ist wissenschaftlich anerkannt und gültig bis heute, und doch missverstanden wie kaum eine zweite Theorie.

Von Peter Leusch |
    8. Oktober 1835. Wir langten auf James Island an, im Galapagos-Archipel. An Landvögeln sammelte ich 25 Arten darunter eine ganz eigentümliche Gruppe Finken. Das Merkwürdigste ist die vollkommene Abstufung der Schnabelgröße bei den verschiedenen Arten, von einem, der groß ist wie der des Kernbeißers, bis zu dem des Buchfinken und selbst der Grasmücke. Wenn man diese Abstufung und strukturelle Vielfalt bei einer kleinen eng verwandten Vogelgruppe sieht, möchte man glauben, dass von einer ursprünglich geringen Zahl an Vögeln auf diesem Archipel eine Art ausgewählt und für verschiedene Zwecke modifiziert wurde.
    In seinem Reisetagebuch notierte sich der junge Charles Darwin, als Forschungsreisender auf dem britischen Vermessungsschiff Beagle, seine Eindrücke und Gedanken. Darwin stutzte über der Vielfalt der Finken auf dieser ursprünglich vogelarmen Inselgruppe, 1000 km westlich von Ecuador, weit abgelegen im Pazifik.

    Hatte es vielleicht zunächst eine einzige Finkenart auf diese Inseln verschlagen, die sich dann langsam auseinander entwickelte, so dass nun der Schnabel jeder Art an eine spezielle Nahrungsnische angepasst war?

    Ein Gedanke, so revolutionär, dass Darwin selbst ihn kaum zu Ende zu denken wagte: die Idee der Evolution.

    "Als Darwin diese Weltreise machte, den südamerikanischen Kontinent, die Galapagos-Inseln kennen lernte und da sehr viele Naturbeobachtungen gemacht hat, ist er so allmählich auf die Idee gekommen, insbesondere als seine Funde ausgewertet wurden nach seiner Rückkehr nach England, dass Arten wandelbar sein könnten, dass sie also nicht ein für alle Mal am Anfang der Schöpfung von Gott geschaffen worden seien, jede für sich, wie es so in der Bibel steht, sondern dass die Arten sich durch Artenwandel auseinander entwickelt haben."
    Eve-Marie Engels, Professorin für Ethik in den Biowissenschaften an der Universität Tübingen hat eine neue Einführung in das Werk von Charles Darwin verfasst. Eine der vielen aktuellen Annäherungen an Charles Darwin, dessen Evolutionstheorie zwar wissenschaftlich bewiesen ist, aber weltanschaulich umstritten bleibt. Denn ihr zufolge ist der Mensch nicht länger Krone der Schöpfung, sondern teilt sich mit den Tieren eine gemeinsame Ahnenreihe.

    Darwins Theorie, die er an den Finken und später an anderen Arten entwickelte, revolutionierte nicht nur die Biologie, sie stürzte ein ganzes Weltbild um.

    Charles Darwin wurde heute vor 200 Jahren, am 12. Februar 1809, im englischen Shrewsbury geboren. Er stammte aus einem liberalen Elternhaus, das der Naturforschung aufgeschlossen gegenüber stand.

    "Darwins Mutter war eine Unitarierin, eine sehr fromme Frau, der Vater war Mediziner, sehr beliebt, hat arme Patienten unentgeltlich behandelt. Darwin ist in dieser sehr aufgeklärten Familientradition groß geworden, man war dort bereits gegen die Sklaverei, für die amerikanische Unabhängigkeit, für die französische Revolution, man stand auf der Seite der Liberalen."
    Landpfarrer hatte Darwin ursprünglich werden wollen und sich nebenher intensiv mit dem Studium der Natur beschäftigen. Aber dann kam die Weltreise mit der Beagle, die sein Leben veränderte.

    Julia Voss, die ebenfalls ein neues Buch zu Darwin geschrieben hat, hebt die radikalen Wendungen in seinem Leben hervor:

    "Er umreist, umsegelt als junger Mann die Welt, fünf Jahre lang, zwischen 1831 und 1836, kommt dann wieder und rührt sich eigentlich nicht mehr vom Fleck. Also er wird England nie wieder verlassen, er zieht ein paar Jahre später nach Downe in der Grafschaft Kent, das ist damals eine Zugstunde entfernt gewesen und bleibt dann an einem Ort und ist sesshaft und forscht."
    Bei seiner Rückkehr hatte Darwin über 1500 in Spiritus konservierte Arten und fast 4000 Felle, Häute und Knochen mitgebracht. Er wurde bei Institutionen vorstellig, bei der Geologischen und der Zoologischen Gesellschaft, beim British Museum und lud Spezialisten ein, seine Funde zu analysieren. Fortan führte er einen intensiven Schriftwechsel, der auf über 14.000 Briefe anwuchs. Und Darwin wurde sehr schnell berühmt.

