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Mordfall Ohnesorg
Die Rolle der Stasi im Kurras-Komplex

Der DDR-Spion Karl-Heinz Kurras schoss 1967 tödlich auf den Studenten Benno Ohnesorg, wurde danach jedoch freigesprochen. Kurras‘ Identität wurde erst 2009 aufgedeckt, lange nachdem der Fall bundesweite Proteste der westdeutschen Studentenbewegung auslöste.

Von Norbert Seitz |
Das SED-Mitgliedsbuch des West-Berliner Polizisten Karl-Heinz Kurras, der während des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, aufgenommen am 28.05.2009 in Berlin in der Stasi-Unterlagenbehörde.
Das Outing von Karl-Heinz Kurras als Ostagent löste 2009 einen großen Wirbel aus (dpa / picture alliance / Hannibal Hanschke)
"Das ist für uns ein besonders wichtiges Ausstellungsobjekt, weil Kurras hat eben auch deutsch-deutsche Geschichte geschrieben. Und dieser Fall birgt nicht nur Sprengstoff, er hat eben auch eine große Erzählkraft, wo wir dann nochmals mit der Kurras-Ausstellung - auch mit der Behörde zusammen - den Fall aufarbeiten wollen. Und das hat ja eingeschlagen und hat ja verheerende Konsequenzen in der deutsch-deutschen Geschichte gehabt, also nicht nur mit der Radikalisierung der Studentenbewegung, sondern das war ja letztendlich auch für die Staatssicherheit eine ganz dicke Nummer", sagt Franz-Michael Günther, der Gründer und Kurator des Deutschen Spionage-Museums. Er verweist dabei auf jene 17 Bände, die zwei Mitarbeiter des Stasiunterlagenarchivs 2009 per Zufall in der sogenannten "Geheimen Ablage" entdeckten. 5.000 Blatt über den Topagenten Karl-Heinz Kurras in der West-Berliner Polizei der Jahre zwischen 1955 und 1967. Nach der Erschießung Benno Ohnesorgs wurde die Personenkartei für Kurras entfernt, sodass es lange Zeit unmöglich war, seine Akte zu finden.
Der Westberliner Polizist als Spitzenquelle des MfS
Doch was gibt die Kurras-Akte her? Welche Informationen hat er weitergetragen? Und welche Relevanz hatten sie für seine Auftraggeber in der DDR? Daniela Münkel vom Stasiunterlagenarchiv schildert den Westberliner Karriereweg des äußerst fleißigen Spions vom Zugführer eines Einsatzkommandos der Schutzpolizei über den Wechsel zur Kriminalpolizei bis zum nächsten Karriereschritt 1965, der ihn vollends zur "Spitzenquelle" für das MfS in Ostberlin machen sollte:
"Da wechselt er in die Abteilung Eins der Berliner Polizei. Das ist die politische Polizei gewesen, die unter anderem auch dafür zuständig war, die Westberliner Polizei vor der Infiltrierung durch Ostagenten zu schützen und zu beobachten, was das Ministerium für Staatssicherheit für Aktivitäten in der Westberliner Polizei entfaltet."
Damit wurde gleichsam der Bock zum Gärtner gemacht, denn Kurras informierte darüber, was die Westberliner Polizei über die Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit wusste und ob irgendeiner seiner Agenten gefährdet war. Daniela Münkel:
"Darüber hinaus liefert er Pläne über die Struktur dieser Abteilung, Informationen über die Mitarbeiter, welche Einstellungen die hatten, wie sie sich verhielten. Und dieser Karriereplan, den das MfS für Kurras aufgestellt hat, geht also auf."
Kein Mordauftrag aus Ostberlin
Das sensationelle Outing des Karl-Heinz Kurras als langjähriger, guthonorierter Ost-Spion löste 2009 einen verschwörungsideologischen Wirbel aus. Es wurde wild spekuliert, ob denn die Staatssicherheit hinter dem Mord an Benno Ohnesorg gestanden haben könnte, um die Studentenrevolte eskalieren zu lassen und damit Unruhe in der verhassten Bundesrepublik zu stiften. Daniela Münkel:
"Damals 2009 ist das so kommuniziert worden, dass Restzweifel blieben. Wenn man sich aber die Akte genau angeguckt hätte oder das richtig wiedergegeben hätte, wären diese Restzweifel nie aufgekommen."
