Nachname, Vor- und Vatersname, Alter, Beruf, Erschießungsdatum. So knapp sind die Informationen über die Opfer, die die Menschen heute auf dem Platz vor der Geheimdienstzentrale in Moskau verlesen, und dennoch werden sie bis abends um zehn nicht mit allen durchkommen. Mehr als 30.000 zumeist Unschuldige wurden allein in Moskau in den Jahren des sogenannten großen Terrors 1937/38 unter Stalin erschossen: einfache Arbeiter ebenso wie Ärzte oder hochrangige Beamte.
Memorial erinnert dieses Jahr zum zehnten Mal an sie. Die Bürgerrechtsorganisation ist unter Druck, Anfang Oktober hat das russische Justizministerium den internationalen Dachverband zum "ausländischen Agenten" erklärt, das bringt Probleme mit sich.
"Nicht nur ein Akt des Erinnerns, sondern ein Akt der Selbstachtung"
Für den Leiter von Memorial, Arsenij Roginskij ist der heutige Tag trotz des traurigen Anlasses ein Lichtblick:
"Heute sind erheblich mehr Menschen hier als in den vergangenen Jahren, und das trotz des schrecklichen Wetters. Und es sind viele junge Leute. Das ist wohl eine Reaktion auf die immer enger werdende gesellschaftliche Atmosphäre. Es ist nicht nur ein Akt des Erinnerns, sondern ein Akt der Selbstachtung."
Jelena steht schon eine gute Stunde im Schneeregen Schlange, wärmt sich die Hände an einem Grablicht. Vor ihr sind noch mindestens hundert Leute an der Reihe. Ihren Nachnamen möchte sie lieber nicht sagen. Jelena ist Lehrerin, unterrichtet Geschichte und hat drei ihrer Schülerinnen mitgebracht:
"Wir versuchen, im Unterricht über die Repressionen zu sprechen. Es hängt von den Lehrern ab, wie viel Raum das Thema bekommt. Einige Lehrer reden lieber über ruhmreichere Aspekte der sowjetischen Geschichte. Mir scheint aber, man muss über alles reden. Damit die Kinder kritisches Denken entwickeln und analysieren können, was gut und was schlecht ist."
Bürgerrechtler warnen vor einer Wiederholung des Staatsterrors
Präsident Putin hat sich vor einigen Jahren für eine Vereinheitlichung des Geschichtsunterrichts ausgesprochen. Die negative Rolle des blutigen Diktators Stalin wird seither zunehmend relativiert, Stalin als starker Feldherr gepriesen, der den Sieg im Zweiten Weltkrieg gebracht habe. In der Region Twer wurde letztes Jahr sogar ein Stalinmuseum neu eröffnet. Zugleich aber fördert der Staat das Gedenken an die Opfer des Stalinismus. In Moskau gibt es seit einem Jahr ein gut ausgestattetes staatliches Gulag-Museum. Arsenij Roginskij:
"Der Staat hat da keine klare Linie. Die Beamten betrachten die Erschießungen unter Stalin als eine Art unangenehme Episode der Vergangenheit, als eine Abweichung von der Linie, die uns von Sieg zu Sieg getragen hat. Sie ehren zwar die Opfer, aber sie fragen nicht, wessen Opfer das waren. Wir von Memorial sagen dagegen ganz klar: Es waren Opfer des Staates."
Und sie warnen davor, dass sich der Staatsterror wiederholt.