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Arktis-Expedition MOSAiC
Puzzle einer schwindenden, eisigen Welt

Ein Jahr lang ist die Polarstern durch das Nordpolarmeer gedriftet, um das arktische Klimasystem zu erforschen. Jetzt liegen erste Ergebnisse vor. Das Meereis ist dynamischer als erwartet, und der Klimawandel vergrößert das Ozonloch. Am spektakulärsten aber ist, was die Expedition unter dem Eis entdeckt hat.

Von Monika Seynsche |
Drei Forschende entnehmen in der Polarnacht Proben an einem Loch im Eis, im Hintergrund die "Polarstern"
Gibt es Fischbestände unter dem Eis, und welche Rolle spielen sie im Ökosystem? Das war die Fragestellung beim EFICA-Projekt, einem der vielen Puzzleteilchen der MOSAiC-Expedition (imago/Zuma Wire/Esther Horvath)
In den Fluren des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven stapeln sich Kisten voller Ausrüstungsmaterial. „Ja, die sollen eigentlich ausgepackt und wieder geordnet werden.“ Die Biologin Barbara Niehoff beugt sich über zwei große weiße Behälter, die in einer Ecke stehen.

„Das hier sind hauptsächlich große Sachen, zum Sortieren von Fischen. Sie sehen hier so ganz große Plastikwannen. Hier in den Sachen sind verschiedene Geräte drin, also auch Teile der Netze. Das wird alles auseinandergebaut. Polarstern ist praktisch nackt, wenn wir kommen, und wir müssen fast alles mitbringen. Und das müssen wir dann natürlich auch alles hierher transportieren, also zum Schiff transportieren und wieder zurück transportieren.“

Im Oktober 2020 kam der Forschungseisbrecher Polarstern von der MOSAiC-Expedition zurück. Seitdem packen Barbara Niehoff und ihre Kollegen Kisten aus und untersuchen deren Inhalt.

Über 150 Terabyte an Daten aus der Arktis

Markus Rex ist Atmosphärenphysiker am Alfred-Wegener-Institut in Potsdam. Er hat die MOSAiC-Expedition geleitet.

„Ja, wir haben einen Riesendatenschatz zurückgebracht. Wir haben über 150 Terabyte an wissenschaftlichen Daten aus der Arktis zurückgebracht, mehr als hundert Parameter haben wir das ganze Jahr über ganz kontinuierlich vermessen, um eben das Klimasystem besser zu verstehen. Und dazu haben wir noch Zehntausende von Proben von Schnee, Eis, Ozeanwasser, Atmosphärenbestandteile und auch dem Ökosystem mit zurückgebracht. Und die analysieren wir in diesen Tagen im Labor und in den Computern. Und wir haben natürlich schon eine Menge gelernt, Wir haben gesehen, wie das dünnere Eis viel dynamischer auf den Wind reagiert, sich zusammenschiebt, übereinander türmt und immer wieder aufreißt und insgesamt schneller driftet, als das Eis es früher getan hat und uns damit auch schneller durch die Arktis getragen hat.“

Es wird noch Jahre dauern, bis alle Daten und Proben der Expedition ausgewertet sind. Zurzeit sind die Forschenden damit beschäftigt, abertausende kleiner Puzzlesteine zu finden, die nach und nach ein vollständiges Bild ergeben sollen.
Der Forschungseisbrecher Polarstern im Abendlicht zwischen Eisschollen
Mit Schneebojen rund um die Polarstern konnten die Wissenschaftler die Bewegungen des Eises aufzeichnen (picture alliance / abaca)

Eislandschaft verändert sich ständig

Eine der Wissenschaftlerinnen ist die Meereisforscherin Jennifer Hutchings von der Oregon State University. Sie untersucht die Bewegungen des Eises und war von Februar bis ins Frühjahr 2020 hinein an Bord der Polarstern. Jetzt sitzt sie in ihrem Homeoffice im Untergeschoss ihres Hauses in Corvallis vor dem Computer.

