Stephanie Rohde: Alle beteiligten Seiten sollten wissen, dass sie zur Verantwortung gezogen werden, das hat der UN-Menschenrechtskommissar gestern gesagt mit Blick auf die Bombenangriffe der syrischen und russischen Luftwaffe gegen den Ostteil von Aleppo. Auch die Politiker beim EU-Gipfel gestern in Brüssel schienen sich einig zu sein in ihrer Schlusserklärung, dass die Verantwortung – Zitat – dem syrischen Regime und seinen Verbündeten, insbesondere Russland zugeschrieben werden muss. In der vergangenen Woche war viel die Rede von dieser Verantwortung, wenn es um den Krieg in Syrien geht. Und es ist nicht nur Verantwortung im Sinne von Schuld, sondern auch in dem Sinne, dass die internationale Diplomatie eine Verantwortung und Pflicht hat, das Leiden in Syrien zu stoppen. Was aber passiert, wenn in einem solch komplexen Konflikt jede Partei die Verantwortung beim anderen sieht? Darüber will ich jetzt reden mit Stefan Gosepath, er ist Professor für praktische Philosophie an der FU Berlin, guten Morgen!
Stefan Gosepath: Einen wunderschönen guten Morgen!
Rohde: Ich würde gern im Kleinen anfangen, bevor wir dann auf die große Politik schauen: Welche Verantwortung trage ich für das Sterben in Syrien, trägt jeder für das Sterben in Syrien?
Gosepath: Jetzt werde ich darauf mit Ja antworten, aber das wird erst mal überraschen, was habe ich denn mit Syrien zu tun.
Rohde: Ja.
Gosepath: Und die Verantwortung ist indirekt, nämlich diejenige, dass ich dafür verantwortlich bin, zusammen mit allen anderen die Übel in dieser Welt zu beseitigen. Das klingt nach einer massiven Überforderung, andererseits ist es aber so, dass genau der Zustand nicht eintreten soll, dass man nämlich sagt, es gibt keinen direkt Schuldigen, keinen, der direkt kausal verantwortlich dafür ist, dass ein Übel hervorgebracht ist, oder wir können denjenigen nicht finden oder dessen nicht habhaft werden. Und dann bleibt das Übel in der Welt und wird irgendwie nicht beseitigt und die Leute leiden. Und dann tritt eben indirekt die Verantwortung eines jeden ein zu helfen. Wie beim Autounfall: Eigentlich würde man sagen, wenn man zu einem Autounfall kommt, dann sind diejenigen, die den Autounfall verursacht haben, dafür verantwortlich, auch die Folgen zu beseitigen, aber wir wissen, in den konkreten Notsituationen ist das nicht so, deshalb ist jeder andere, der gerade an die Unfallstelle kommt, auch verantwortlich zu helfen, Erste Hilfe zu leisten.
"Unsere Verantwortung ist, die Strukturen zu schaffen"
Rohde: Aber wenn wir jetzt in dem Bild bleiben, bin ich dann an der Unfallstelle, wenn ich mir Bilder angucke von Syrien? Oder bin ich viel zu weit weg und kann mich entziehen?
Gosepath: Ja, das ist natürlich in diesen modernen globalisierten Zeiten, wie wir sagen, nicht mehr so relevant, Nähe und Ferne, weil ich ja auch mit … Ich muss nicht selber meine Hand nehmen, um zu helfen, sondern ich tue das, indem ich zum Beispiel jetzt – um wieder bei dem Unfallbeispiel zu bleiben – eine Feuerwehr installiere, die das dann für mich macht, oder ich wenigstens am Anfang die Feuerwehr rufen kann und die hilft dann. Und das ist doch in diesen Situationen jetzt des Übels häufig genau dasselbe, wir müssen eigentlich internationale Organisationen haben, die effektiv in der Lage sind, hier einzugreifen. Ich selber als Einzelperson könnte ja in ein Kriegsgebiet wahrscheinlich überhaupt nicht sinnvoll eingreifen, und auch wenn wir zu Massen dort einwandern würden, könnten wir nicht helfen. Insofern ist unsere Verantwortung die, Strukturen zu schaffen – wir haben ja schon einige, darüber werden wir wahrscheinlich gleich noch mal reden –, aber Strukturen zu schaffen, aufrechtzuerhalten und die dann zu beauftragen, in diesen Notsituationen für uns einzugreifen. Und wir müssen unseren Anteil finanziell und sonstiger Art dazu beitragen.
Rohde: Das heißt, wir haben unsere Verantwortung ein Stück weit outgesourct, wir sorgen dann über diese Institutionen dafür, dass das Notwendige und Richtige getan wird, eben kein Schaden entsteht, dass es auch eine Verpflichtung gibt, für seine Handlungen einzustehen. Wenn wir jetzt noch mal zurückkommen auf Syrien, beides passiert ja gerade nicht in ausreichendem Maße im Syrien-Konflikt. Also kann man sagen, dass die Menschen in Syrien Opfer von massiver Verantwortungslosigkeit sind?