So verfasste der Führungsoffizier von Kurras unmittelbar nach dem gewaltsamen Tod des Studenten einen Auskunftsbericht. In der Ergänzung dazu heißt es, dass er völlig perplex sei, wie die Untat nahe der Deutschen Oper passieren konnte. Daniela Münkel zitiert aus dem Bericht:
"Es ist zurzeit noch schwer zu verstehen, wie dieser GM, Geheime Mitarbeiter, eine solche Handlung, auch wenn im Affekt oder durch Fahrlässigkeit hervorgerufen, begehen konnte, da sie doch ein Verbrechen darstellt. Der GM ist sehr verliebt in Waffen und hat einen übermäßigen Hang zum Uniformtragen und für den Polizeidienst."
Jäher Abbruch der Spitzeltätigkeit
Nach der Erschießung Benno Ohnesorgs erging die Anweisung des MfS an Kurras, alles Material zu vernichten und die Spitzeltätigkeit einzustellen. Die Verbindung wurde jäh abgebrochen, denn als öffentlich gebrandmarkter Polizist hatte er für die DDR keinen Nutzen mehr. Sven Felix Kellerhoff, Historiker und Autor über den Kurras-Komplex, malt sich aus, was anders hätte verlaufen können, wenn Kurras unmittelbar nach seiner Tat 1967 enttarnt worden wäre:
"Wenn Kurras am Tag nach der Erschießung geoutet worden wäre, wäre sicherlich die Kameradschaft, die ihn geschützt hat bei der Westberliner Polizei, ausgefallen. Und er wäre sicherlich nicht von der Kameradschaft aus dem Prozess gerettet worden. Denn das ist ja passiert. Eine Frau eines Polizisten hat eine offensichtlich falsche Aussage zu seinen Gunsten gemacht, auf deren Grundlage der Richter dann nicht anders konnte als aus Mangel an Beweisen, den Notwehrcharakter widerlegen zu können, ihn freizusprechen. Wenn es tatsächlich wenige Tage später bekannt geworden wäre, wäre viel des Empörungspotenzials verpufft."
Bedeutung des Mordfalls
2009 wurde aber nicht nur über eine mögliche Verwicklung des MfS in die Mordtat gestritten. Man diskutierte auch darüber, ob die Geschichte von 1968 doch noch umgeschrieben werden müsse. Dagegen stemmten sich aber Veteranen der Bewegung, die sich gern ihren antiautoritären Reim auf Kurras machten, wonach die damalige Westberliner Polizei und die Stasi mental aus dem gleichen repressiven Holz geschnitzt gewesen seien. Der Historiker Kellerhoff:
"Unmittelbar nach der Sensation ging es zunächst hoch her und man fragte, welche Bedeutung hatte denn dieser Fall eigentlich? Dann begannen einige Vorkämpfer der Linken, zum Beispiel Oskar Negt und andere, zu sagen, so wichtig war ja der Mord an Benno Ohnesorg eigentlich gar nicht. Bis zum Zeitpunkt der Enthüllung haben sie eigentlich immer gesagt, es gab kein wichtigeres Ereignis für die Studentenbewegung. Und plötzlich als dann klar war, dass ein Stasimann der Täter war und nicht ein faschistoider Westberliner Polizist, sollte das keine Bedeutung mehr haben? Das war nicht schlüssig", weshalb Sven Felix Kellerhoff auch dafür plädiert, diesen Teil der bundesrepublikanischen Geschichte - von der APO bis zur RAF – umzuschreiben:
"Ich finde schon, dass man die Geschichte von 1967/68 im Lichte der Kurras-Enthüllung neu bewerten muss. Der Einfluss aus Ostberlin war sehr viel größer als es zumindest im Bewusstsein der Veteranen von 1968 verankert ist. Aber mit der Kurras-Enthüllung ist es belegt."
Der enttarnte Stasispitzel in Diensten der Westberliner Polizei verweigerte bis zu seinem Tod 2014 jeden Kommentar zu seiner Agententätigkeit, wie Sven Felix Kellerhoff auf bizarre Weise erfahren musste:
"Ja, ich war 2009 bei ihm zu Hause, zumindest. Wir klingelten, Kurras öffnete die Tür, zog sich die Hose herunter, zeigte uns seinen Allerwertesten und warf die Tür zu."