„Das Eis rund um die Polarstern bewegt sich ununterbrochen. Und dabei verändert es die Eislandschaft, Risse entstehen, offene Wasserflächen, an denen plötzlich ganz viel Wärme aus dem Ozean in die Atmosphäre gelangt. Dann wieder schließen sich Wasserflächen mit neuem Eis und dieses junge, dünne Eis schiebt sich mitunter zu Gebirgen aus Eis zusammen. Es ist diese sich ständig verändernde Landschaft aus Eis, die das Wechselspiel zwischen Ozean und Atmosphäre bestimmt. Und um dieses Wechselspiel zu verstehen, müssen wir genau wissen, was das Eis macht und wie es sich bewegt.“

Die Forscherin hatte überall rund um das Schiff Bojen im Eis verteilt und maß laufend deren genaue GPS-Position, um so jede Bewegung aufzuzeichnen. Außerdem hatte sie ein kleines Mikrofon mit auf die Expedition genommen. Sobald sie bei ihrer Arbeit draußen auf dem Eis Geräusche hörte, holte sie es heraus.

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Plattentektonik im Zeitraffer

„So klingt das Eis, wenn es sich bewegt. Und es bewegt sich sehr schnell. Das würden Sie gar nicht vermuten, wenn Sie darauf stehen. Dann fühlt es sich an wie fester Grund. Aber in Wirklichkeit ist da nur eine dünne Decke: anderthalb bis zwei Meter, manchmal sogar nur 50 Zentimeter Eis unter Ihren Füßen!"

„Das Geräusch, was Sie hier hören, entsteht, wenn sich ein Eisrücken auftürmt. Das ist wie Plattentektonik, nur viel schneller. Ein Eisblock schiebt sich unter einen anderen. Sie hören dieses pop, pop, pop. Da bewegt sich das Eis ein Stückchen, verhakt sich, schiebt sich ein bisschen weiter, steckt wieder fest, rutscht wieder ein Stück und so weiter. So entstehen diese Bergrücken aus Eis.“

Seit ihrer Rückkehr aus dem Eis vor mehr als einem Jahr ist Jennifer Hutchings damit beschäftigt, ihre gewaltige Flut an Messdaten auszuwerten. Konkrete Ergebnisse hat sie noch nicht. Aber eine Erkenntnis: „Das Eis bewegt sich nicht genauso, wie ich ausgehend von früheren Messungen dachte.“

Eis bestimmt den Austausch zwischen Ozean und Atmosphäre

Die Meereisdecke der Arktis trennt den Ozean von der Atmosphäre. Damit bestimmt ihr Zustand über jeden Kontakt, jeden Austausch und jede Rückkopplung. Jennifer Hutchings:

„Wenn wir die Bewegungen des Eises falsch einschätzen, dann bekommen wir in unseren Modellen falsche Öffnungsraten im Winter und damit falsche Energieflüsse zwischen dem Ozean und der Atmosphäre. Und wenn das Eis sich anders zu Presseisrücken zusammenschiebt, als wir vermuten, stimmt die Massenbilanz nicht und wir bekommen eine falsche Schmelzrate im Sommer. Denn dünnes Eis schmilzt schneller als das dick aufgetürmte in den Presseisrücken. Das Schmelzwasser verändert wiederum den Salzgehalt und die Strömungen im Ozean. Und wenn im Sommer weniger Eis da ist, als unsere Modelle anzeigen, hat das Auswirkungen auf die Modellierung des Eises für September, Oktober. Die aber bestimmt über die Stärke von Herbststürmen in Europa. Das ist alles miteinander verbunden. Was in der Arktis passiert, entscheidet darüber, wie sich das Wetter bei uns verändert. Wir müssen die Eisdrift korrekt modellieren – nur dann können wir unsere Wetter- und Klimamodelle verbessern.“
Teilnehmer der MOSAIC-Expeditionsetappen leg2 und leg3 gehen vom Versorgungseisbrecher Kapitan Dranitsyn aus über das Eis zur Polarstern
Schichtwechsel auf der Polarstern (Michael Gutsche/Alfred-Wegener-Institut)

Indikator für die Wirksamkeit von Klimaschutzmaßnahmen

Christian Haas leitet die Meereisphysik am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven.