Gosepath: Also, ein Wort noch mal zu dem outgesourct, das klingt so negativ, als ob ich mich der Sache entledigt hätte in einem negativen Sinne. Aber ich glaube, das ist gerade die effektive Art vorzugehen. Das kann man am Einrichten von Feuerwehr und Polizei und Erste Hilfe sehen, ich kann selber diese Taten gar nicht selber gut genug vollbringen, sodass es richtig ist outzusourcen in dem Sinne, Arbeitsteilung ist sinnvoll. Und jetzt auf Ihre Frage eingehend merkt man natürlich, was ist genau, wenn diese Institutionen selber nicht mehr Hilfe leisten können? Dann fällt die Verantwortung wieder auf uns zurück. Und das ist ja so, wir haben ja eigentlich internationale Organisationen, die da zum Beispiel jetzt für den Weltfrieden eigentlich zuständig sind, der UN-Sicherheitsrat. Der UN-Sicherheitsrat ist blockiert durch das Veto Russlands und kann dadurch jetzt nicht notwendige Maßnahmen beschließen und durchsetzen, um zum Beispiel eben jetzt diese Bürgerkriegssituation in Syrien zu beseitigen. Und von der Verantwortung her würde das jetzt wieder bedeuten, die Verantwortung fällt auf uns Einzelne zurück. Und nach dem, was ich vorhin gesagt habe, würde es wieder bedeuten, wir müssen jetzt eigentlich über unsere politischen Regierungen darauf hinwirken, dass die Institutionen wie der UN-Sicherheitsrat hier jetzt besser funktionieren. Denn alleine kann ich den Bürgerkrieg in Syrien ja nicht stoppen.
"Was können wir gemeinsam dazu tun, um das Land aufzubauen?"
Rohde: Wenn wir uns jetzt diese Regierungen anschauen, zum Beispiel die Politiker, übernehmen die, die jetzt Putin empfangen haben in dieser Woche, ihm andererseits dann aber Kriegsverbrechen attestieren, übernehmen die Verantwortung oder entledigen die sich ihrer eigenen Verantwortung? Also, anders gefragt: Haben sie einen Verantwortlichen gefunden, um sich selbst vielleicht aus der Verantwortung zu stehlen?
Gosepath: Ja, da unterscheidet man doch vielleicht sinnvollerweise zwischen rückwärtsgewandter Verantwortung und vorwärtsgewandter Verantwortung. Rückwärts gewandte Verantwortung ist die Frage: Wer hat eigentlich Schuld, also, wer hat das Übel in die Welt gebracht? Und ein Stück weit ist das sicherlich Putin, indem er jetzt Kriegsverbrechen in Syrien vollbringen lässt. Aber jetzt gilt die nächste Frage vorwärts geschaut: Wer ist für die Beseitigung dieser Übel zuständig? Solange wir Putin dafür nicht zur Rechenschaft ziehen können, fällt diese Verantwortung dann doch wieder auf andere. Das ist genau der Fall, den ich eben vorhin schon geschildert habe, wenn wir eben jemanden nicht zur Rechenschaft ziehen können, wenn wir ihn nicht dazu zwingen können. Und Putin können wir im Moment nicht zwingen und deshalb ist es wahrscheinlich geschickt und sinnvoll – das hat man ja in anderen Situationen in Südafrika und so weiter auch versucht –, jetzt nicht einfach immer nur zu sagen, du bist schuld und wir wollen dich mit strafrechtlichen Maßnahmen verfolgen, weil dann ein Aufbau eines Landes gar nicht in Gange kommt. Sondern dann ist es manchmal sinnvoller zu sagen, okay, wir stellen die Schuldfrage hintenan und fragen uns jetzt, was können wir gemeinsam dazu tun, um das Land aufzubauen. Es ist eine andere Frage, ob Putin überhaupt bereit ist, auf diesen zweiten Dialog – was machen wir gemeinsam, um jetzt den Bürgerkrieg zu stoppen – einzugehen. Und deshalb ist das glaube ich im Moment einfach eine Verhandlungsfrage: Kann man genug diplomatischen Druck erzeugen, um Putin jetzt wenigstens nach dem Bombardement dazu zu bringen, eine sinnvolle Lösung für Syrien zu finden?
"Man kann Verantwortung verteilen"
Rohde: Verantwortung hat ja in der Philosophie bis vor 200 Jahren keine wirklich bedeutende Rolle gespielt. Ist dieser Aufschwung des Prinzips Verantwortung, dass wir ständig jetzt über Verantwortung sprechen im Politischen, vielleicht nicht die Lösung, sondern Symptom einer moralischen Krise?
Gosepath: Nein, das würde ich nicht sagen, nicht einer Krise, sondern ich glaube, der Verantwortungsbegriff, der ja ein Stück weit deckungsgleich ist im Deutschen zum Beispiel mit dem Begriff der Pflicht … Und dann muss man jetzt eben sagen, vielleicht haben wir das Wort früher nicht benutzt, also unsere Vorvorgänger, sondern ein anderes Wort dafür, haben aber das Gleiche gemeint und insofern gibt es das schon lange. Aber mit Verantwortung kann man jetzt eben feinere Unterscheidungen machen und vor allem kann man – nämlich die der vorwärts gerichteten zum Beispiel und der rückwärts gerichteten, das ist sinnvoll –, aber vor allem kann man von etwas sprechen, nämlich von kollektiver Verantwortung, und kann versuchen zu verstehen, wie in einem Kollektiv, der Weltgemeinschaft oder so etwas – zum Beispiel in diesem Fall wie Syrien –, wie da die unterschiedlichen Anteile an Verantwortung verteilt werden. Also, man kann Verantwortung verteilen. Kann man wahrscheinlich mit Pflicht auch, aber es lässt sich sprachlich einfacher mit Verantwortung fassen. Und deshalb hat der, glaube ich, diese moderne Karriere begonnen.
Rohde: Sagt Stefan Gosepath, er ist Professor für praktische Philosophie an der FU Berlin. Vielen Dank für dieses Gespräch!
Gosepath: Dankeschön!
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