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Mossul-Offensive
"Die Zivilgesellschaft gerät zwischen die Fronten"

Aus Sicht der Orient-Expertin Anja Wehler-Schöck birgt die Offensive der irakischen Armee auf Mossul die Gefahr eines Blutbads. Denn es sei schwer zu erkennen, wer Zivilist und wer Feind sei, sagte die Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Amman im DLF.

Anja Wehler-Schöck im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker |
    Neun Milizionäre in Tarnuniformen sitzen auf einem Panzer, der auf einem Lastwagenanhänger steht. Dahinter sieht man Steppe.
    Den IS aus Mossul zu vertreiben reiche nicht, um die Terrormiliz nachhaltig zu besiegen, sagte die Orient-Expertin Anja Wehler-Schöck. (DPA / EPA / AHMED JALIL)
    Zudem sei der Zugang für humanitäre Hilfe schwierig, warnte Wehler-Schöck. Es gebe keine Fluchtrouten aus Mossul heraus.
    Wehler-Schöck warnte hinsichtlich des Konfliktverlaufs, Mossul sei "die Spitze des Eisberges". Man habe zwar derzeit einen gemeinsamen Feind mit dem IS, aber es gebe viele Gruppen, die sich nach dem Sieg gegen die Islamisten untereinander bekriegen würden. Hinsichtlich einer Befriedung des Iraks sei sie "als Berufsoptimistin sehr pessimistisch".
    Den IS aus Mossul zu vertreiben reiche nicht, um die Terrormiliz nachhaltig zu besiegen. Die Herde des Problems seien eine marode Infrastruktur und Perspektivlosigkeit der Menschen, die sich mit den Islamisten neue Führungspersonen suchten. Es fehle ein Konzept für die Transition und dazu, wie die Justiz nach dem Konflikt aussehen solle.

    Das Interview in voller Länge:
    Ann-Kathrin Büüsker: Die Hilfsorganisationen im Nordirak bereiten sich auf Tausende neue Flüchtlinge vor. Mit der Offensive auf Mossul gerät eine Million Einwohner zwischen die Fronten. Einige könnten als Geisel genommen werden, andere könnten fliehen. Während die Koalition zügig auf die Stadt zurückt, ist das Schicksal der Menschen ungewiss. Darüber möchte ich jetzt mit Anja Wehler-Schöck sprechen. Sie arbeitet für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Jordanien. Guten Morgen!
    Anja Wehler-Schöck: Guten Morgen aus Amman.
    Büüsker: Wir sprechen hier in Deutschland in den Medien mit Blick auf Mossul viel von Befreiung der Stadt. Aber ist das überhaupt legitim? Müssten wir nicht eigentlich eher ein drohendes Blutbad fürchten?
    Wehler-Schöck: Ja, mit Sicherheit wird es eine Befreiung sein, die aber leider ein Blutbad voraussehen lässt. Im Moment sehen wir, dass die Zivilbevölkerung an vielen Orten zwischen die Fronten gerät, und die humanitären Hilfsorganisationen sind in großer Sorge, wie sich das in den kommenden Wochen abzeichnen wird.
    Büüsker: Gibt es irgendeine Möglichkeit, das zu verhindern?
    Wehler-Schöck: Das sehe ich im Moment nicht. Es ist sehr klar, dass schwierig zu sehen ist, wer Zivilist ist, wer Feind ist, dass geschossen wird auch teilweise ohne Rücksicht auf Zivilbevölkerung, und dass es sehr schwierig sein wird, der Zivilbevölkerung zu helfen.
    "Zugang für humanitäre Hilfe extrem schwierig"
    Büüsker: Was würde eine monatelange Belagerung der Stadt bedeuten? Hätten wir dann so was wie ein zweites Aleppo?
    Wehler-Schöck: Das wird natürlich eine humanitäre Katastrophe sein. Zum einen ist der Zugang für humanitäre Hilfe extrem schwierig und zum anderen fehlen auch die finanziellen Mittel. Die UN-Hilfsorganisationen berichten, dass es keine sicheren Fluchtrouten aus Mossul heraus gibt zurzeit. Dennoch bereiten sie vor allem in der Autonomieregion Kurdistan Lagerkapazitäten vor, weisen aber darauf hin, dass für vieles finanzielle Kapazitäten fehlen.