„Das Eis ist ja ein ganz wichtiger Indikator. Ich würde mal sagen, 80 Prozent der Maßnahmen, die wir jetzt in Deutschland zum Klimaschutz treffen, basieren auf der Erkenntnis, dass das Eis in der Arktis zurückgeht und dass das am globalen Klimawandel und an dem Ausstoß von Klimagasen liegt. Und natürlich will man das genau wissen. Man will auch genau wissen: Die Maßnahmen, die wir jetzt hier treffen, helfen die überhaupt? Ist das Eis noch zu retten?“

Das herauszufinden, war Christian Haas’ Aufgabe. Im Dezember 2020 ist er von Norwegen aus aufgebrochen zur da schon tief im Eis festgefrorenen Polarstern. Zehn Tage lang musste sich der russische Eisbrecher Kapitän Dranitsyn durchs Eis kämpfen. An Bord Essen, Treibstoff und etwa 100 Forscher, die die erste Crew ablösen sollten. Christian Haas wurde Fahrtleiter des nächsten Abschnitts.
„Mein Spezialgebiet ist die Untersuchung des Eises, und somit hatten wir ein ganzes Team auch aus meiner Gruppe dabei, die insbesondere Eisdickenmessungen gemacht haben und mit Hilfe von Hubschraubern großflächig das Eis kartiert haben.“

Eisdickenmessung aus dem Flugzeug

Zwei von Christian Haas‘ Kollegen sind Marcel Nicolaus und Stefan Hendricks. Im Januar 2020 sind sie gerade von der ersten Etappe auf der Polarstern zurückgekehrt. Es sind die letzten, deren Reisepläne noch nicht von einem neuen Virus durcheinandergewirbelt werden.

„Moin. Sag mal, kommst du in den Keller, in den Gitterkäfig rein? Kannst du mir den bitte mal aufmachen?“ Seitdem verbringen die beiden Physiker viel Zeit im Keller des Alfred-Wegener-Instituts. „Jo, danke dir! So, das ist unser Entwicklungskeller hier sozusagen.“

Die meisten Geräte, die während der MOSAiC-Expedition im Einsatz sind, gibt es nicht im Baumarkt zu kaufen. Die Forscher entwickeln und bauen sie selbst. „Und hier stehen wir jetzt gerade vor dem Prototypen der nächsten Generation, mit dem wir dann noch präziser und noch zuverlässiger vor allem Eisdicken messen können.“

Marcel Nicolaus zeigt auf einen Rollwagen aus Holz. Darauf liegt ein langes Gestell aus grauen Röhren und schwarzen Kabeln. Aufgehängt unter einem Flugzeug erzeugt es mit einer Spule ein elektromagnetisches Feld, das mit dem Wasser und dem Eis wechselwirkt. Die elektrische Leitfähigkeit sei im Eis deutlich niedriger als im darunterliegenden Ozean, sagt Stefan Hendricks. Dort, wo sie schlagartig zunimmt, erkennt das Gerät so die Unterseite des Meereises.

„Das Gerät selber misst, sehr genau, den Abstand zwischen sich selbst und dem Ozean. Und es hat auch noch einen zusätzlichen Laserabstandsmesser, der misst uns den Abstand zur Eisoberseite und die Differenz von den beiden Abständen ist einfach die Eisdicke und das können wir zehnmal pro Sekunde machen und so kriegen wir ein sehr, sehr genaues Bild von der Eisdicke entlang dem Track, wo wir lang fliegen.“

Eisdecke regeneriert sich im Winter überraschend schnell

Mit solchen Geräten ist das Team von Christian Haas das ganze Expeditionsjahr hindurch immer wieder über das Eis geflogen. Er selbst hatte unfreiwillig im Frühjahr 2020 deutlich mehr Zeit für seine Messungen als geplant. Denn plötzlich waren alle Häfen geschlossen und kein Land wollte die Rückkehrer aufnehmen. Eine aufregende Zeit, sagt er im Rückblick, ein Jahr später im Interview. Jetzt ist er mitten drin, aus den damals gesammelten Daten Schlüsse zu ziehen.