    Er zog sich aufs Land zurück, heiratete, widmete sich seinen Studien, publizierte auch wissenschaftlich, nur das Entscheidende, die neue Theorie vom Artenwandel, hielt er über zwei Jahrzehnte lang zurück.

    Julia Voss sieht vor allem zwei Gründe:

    "Zum einen war er ein unglaublich sorgfältiger Forscher, das heißt bis er etwas als abgesichert betrachtet hat, mussten zig Experimente gemacht, zig Belegbeispiele gefunden werden, er hat mit unglaublicher Sorgfalt über zwei Jahrzehnte Fallbeispiele gesammelt, er hat sich selbst einmal als "Millionär der kleinen Tatsachen" bezeichnet, und das war er wirklich. Das andere ist, dass er tatsächlich sehr konfliktscheu war, er wusste, wenn er mit dieser Theorie an die Öffentlichkeit tritt, wird es eine starke Reaktion auslösen und das ist etwas womit er nicht gut zurechtgekommen ist: dem ins Auge zu sehen."
    Erst als ihm 1859 ein anderer Forscher, Alfred Russel Wallace, der auf anderen Wegen zu einer ähnlichen Theorie gelangt war, zuvor zu kommen drohte, ging Darwin mit seinem Werk "Über Die Entstehung der Arten" an die Öffentlichkeit.

    Nie gleicht ein Individuum dem anderen, von dieser Beobachtung ging Darwin aus. Dann aber ist entscheidend, welches Lebewesen besonders gut an seine Umwelt angepasst ist und seine spezifischen Eigenschaften erfolgreich fortpflanzt, so dass sich daraus allmählich eine eigene Art herausbildet. Neue Arten entstehen, während andere untergehen in diesem Ringen um die Existenz, im struggle for life wie es bei Darwin heißt.

    Ich gebrauche diesen Ausdruck struggle for life in einem weiten und metaphorischen Sinn, unter dem sowohl die Abhängigkeit der Wesen voneinander, als auch, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch der Erfolg in Bezug auf das Hinterlassen von Nachkommenschaft einbegriffen wird. Man kann mit Recht sagen, dass zwei hundeartige Raubtiere in Zeiten des Mangels um Nahrung und Leben kämpfen. Aber man kann auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste um ihr Dasein gegen die Trockenheit.
    Darwin bemühte sich seinen Kernbegriff zu präzisieren. Vergeblich. So schnell, so epidemisch, wie sich das Wort verbreitete, so missverstanden wurde es von vielen, und zwar bis hinein in unsere Gegenwart. Denn angekommen beim Publikum war das Zerrbild von der Natur als einer Gladiatorenarena, in der die Tiere gegeneinander antreten und das stärkste am Ende triumphiert.

    "Im Deutschen ist die Situation auch noch dadurch verschärft, als dieser Ausdruck struggle vor existence, - im Englischen ist struggle ein "Sich-durchschlagen" - übersetzt worden ist mit Kampf ums Dasein, das heißt aus dem struggle wurde ein Kampf gemacht, und diese Metapher suggeriert, dass es so einen Kriegszustand in der Natur gibt, wo dauernd irgendwelche Organismen gegeneinander antreten, dieser Begriff hat im Deutschland des 19. Jahrhunderts sofort Karriere gemacht, der ist zum geflügelten Wort geworden, dass Darwin gesagt hätte, dass sich der Stärkere durchsetzt und dass es so etwas wie ein Naturrecht gebe."
    Im Ringen um die Existenz, wie man struggle for existence oder struggle for life treffender übersetzt, kann der buchstäbliche Kampf gemeint sein, aber ebenso umfasst der Begriff die Abhängigkeit der Lebewesen von ihrer Umwelt und auch, dass die Artgenossen aufeinander angewiesen sind, was zu Kooperation und gegenseitiger Unterstützung führt. Das ist vor allem für die Entwicklung der menschlichen Spezies wichtig.
    Vom Menschen ist freilich in Darwins erstem Hauptwerk Über die Entstehung der Arten noch gar nicht die Rede. Lediglich am Schluss des Buches heißt es in einer Anspielung "Licht wird auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte fallen".