    Büüsker: Was bedeutet das für die Region, sollten jetzt tatsächlich Tausende neue Flüchtlinge dazukommen?
    Büüsker: Man muss sich vor Augen halten, dass wir im Irak mit einer Gesamtbevölkerung von etwa 33 Millionen bereits 3,3 Millionen Binnenflüchtlinge haben, dass rund zehn Prozent der Bevölkerung bereits im Land Flüchtlinge sind, und dass nun weitere hinzukommen. Die UN sprechen von bis zu 1,5 Millionen Menschen, die durch die Mossul-Kampagne zusätzlich auf der Flucht beziehungsweise extrem auf humanitäre Hilfe angewiesen sein könnten. Das bedeutet natürlich eine zusätzliche Belastung, mit der sich die Hilfsorganisationen überfordert sehen.
    Büüsker: Und mit der wahrscheinlich auch die Gesellschaft dann zu kämpfen haben wird. Wenn wir kurz zurückgucken: Der Bürgerkrieg im Irak nach dem Sturz von Saddam Hussein, da hatten wir große Spannungen insbesondere zwischen Schiiten und Sunniten. Wie groß ist die Gefahr, dass diese Initiative auf Mossul das jetzt zusätzlich befeuert?
    Wehler-Schöck: Die Gefahr ist eigentlich eher, was kommt eigentlich danach. Wir sehen mit der Mossul-Kampagne die Spitze des Eisberges. Im Moment gibt es noch einen gemeinsamen Feind mit dem Islamischen Staat. Aber was kommt für den Irak danach? Der Irak nähert sich einer Zersplitterung. Man kann nicht mehr von einem Gewaltmonopol sprechen, es gibt viele militarisierte Gruppen, die, so besteht die berechtigte Sorge, sich nach einer erfolgreichen Mossul-Kampagne untereinander bekriegen werden.
    Büüsker: Also hat die Regierung in Bagdad eigentlich gar keine Macht mehr?
    Wehler-Schöck: Die Regierung in Bagdad hat natürlich Macht, aber wir sehen an vielen Ecken, dass diese Macht schwindet, dass die Kontrolle über das Territorium schwindet, dass die Infrastruktur völlig am Boden liegt, dass es große politische Grabenkämpfe gibt, sowohl innerhalb der Regierung als auch zwischen anderen Gruppierungen.
    Büüsker: Was bedeutet das dann für das internationale Engagement? Braucht der Irak hier Hilfe von außen?
    Wehler-Schöck: Der Irak braucht ganz dringend Hilfe von außen und man muss sich auch vor Augen halten, dass hier starke regionale Interessen zum Tragen kommen, dass sowohl der Iran als auch die Türkei als auch andere Länder ihre Finger im Getriebe haben, und da müssen wir uns überlegen, wie können wir als internationale Gemeinschaft den Irak stärken in Blick auf eine Befriedung und eine demokratische Stabilisierung.
    "Ich befürchte, dass sich nach Mossul ein Bürgerkrieg kaum vermeiden lassen wird"
    Büüsker: Welche Ansätze sehen Sie da?
    Wehler-Schöck: Ich muss sagen, im Moment bin ich selbst als Berufsoptimistin sehr pessimistisch, wie das mit dem Irak weitergehen kann. Ich befürchte, dass sich nach Mossul ein Bürgerkrieg kaum vermeiden lassen wird. Ich sehe keinen Weg im Moment, wie es zu einer Demilitarisierung, einer Vermeidung der Waffen-Proliferation im Irak kommen kann, wie die Regierung gestärkt werden kann und wie eine Fragmentierung des Irak vermieden werden kann.
    Büüsker: Auch mit Blick auf Syrien steht das ja immer wieder als Szenario im Raum, dass Syrien eigentlich nie wieder in den Grenzen, die wir jetzt kennen, bestehen könnte. Das wäre dann, wenn ich Sie richtig verstehe, auch eine Schreckensoption für den Irak?