„Ja, insgesamt war eigentlich überraschend, wie stark das Eis im Winter wächst. Wir wissen ja, dass es insgesamt dünner wird und gerade heutzutage im Sommer ist das Eis schon sehr dünn und also in einem miserablen Zustand. Aber es ist ja so, dass dünnes Eis schneller wächst als dickes Eis, weil das hat was mit den Wärmeflüssen zu tun und wie die kalte Luft sozusagen das Meer auskühlen kann. Und gerade deswegen ist es wichtig zu sehen, wie stark das Eis im Winter wieder wachsen kann. Und genau das haben wir gesehen. Also trotz dessen, dass das Eis Anfang der Expedition, also sprich Ende des Sommers, so dünn war. Es ist eigentlich am Ende des Winters, als der nächste Sommer begann, wieder fast so dick geworden wie noch vor zehn oder 20 Jahren, also um die zwei Meter.“

Als dann der Frühling 2020 begann und die Temperaturen stiegen, schmolz das Meereis allerdings auch extrem schnell weg, schneller als jemals zuvor. Und nach dem Sommer, im Herbst 2020 kam es langsamer zurück als je zuvor.

„Die schlechte Nachricht ist, dass wir es wahrscheinlich nicht mehr verhindern können, dass das Eis im Sommer am Nordpol verschwinden wird. Also das ist eine sehr traurige Erkenntnis, eigentlich. Aber die gute Nachricht andererseits ist, dass unsere Beobachtung und gerade eben auch die Mittwinter-Beobachtung bei MOSAiC gezeigt haben, wie schnell das Eis auf Veränderungen des Klimas reagieren kann. Und das bedeutet auch, dass es eigentlich keinen Kipppunkt oder keinen Tipping-Point gibt, wie man das so oft hört, sondern dass das Eis sofort aufhören würde zu schmelzen, wenn sich die Klimaerwärmung, wenn die zum Halten käme. Und dass es sofort auch wieder mehr Eis geben würde, wenn sich das Klima auch nur ganz geringfügig abkühlen würde.“

Warmes Tiefenwasser könnte Eis von unten schmelzen

Noch aber erwärmt sich das Klima ungebremst. Und das könnte aus den Tiefen des arktischen Ozeans eine neue Gefahr heraufbeschwören. Zoe Koenig ist Ozeanforscherin an der Universität von Bergen in Norwegen. Sie interessiert sich für die Schichtung des Arktischen Ozeans.

„Der Arktische Ozean ist anders aufgebaut als die anderen Meere der Welt. In der Arktis haben wir an der Oberfläche eine kalte Süßwasserschicht und darunter, in etwa 300 Meter Tiefe, warmes, salziges Wasser, das aus dem Atlantik einströmt. Diese tiefe Wasserschicht enthält genügend Wärmeenergie, um auf einen Schlag das komplette Meereis der Arktis zu schmelzen. Im Moment passiert das nicht, denn das kalte Süßwasser an der Oberfläche wirkt wie eine Isolationsschicht und schützt das Eis darüber. Aber mit dem Klimawandel und immer mehr eisfreien Gebieten gelangt die Wärme aus der Tiefe immer öfter an die Oberfläche.“

Je löchriger das Meereis wird, je mehr offene Wasserflächen entstehen, desto häufiger können Stürme die Wasserschichten des arktischen Ozeans so stark durchmischen, dass warmes Tiefenwasser das Eis von unten schmilzt. Zoe Koenig hat während der Expedition immer wieder Strömungen, die Temperatur und den Salzgehalt in verschiedenen Wassertiefen gemessen.