    Aber allen Lesern war klar: Wer sich auf die wissenschaftliche Evolutionstheorie und nicht auf den Bibelglauben verlässt, der muss sich mit dem Gedanken versöhnen, dass der Mensch aus dem Tierreich hervorgegangen ist.

    Eve-Marie Engels:

    "Denn Darwin wird nicht müde zu sagen: Es gibt nur einen graduellen Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen und anderen Tieren. Nun ist es aber so, dass er in Bezug auf die Moralfähigkeit des Menschen eine Sonderstellung annimmt, weil er sagt, der Mensch ist das einzige Lebewesen, das moralfähig ist, das einen moralischen Sinn ausgebildet hat. Darwin geht davon aus, dass im Laufe der Entwicklung des Menschen die Instinkte reduziert wurden, gleichzeitig ist das Gehirn gewachsen, die kognitiven Fähigkeiten, in Wechselwirkung auch mit der Entwicklung des Aufrechten Gangs, der Entstehung der Hand und ähnlichen morphologischen Bildungen - Darwin nimmt an, dass der Mensch durch sein kognitives Vermögen das dominanteste Tier auf der Erde geworden ist."
    Die Charakteristika des Menschen, der sich mit seinem Verstand zum Herrn der Erde aufgeschwungen hat, versteht man. Aber dass Darwin ausgerechnet den moralischen Sinn, das Gewissen, das zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann, als menschliches Wesensmerkmal ansieht, befremdet zunächst.

    Was hat Moral in einer Evolutionstheorie zu suchen? Hilft denn die Moral im survival of the Fittest, beim Überleben der am besten Angepassten?

    In seinem Spätwerk "Die Abstammung des Menschen" diskutiert Darwin deshalb die Frage, wie wir uns den Urahn des Menschen vorstellen könnten - und er geht zum Vergleich die verschiedenen Affenarten durch.

    Ein Tier, welches bedeutende Größe, Kraft und Wildheit besitzt und wie der Gorilla sich gegen alle Feinde verteidigen kann, (wird) wahrscheinlich nicht sozial geworden sein, und dies würde ... die Entwicklung jener höheren Eigenschaften beim Menschen, wie Sympathie und Liebe zu seinen Mitgeschöpfen gehemmt haben. Es dürfte daher von einem unendlichen Vorteil für den Menschen gewesen sein, von irgendeiner verhältnismäßig schwachen Form abgestammt zu sein.
    Der Mensch ist ein soziales Tier. Gerade weil er von Natur aus schwach ist. Er braucht er mehr als viele andere Lebewesen die Zuwendung der Eltern, den Schutz der Gruppe um zu überleben. Dabei hilft die moralische Orientierung im Denken und Handeln, sie kompensiert die Schwächen und wird dabei selbst zu einer Stärke.

    Evolutionstheoretisch gesprochen: Moral ist die Weiterentwicklung der sozialen Instinkte, die das Überleben in der Gruppe sichern.

    "Darwin ist davon ausgegangen, dass es soziale Instinkte schon im nicht-menschlichen Tierreich gibt - wenn sich eben Eltern nicht um ihre Jungen kümmern würden, um die unmittelbaren Stammesgenossen usw. , dann könnten die Individuen gar nicht existieren, eine Existenz ist nur möglich, indem man sich gegenseitig unterstützt und hilft.
    Das ist wiederum dadurch möglich, dass man wechselseitig sympathy, Wohlwollen, Mitgefühl entwickelt, - dieses äußert sich in wechselseitigen Hilfeleistungen, - das ist die Wurzel dafür, dass sich beim Menschen überhaupt soziale Tugenden entwickeln konnten, dass wir uns gegenseitig unterstützen, - und diese Art von wechselseitiger Hilfe ist durchaus vereinbar und gar nicht im Gegensatz zum Konzept des struggle for life, weil wir dieses Ringen um die Existenz häufig nur bestehen können, indem wir uns wechselseitig unterstützen."
    Die meisten Zeitgenossen haben die Evolutionslehre als eine Degradierung des Menschen betrachtet, erlebten sie als narzisstische Kränkung. In Darwins Perspektive handelte es sich weit mehr um eine Aufwertung der Tiere. Ja, der Mensch hat eine animalische, aber die Tiere haben auch eine menschliche Seite. Sie sind entwickelter als man denkt. Darwin, der ein guter Beobachter und großer Tierfreund war, lehrte das, aber er konnte es zu seiner Zeit nicht wissenschaftlich beweisen, so Thomas Junker, Professor für Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Tübingen.