    Wehler-Schöck: Ja, es gibt immer wieder Szenarien, wo gesagt wird, der Irak müsse in drei Teile geteilt werden. Das ist vollkommen absurd. Wer sollte den Irak denn legitimer Weise zerteilen? In welche Grenzen könnte der Irak fallen und wer hätte überhaupt die Berechtigung? Man hat sich ja bewusst auch von früheren Ambitionen distanziert. Wir werden vermutlich im Irak eine Fragmentierung sehen, dass der Irak zwar innerhalb der heutigen Grenzen bestehen bleibt, aber es verschiedene Gebiete geben wird, in denen bewaffnete Gruppierungen die Kontrolle haben. Natürlich müssen wir darauf hinarbeiten, dass es ein Gewaltmonopol des Staates wieder geben wird, dass wir starke staatliche Institutionen haben.
    "Keine klare Trennung zwischen schiitischen und sunnitischen Gebieten"
    Büüsker: Sie haben gerade gesagt, es wird darüber diskutiert, drei Teile. Warum gerade drei?
    Wehler-Schöck: Die Fantasie mancher Analysten ist, eine Autonomieregion Kurdistan zu haben, also ein perspektivisch unabhängiges Kurdistan, und eine schiitische und eine sunnitische Teilung des Irak. Das ist illusorisch, weil man den Irak nicht entlang dieser Linien teilen kann. Der Irak ist auch ein Staat mit vielen Minderheiten. Es gibt keine klare Trennung zwischen schiitischen und sunnitischen Gebieten. Es gibt zwar teilweise sunnitisch und schiitisch dominierte Gebiete, aber der Irak ist beispielsweise auch ein Land, wo es immer sehr viele Mischehen gegeben hat, wo die Grenzen auch fließen. Schon bereits jetzt im Gebilde Irak ist es schwierig, sich zu entscheiden, wo können denn die Grenzen bestimmter Provinzen gezogen werden, weil es da auch um die Verteilung von Ressourcen, insbesondere Öl und Gas geht.
    Büüsker: Lassen Sie uns noch mal auf diese Initiative gegen Mossul schauen. Nehmen wir an, es ist möglich, den selbsternannten Islamischen Staat tatsächlich militärisch hier zu vertreiben, löst das die Probleme?
    Wehler-Schöck: Nein, das wird es nicht, und es ist auch manchmal etwas frustrierend, in diesen Diskussionen dann zu sehen, dass der militärische Erfolg als Lösung gesehen wird. Aber man wiederholt hier eigentlich Fehler, die man bereits im Kampf gegen El-Kaida im Irak getan hat, nämlich dass man nicht auf die Quellen, auf die eigentlichen Ursprünge dieses Problems schaut.
    Büüsker: Die da wären?
    Wehler-Schöck: Die systematische Marginalisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen, Perspektivlosigkeit, marode Infrastruktur, fehlende Unterstützung für Bevölkerungsgruppen, die sich dann an andere Führungspersonen gewandt haben. Insofern muss man ganz dringend auf diese Herde schauen. Man muss sehen, wie man den Menschen Perspektiven bieten kann. Und auch wenn wir jetzt nach Ramadi beispielsweise oder Falludscha, die befreiten Städte schauen, es ist vollkommen zerstört. Die Menschen haben keine Perspektiven, sie kehren zurück und sehen teilweise auch, da sind Kollaborateure mit dem IS, die frei herumlaufen. Es fehlt an Konzepten für Postkonflikt-Justiz, für eine Transition, wie geht man denn eigentlich mit denen um, die mit dem IS zusammengearbeitet haben, und wie schafft man eine Versöhnung innerhalb der irakischen Gesellschaft.
    Büüsker: Schwierige Aussichten für den Irak - das war die Einschätzung von Anja Wehler-Schöck. Sie arbeitet für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Jordanien. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Wehler-Schöck.
    Wehler-Schöck: Vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.