„Jetzt beginnt, na ja, nicht der wichtigste aber doch der größte Teil unserer Arbeit. Die Auswertung der Daten. Als erstes mussten wir die Daten erstmal umwandeln und bereinigen. Zum Teil waren das reine Binärdateien, die wir gar nicht lesen konnten. Außerdem mussten wir auf die Qualität der Daten schauen und fehlerhafte Dateien und Ausreißer löschen. Es hat etwa sechs Monate gedauert, bis wir Datensätze hatten, mit denen wir auch wirklich arbeiten können. Einige Files haben wir uns immer noch nicht angeschaut. Jetzt sind wir dabei, die Daten zu analysieren. Wir versuchen also, etwas besser zu verstehen, wie der arktische Ozean funktioniert.“
Wissenschaftler der Mosaic-Expedition nehmen Proben an einem rechteckigen Loch im Eis; im Hintergrund die "Polarstern"
Es steht noch viel Arbeit an, bis alle Proben der MOSAiC-Expedition ausgewertet sind (imago/ZUMA Wire/Stefan Hendricks)

Corona-Pandemie brachte Projekt fast zum Scheitern

Denn er ist eines von drei alles entscheidenden Puzzleteilen im arktischen System. Eis, Ozean und Atmosphäre. Alle drei beeinflussen sich gegenseitig. Und alle drei verändern sich im Jahreslauf. Nur wenn es gelingt, ihr Zusammenspiel über das ganze Jahr hinweg zu verstehen, wird MOSAiC ein Erfolg. Mitte März 2020 allerdings sieht es so aus, als ob das Projekt scheitern würde. Plötzlich ist das Virus in der Welt und nichts geht mehr. Alle Häfen dicht, alle Grenzen geschlossen. Die russischen und chinesischen Versorgungseisbrecher stehen plötzlich nicht mehr zur Verfügung, zurück beordert in ihre Heimathäfen. Die Polarstern sitzt im Eis fest, der nächste Teamwechsel scheint unmöglich. Einer, der damals darauf wartete, für den vierten Abschnitt der Expedition an Bord zu kommen, war Matthew Shupe, Atmosphärenphysiker an der Universität von Colorado in Boulder und einer der Ko-Leiter der Expedition.

„Covid-19 hat unseren Logistikplan komplett über den Haufen geworfen. Wenn man das bedenkt, war der vierte Fahrtabschnitt ein riesiger Erfolg. Denn es ist uns gelungen, innerhalb von nur wenigen Wochen ein komplett neues Konzept auszuarbeiten, um Dutzende Forscher aus aller Welt zusammenzubringen und für sie nach der Quarantäne zwei Schiffe zu finden. Als das alles geschafft war, haben wir wirklich gefeiert.“

Die Rettung waren damals die beiden deutschen Forschungsschiffe „Maria S Merian“ und „Sonne“, die das vierte Team von Bremerhaven aus in die Arktis brachten. Da beide keine Eisbrecher sind, musste die Polarstern für einige Wochen ihre Scholle verlassen, um sich mit den Schiffen im offenen Wasser vor Spitzbergen zu treffen. Matthew Shupe und allen anderen fehlen dadurch jetzt einige Wochen Daten. Das sei schmerzlich, aber wesentlich besser als ein Abbruch der gesamten Expedition, sagt er.

Wolken beeinflussen Energiebilanz

Der Atmosphärenphysiker hat während der Mission den Energiehaushalt der bodennahen Atmosphäre untersucht. Er und seine Kolleginnen maßen die Lufttemperaturen, Windströmungen, Wärme- und Infrarotstrahlung sowie die Zusammensetzung der Atmosphäre. Matthew Shupe interessieren besonders die Wolken in der Arktis. Denn sie beeinflussen die Energiebilanz am Boden. So sind die Lufttemperaturen unter einem wolkenverhangenen Himmel deutlich höher als unter einem wolkenlosen. Und nun wird die Meereisdecke in der Arktis immer kleiner.