    "Ich denke, dass man es völlig unterschätzt, wie komplex die sozialen Beziehungen zum Beispiel in einer Schimpansengruppe sind, auch die Wissenschaft selbst hat es unterschätzt und erst in den letzten 20 Jahren sind da genauere Studien gemacht worden, das ist deswegen so schwer zu erkennen, weil sie sich mit Signalen verständigen, die wir intuitiv nicht verstehen: Was man beobachten kann, ist: Wer wen grüßt - da ist eine Hierarchie, wer auf wen zugeht, wenn sich zwei streiten. Wer zuerst den Schritt zur Versöhnung tut, wer das nicht tut, ein ganz wichtiger Punkt, für mich überraschend, ist, dass sehr erbitterte Rangkämpfe stattfinden, vor allem zwischen den Männchen, dass aber jedes Mal nach den Kämpfen intensive Versöhnungssituationen stattfinden, wo sie sich kraulen, also das wesentliche Mittel sich zu versöhnen bei den Schimpansen ist das Grooming, diese Fellpflege, es sieht so aus als würden sie sich lausen, so eine Art Streicheln, das gibt es ganz intensiv danach."
    Darwin hat in den meisten Punkten bis heute recht behalten. Schon zu seinen Lebzeiten war er hochberühmt. Als er 1882 im Alter von 73 Jahren starb, wurden ihm höchste Ehren zu teil. Er wurde in Westminster Abbey beigesetzt, da wo auch der andere Revolutionär eines Weltbildes, der Physiker Isaac Newton seine letzte Ruhestätte hat.
    Der Aufstieg der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Biologie im besonderen, führte aber auch zu einem Spektrum von Weltanschauungen, die sich bei Darwin bedienten. Der so genannte Sozialdarwinismus war eine von ihnen.
    Darwin, der Rassismus ablehnte und die Sklaverei kritisierte, musste erleben, wie seine Evolutionstheorie sich von den Naturwissenschaften löste und von anderen, auch von befreundeten Denkern auf Gesellschaft und Politik angewendet wurde.
    Der berühmte Begriff survival of the fittest, stammte gar nicht von Darwin selber, sondern von dem englischen Sozialphilosophen Herbert Spencer. Darwin lehrte, dass die am besten Angepassten überleben, einfach weil sie länger leben und sich stärker fortpflanzen. Spencer dagegen machte aus dem Überleben der Tauglichsten ein Recht des Stärkeren. So wird ein empirisch belegtes Faktum zu einer ethischen Norm erhoben.
    Den Sozialdarwinisten in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen ist gemeinsam, dass sie sich aus der Natur die ihnen genehmen Prinzipien herauslesen - und diese dann auf Kultur und Gesellschaft übertragen. Auf diese Weise rechtfertigt der Sozialdarwinismus soziale Ungerechtigkeit und kapitalistische Ausbeutung genauso wie Eroberungskriege.
    Und Darwins Name wurde mit einer Ideologie verbunden, mit der er nichts zu tun hat.
    Eve-Marie Engels:

    "Sozialdarwinismus im engeren Sinne bedeutet ja, ein Plädoyer für die rücksichtslose Durchsetzung des Rechts des Stärkeren, das geht sicherlich nicht auf Darwin zurück dieser Gedanke - Darwin hat nicht dafür plädiert, er hat auch keine sozialpolitischen Programme dieser Art aufgestellt, aber er hat durch seine Terminologie "natural selection", struggle für life - es anderen, die ihn instrumentalisieren wollten und nach einer naturwissenschaftlichen Theorie für die Gestaltung der Politik suchten, relativ leicht gemacht - er hat es bereut, dass er diese Begriffe überhaupt verwendet hat, das hat er explizit gesagt, und er hat in einem Gespräch, in einem Brief mit einem Deutschen namens Wilhelm Preyer auch geschrieben: "Ich glaube, ihr Deutschen versteht unter dem Begriff "Kampf ums Dasein" etwas anderes als das, was ich unter struggle for Life meine.""
    Nämlich, das Ringen um die Existenz mit allen Mitteln, zu denen auch Kooperation und gegenseitige Hilfe gehören.