Archiv


Motivsuche mit Hitchcock und Bunuel

Schauspielerin Sandra Hüller glänzt beim Festival des deutschen Films gleich in zwei Rollen: In "Brownian Movement" spielt sie etwa eine Ärztin, die ein Appartment mietet, um dort Liebhaber zu empfangen, die sie zuvor als Patienten kennengelernt hat.

Von Klaus Gronenborn |
    Der Spielfilm ist mit seinen Aufbruchs- und Liebesgeschichten, von denen das aktuelle deutsche Kino immer wieder erzählt, stets ein Medium des Traumes und der Sehnsucht geblieben. Zahlreiche der elf Wettbewerbsbeiträge um den "Filmkunstpreis", der morgen Abend auf der Ludwigshafener Parkinsel beim "Festival des deutschen Films" verliehen wird, lieferten dafür eine ebenso spannende wie ästhetisch herausfordernde Bestätigung.

    "Sag mal, hast Du nicht manchmal auch das Gefühl, das wir uns schon viel, viel länger kennen, als wir uns in Wirklichkeit kennen?"

    In Jan Schomburgs Debütspielfilm "Über uns das All" begegnet die Lehrerin Martha dem Historiker Alexander. Die Geste, mit der der junge Dozent sich das Haar aus der Stirn streicht, erinnert sie an ihren verstorbenen Ehemann Paul. Der habe in Marseille Selbstmord begangen, wurde Martha kurz zuvor von der Polizei mitgeteilt. Überhaupt scheint Paul nicht derjenige gewesen zu sein, den wir zu Beginn des Films als erfolgreichen angehenden Mediziner mit soeben abgeschlossener Promotion und im Aufbruch zu einer beruflich vielversprechenden Karriere in Frankreich kennengelernt haben.

    Die Entdeckung seines offensichtlichen Doppellebens versetzt Martha in eine zwischen entnervter Fassungslosigkeit, scheinbar stoischer Gelassenheit und schreiender Verzweiflung schwankende psychische Verfassung. Sandra Hüller in der Rolle der Martha weiß diese brillant zu verkörpern. Bei einer Wiederbegegnung mit Alexander beginnt Martha, nein, beginnen beide, muss man genauer sagen, ein Spiel. Ein Spiel mit ihren Lebensgeschichten und ihrer neuen Liebesgeschichte, inklusive dem obligatorischen Blumenstrauß zur Dinner-Einladung.

    Alexander: Oh da ist ja noch Papier drum.
    Martha: Is' nicht schlimm, machen wir gleich noch mal… Oh, ist das schon dass Du da bist! Sind die für mich? Oh, danke!

    Jan Schomburg inszeniert dieses Spiel mit dem Bild, das sich Martha und Alexander voneinander machen, mal im Indikativ, dann wieder augenzwinkernd-selbstironisch im Konjunktiv.

    "Über uns das All", der im Herbst in die deutschen Kinos kommt, ist eine bestechende "Vertigo"-Variante unter umgekehrten Geschlechtervorzeichen. Denn hier ist es nicht, wie bei Alfred Hitchcocks Filmklassiker aus dem Totenreich, der Mann, sondern die Frau, der ihr verstorbener Geliebter in neuer Gestalt wieder zu begegnen scheint.

    Sandra Hüllers schauspielerische Bravourleistung in diesem Spiel mit den Blicken des Begehrens und Begehrt-Werdens kürt sie unbedingt als zukünftige Kandidatin für den in diesem Jahr an Andrea Sawatzki verliehenen "Preis für Schauspielkunst".


    Sandra Hüller hinterließ noch in einem weiteren Wettbewerbsfilm, der ähnlich wie "Über uns das All" implizit die Frage stellt, wie gut man sich eigentlich selbst kennt, einen nachhaltigen Eindruck. "Brownian Movement" annonciert bereits im Titel eine Art Elementarteilchen-Physik der erotischen Anziehungskräfte.

    Charlotte, erfolgreiche Ärztin und verheiratete Mutter eines Sohnes, mietet sich ein Appartement und empfängt dort Männer als Liebhaber, die sie zuvor als Patienten kennengelernt hat. Diese Männer entsprechen physisch allesamt nicht den gängigen Schönheitsidealen und der Statur ihres gut aussehenden Ehemannes Max, den sie nach wie vor auch liebt. Sie sind dick, stark behaart oder sehr alt. Was ist der Kern von Charlottes Faszination für das Andere dieser Menschen? Wie geht sie mit etwas um, das sie nicht erklären kann?

    Sandra Hüller spielt mit einer Präsenz und Intensität, die den Zuschauer sofort in ihren Bann zieht, eine Frau, die sich selbst und uns bis zuletzt ein Rätsel bleibt. Ein ebenso faszinierendes wie provozierendes Rätsel. Regisseurin Nanouk Leopold inszeniert es in langen Einstellungen als Versuchsanordnung. Als Trilogie von Fallgeschichte, therapeutischer Analyse und einem Neuanfang des Paares Charlotte und Max in Indien. Die Bilder des Kameramannes Frank van den Eeden nehmen die Protagonistin mal mit gleichsam medizinisch sezierendem, engem Blickwinkel unter die Lupe. Dann wieder sehen wir Charlotte in der Totalen: Eine Figur, wie verloren im Raum. Bis in die Farbdetails des Mobiliars und der Wände ist der pastellfarbene Raum ihres Appartements dem Erscheinungsbild der Protagonistin als stummer Mitakteur angepasst. Das was Charlotte antreibt, bleibt so unerklärbar wie die molekularen Zuckungen der titelgebenden physikalischen "Braunschen Bewegung".

    Sagbar ist es nicht. Sichtbar wird es trotz der geradezu schmerzhaft detailpräzisen Bilder, deren Komposition man die Herkunft der Regisseurin aus dem Bereich der Bildenden Kunst sofort ansieht, aber auch nicht. In diesem Paradox der sichtbaren Unsichtbarkeit liegt gleichermaßen die Provokation wie die ästhetische Qualität der niederländisch-belgisch-deutschen Koproduktion "Brownian Movement". Eine moderne Bunuel'sche "Belle de Jour", ab Ende Juni im deutschen Kino zu besichtigen.