„Das hat natürlich einen Einfluss auf die Atmosphäre. Denn so gibt es mehr offenen Ozean, aus dem mehr Feuchtigkeit aufsteigen kann. Das untersuchen wir mit den Daten der Expedition gerade: Ist mehr Feuchtigkeit in der Luft als früher? Haben wir mehr Wolken? Wir wissen, dass das schwindende Meereis Einfluss auf diese Faktoren hat - wir müssen nur noch herausfinden, wie groß dieser Einfluss genau ist. Es gibt schon erste Beobachtungen von Satelliten, die eine stärkere Bewölkung im Herbst zeigen, also genau zu der Zeit, in der die Meereisdecke viel kleiner ist als früher. Offensichtlich gibt es da also Veränderungen. Aber wir brauchen längere Datenreihen, um eine wirklich verlässliche Aussage zu treffen.“

Jetzt schon macht sich der Klimawandel in der Arktis stärker bemerkbar als in jeder anderen Weltregion. Die Temperaturen hier sind schon in den vergangenen Jahrzehnten doppelt so stark angestiegen wie die globalen Durchschnittstemperaturen.
Markus Rex, Leiter der MOSAiC-Expedition
Markus Rex, Leiter der MOSAiC-Expedition (AWI / Markus Rex)

Überraschend starker Abbau der Ozonschicht

Und die Atmosphärenphysiker sind auf noch weitere beunruhigende Ergebnisse gestoßen. Das Team um Matthew Shupe und den Expeditionsleiter Markus Rex ließ immer wieder Messinstrumente an mit Helium gefüllten Ballons bis in die Stratosphäre hinein aufsteigen.

„Wir haben gesehen, dass im Frühjahr der Expedition die Ozonschicht über der Arktis stärker abgebaut worden ist als jemals zuvor. Innerhalb von wenigen Wochen sind da in der Stratosphäre 20 Kilometer über unseren Köpfen 95 Prozent des Ozons zerstört worden.“

20 Jahre nachdem die FCKWs und andere Ozonkiller verboten wurden, kommt es in der Arktis plötzlich zu einem nie dagewesenen Ozonabbau. Um herauszufinden warum, haben Markus Rex und seine Kollegen die Messdaten von MOSAiC in Computermodelle eingespeist: Das Ergebnis: der starke Ozonabbau ist eine Folge des Temperaturanstiegs.

„Der Klimawandel geht mit einer Abkühlung der Stratosphäre einher. Das, was hier unten wärmer wird, wird da oben kälter. Und das macht die in der Atmosphäre noch befindlichen Ozonkiller, diese Fluorchlorkohlenwasserstoffe, aggressiver und lässt sie mehr Ozon abbauen. Und wir haben gesehen, dass wenn wir den Klimawandel nicht bekämpfen, tatsächlich die erwartete Erholung der arktischen Ozonschicht so nicht eintreten wird. Wenn wir weiterhin so viel CO2, ausstoßen wie in der Vergangenheit, dann werden wir sogar bis zum Ende des Jahrhunderts weiter mit schweren, teilweise sogar mit zunehmenden Ozonverlusten zu rechnen haben.“
Drei Proben mit Zooplankton in durchsichtigen Plastikbehältern
Die Zooplankton-Proben liefern einen ökologischen Fingerabdruck der jeweiligen Entnahmestelle (imago/ZumaWire/Esther Horvath)

Zooplankton-Zählung mit Scanner und KI

Im Sommer 2021 öffnet Barbara Niehoff ihr Büro am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Die Meeresbiologin erforscht dort die kleinsten Tiere im Arktischen Ozean, das Zooplankton.

