Der zerschlissene Plattenbau ist neun Stockwerke hoch und weit über hundert Meter lang. Es ist keine reiche Gegend in Kiew: Vor den bröckelnden Treppenstufen stehen kaum Autos, ein streunender Hund kommt um die Ecke. Eine Frau in Jeans pflückt Gras. Swetlana Kuzenko lebt seit vielen Jahren hier. Das Gras sei für ihr Meerschweinchen, sagt sie. Swetlana, die als Korrektorin in einem Verlag arbeitet, kannte den Journalisten Oles Busina, der vor elf Tagen genau hier erschossen wurde.
"Die meisten hier dachten gut über ihn. Er war ein freundlicher Mann. Am Spielplatz da vorne hat er oft Turnübungen gemacht. Er hatte eine Meinung, und der ist er treu geblieben. Wenn er mit etwas nicht zufrieden war, dann hat er das ehrlich gesagt. Er hat die Probleme im Land mutig benannt. Die einen haben ihm zugestimmt, die anderen nicht, wie das eben so ist."
Auch Swetlana war oft nicht einverstanden mit Busina. Im Gegensatz zu ihm unterstützte sie die Maidan-Bewegung vor einem Jahr und tritt für eine unabhängige Ukraine ein. Aber der kaltblütige Mord vor ihrer Haustür hat sie entsetzt. Er geschah am frühen Nachmittag. Zwei Personen in Masken schossen aus kurzer Distanz und flüchteten in einem Auto mit italienischen Nummernschildern.
"Ich verurteile das, dass bei uns Menschen für ihre Überzeugungen einfach so erschossen werden können. Ich sage nicht, die Regierung sei Schuld daran, aber sie muss die Schuldigen schnell finden. Wie sollen wir ruhig leben, wenn so etwas passiert, natürlich sind wir beunruhigt."
Nicht nur Busina starb: Eine ganze Serie von Morden und angeblichen Selbstmorden erschütterte in den vergangenen Wochen Kiew. Die meisten Opfer waren Politiker der pro-russischen "Partei der Regionen". Handfeste Ermittlungsergebnisse hat die Polizei bisher nicht veröffentlicht.
Allerdings ging bei mehreren Personen ein Bekennerschreiben ein, per E-Mail, auch beim Politologen Wolodymyr Fesenko. Eine ultranationalistische Organisation nahm die Verantwortung auf sich - für die Morde und auch die vorgeblichen Selbstmorde. Sie bekämpften "antiukrainische Verräter", so die Autoren.
Unklarheit über die Täter
Wolodymyr Fesenko allerdings hat erhebliche Zweifel daran, dass es diese nationalistische Organisation wirklich gibt.
"Der Geheimdienst SBU hat den Text des Schreibens analysiert. Er ist auf ukrainisch verfasst, enthält aber Russizismen. Mit anderen Worten: Er klingt, als ob ihn jemand aus dem Russischen ins Ukrainische übersetzt hätte. Ein Beweis ist das natürlich nicht. Viele Ukrainer sprechen den sogenannten "Surschyk", eine Mischung aus Ukrainisch und Russisch. Klar ist, dass die Absender Profis waren. Sie haben dafür gesorgt, dass die E-Mail nicht zurückverfolgt werden kann."
Wie die ukrainischen Behörden glaubt auch Fesenko, dass Russland hinter dem Brief und hinter einigen der Morde steckt. Ein Vorwurf, den Moskau empört zurückweist. Doch für diese These spreche die Bezeichnung der angeblichen Nationalisten, so Fesenko. Sie nennen sich "Ukrainische Aufstandsarmee", kurz UPA. Diese Organisation kämpfte im zweiten Weltkrieg und bis Anfang der 1960er-Jahre gegen die Sowjetunion. In Russland gilt sie als bis heute als verbrecherische Gruppierung. So passt das Bekennerschreiben perfekt zur antiukrainischen Propaganda in russischen Medien. Diese setzten die historische UPA denn auch sofort gleich mit den heutigen Attentätern. Beobachter bemerkten auch, dass der russische Präsident Wladimir Putin sehr schnell vom Mord des Journalisten Busina Kenntnis hatte. Er kommentierte ihn live im Fernsehen, noch bevor selbst ukrainische Medien berichteten. Wolodymyr Fesenko:
"Trotzdem dürfen wir nicht völlig ausschließen, dass wirklich eine nationalistische Untergrundorganisation entstanden ist, die Terror verbreitet. Und die vielleicht von Geheimdiensten benutzt oder angeleitet wird, möglicherweise sogar, ohne das zu ahnen. Nationalisten sollten aber wissen, dass sie damit Russland in die Hände spielen, dass sie de facto auf der Seite Russlands kämpfen."
Wie bei so vielen aktuellen Ereignissen in der Ukraine gibt es mehr Fragen als Antworten, mehr Hypothesen als Beweise. Tatsache ist jedoch, dass die Gesellschaft verängstigter und aggressiver wird: Nicht wenige kommentierten im Internet, Busina habe den Tod verdient gehabt. Der ukrainische Geheimdienst hat nun zumindest die Internetseite "Myrotworez" geschlossen. Sie hatte eine Adressenliste mit tausenden Ukrainern veröffentlicht, die angeblich den Separatismus in der Ostukraine unterstützten. Unter den Genannten war Oles Busina.