„Wir haben ganz viele, die sind Pflanzenfresser, also Herbivore, und die fressen diese kleinen einzelligen Algen, das Phytoplankton, und sind gleichzeitig aber wieder Nahrungsgrundlage für Fische zum Beispiel, größere Zooplankta, es gibt auch eine große Gruppe der fleischfressenden, also karnivoren Zooplankta. Und dadurch sind die ein ganz wichtiges Bindeglied einmal in den Nahrungsnetzen.“

Außerdem reagieren die Tierchen extrem schnell auf Umweltveränderungen und transportieren gleichzeitig große Mengen Kohlendioxid durch die Wassersäule. Das macht sie auch für die Klimaforschung interessant. Während der MOSAiC-Expedition hat Barbara Niehoffs Team immer wieder Zooplankton-Proben aus verschiedenen Wassertiefen genommen. Jetzt sind sie und ihre Kollegin Astrid Cornils dabei, diese Proben zu analysieren und die Tiere zu bestimmen. Per Hand würde das Jahre dauern.

„Dann gehen wir jetzt mal ins Labor und gucken uns mal an, wie wir die Proben analysieren.“ An der Längsseite des schmalen Raums steht ein großer weißer Kasten auf einem Tisch. Es ist eine besondere Art von Scanner. Astrid Cornils öffnet den Deckel. Darunter ist eine flache Wanne, in die die Biologin eine Wasserprobe gießt. Sie schließt den Deckel und schaltet den Scanner ein. Auf dem Computerbildschirm neben dem Kasten erscheint eine weiße Fläche mit ganz vielen kleinen, dunklen Pünktchen darauf.

„Und anschließend wird mit einer Software, werden daraus ganz viele Einzelbilder produziert, sodass wir letztendlich auf jedem Foto einen Organismus haben, den wir mit einer künstlichen Intelligenz identifizieren können. Und so kommen wir sehr viel schneller zu einem Ergebnis, was im Falle von MOSAiC natürlich sehr wichtig ist, dass wir schnell Ergebnisse liefern können.“

Sind Kabeljau und große Tintenfische klimabedingt zugewandert?

Das Zooplankton ist die Nahrungsgrundlage aller anderen Tiere im arktischen Ozean. Allen voran sind Fische auf die Kleinstlebewesen angewiesen. Für sie interessiert sich der Meereisökologe Hauke Flores. Bis zur MOSAiC-Expedition war so gut wie nichts bekannt über die Fischbestände im Arktischen Ozean. Hauke Flores und seine Kolleginnen wollten das ändern. Sie haben ein ganzes Jahr lang mit Unterwasserkameras und Langleinen das Leben unter der Meereisdecke rund um die Polarstern erforscht.

„Und da haben wir dann zeigen können, dass Fischarten wie zum Beispiel der atlantische Kabeljau bis in die Mitte des Arktischen Ozeans vordringen. Das sind zwar nur wenige Exemplare, aber an sich ist das eine große Neuheit, wenn man sieht, dass die meisten, auch Wissenschaftler, angenommen haben, es gibt praktisch keinen Fisch im Arktischen Ozean. Und dann haben wir mit der Kamera zwar nicht viele Fische nachweisen können, aber wir haben ganz spektakuläre Aufnahmen von großen Tintenfischen gemacht. Also wir haben gezeigt, dass in der Mitte des Arktischen Ozeans, was man biologisch eigentlich für eine Wüste hält, weil oben findet auch nicht viel Produktion statt - die Zooplankton-Organismen, die wir untersuchen, die sind zwar da, aber wenn Sie das mit dem Nordatlantik vergleichen, sind die Abundanzen also minimal. Und dennoch unterhält dieser zentrale Arktische Ozean große Tiere wie große Tintenfische. Die leben räuberisch, die müssen einen gewissen Nahrungsdurchsatz haben, und alles deutet darauf hin, dass sie sich auch reproduzieren.“


Da die Gegend nie zuvor untersucht wurde, weiß niemand, ob der atlantische Kabeljau und die großen Tintenfische immer schon dort waren, oder ob sie im Zuge des Klimawandels in die Arktis einwandern.

Das schwindende Eis weckt Begehrlichkeiten

Klar aber ist, dass sich das arktische System zurzeit rasant verändert und MOSAiC vielleicht die letzte Chance war, es in einem zumindest noch halbwegs intakten Zustand zu dokumentieren. In Hauke Flores Augen ist das eine der wichtigsten Aufgaben der Expedition gewesen.

„Zu verstehen, wie tickt das Ökosystem in diesem Moment? Wie funktionieren die Stoffflüsse? Welche Arten sind wichtig? Wie ist die Biodiversität aufgestellt? Das müssen wir verstehen, denn es wird sich weiter verändern. Und wir wollen dann in Zukunft natürlich auch besser verstehen, was zum Beispiel Eingriffe des Menschen in dem Ökosystem bedeuten, was ist, wenn sich in bestimmten Gebieten die Fischerei ausweitet? Das wird nicht in der Mitte des Arktischen Ozean sein, aber am Rand, trotzdem müssen wir verstehen, wie das ganze System an sich funktioniert, wenn wir dann eines Tages ein sinnvolles Management machen wollen.“

Denn bei aller Unsicherheit ist eines klar: das schwindende Eis weckt bei vielen Menschen Begehrlichkeiten. Plötzlich wird der Ozean attraktiv für Logistikunternehmen, die Fischereiwirtschaft, Rohstoffkonzerne und den Tourismus.
"Gestern Abend kamen wieder zwei Eisbären in die Nähe unseres Schiffes. Wahrscheinlich waren es die gleichen, die wir schon ein paar Tage vor unserer Ankunft auf der Scholle gesehen haben. Niemand war draußen auf dem Eis, als die Bären auftauchten, und es bestand keine Gefahr für die Teilnehmer der Expedition. Die Bären blieben mehrere Minuten um Polarstern und das Eislager herum. Zu unserer eigenen Sicherheit und zur Sicherheit der Eisbären wollen wir nicht, dass sie sich daran gewöhnen, unsere Nachbarn zu sein. Die leitenden und professionellen Eisbärenwächter der Expedition verfolgten sie daher mit einer Leuchtpistole. Die Bären wurden nicht verletzt und verließen sofort das Gebiet. Dieses Verfahren entspricht dem komplexen Sicherheitskonzept der MOSAiC-Expedition."
Regelmäßig besuchten Eisbären das eingefrorene Forschungs-Schiff "Polarstern" (Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz)

Gewinner und Verlierer in einem veränderten Ökosystem Arktis

Hauke Flores will mit seinen Daten herausfinden, welche Gebiete von diesen Einflüssen unbedingt freigehalten werden müssen.

„Wo ist es sinnvoll, zum Beispiel Schutzgebiete einzurichten? Wo können wir das Überleben der Ringelrobben und des Eisbären eigentlich wirklich sichern? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir das verstehen, ohne dass wir Angst haben, dass da irgendwie eine Katastrophe passiert. Die Veränderungen an sich, die müssen wir verstehen, um auch in Zukunft eben dafür zu sorgen, dass keine Katastrophen passieren, dass wir Menschen da was dran haben. Und natürlich auch, dass der menschliche Einfluss eben in Bahnen verläuft, die nicht so desaströs sind, wie sie erwiesenermaßen in anderen Meeresgebieten schon gewesen sind.“

Es entsteht eine andere Arktis. Mit dem Eis schwindet ein ganzes Ökosystem und wird durch ein neues ersetzt werden. Einige Tiere und Pflanzen werden gewinnen, andere verlieren. Wir Menschen zählen vermutlich zu den Verlierern. Markus Rex:

„Wenn wir so weitermachen wie bisher, dann wird die Arktis im Sommer eisfrei werden, und dann haben wir eine andere Erde. Das hat natürlich Auswirkungen auch auf andere Bereiche des Klimasystems, es trägt auch dazu bei, dass die Wettersysteme nicht mehr so schnell ziehen und sich lange über einem Ort festsetzen können. Und dann so ein Tiefdrucksystem halt mal seinen gesamten Wasserinhalt über einer Region abschmeißt, anstatt das gleichmäßig wie eine Gießkanne über große Bereiche in Europa zu verteilen. Und was daraus resultieren kann, das haben wir sehr eindrücklich in diesem Sommer in Deutschland gesehen.“