Im Gespräch mit Mouhanad Khorchide geht es um muslimische Reformverweigerer, um Freiheit in der islamischen Tradition sowie um sein Plädoyer, sich für das Andere und die Anderen zu öffnen. Auch gegenüber Flüchtlingen. Hier einige zentrale Kernthesen aus dem Gespräch:
Mouhanad Khorchide über das, was er als "Westophobie" bezeichnet:
"Ich bin immer wieder konfrontiert mit muslimischen Aussagen, die sehr schnell in ein verschwörungstheoretisches Konstrukt verfallen. Alle Schuld an egal welchen Miseren dieser Welt, gerade in der islamischen Welt – das ist der böse Westen. Und das kann so nicht sein. Man verliert dann die Objektivität. Und gerade jetzt in der Situation hier in Deutschland, wenn wir einen sehr stark geprägten Opferdiskurs haben – die wollen uns nicht – oder was ich immer wieder höre: weil sie an staatlichen Universitäten sitzen und dort islamische Theologie betreiben, das kann nur Staatsislam sein. Das sind westophobe Ausdrücke. Das sagt viel mehr über die Person selbst, dass man ein Problem damit hat, dass Europa, dass der Westen islamische Theologie einführt oder überhaupt Raum schafft für islamischen Religionsunterricht oder für Muslime, dass sie ihren Glauben reflektieren. Dass das sofort per se dann abgelehnt wird, weil das im Westen stattfindet. Da hat man ein großes Problem offensichtlich mit dem Westen oder mit Europa."
Zu seinem Vorwurf, starre Positionen religiöser Fundamentalisten seien eine Selbstvergöttlichung des Menschen und somit Blasphemie:
"Die Wahrheit ist ein Eigenname Gottes im Koran. Gott ist die Wahrheit. Wer behauptet im Besitz der Wahrheit, behauptet im Besitz Gottes zu sein: Ich habe Gott dann begriffen... Aber Gott ist das Transzendente, das Unbedingte, das Unbegreifliche. Wir können uns Gott nur annähern, indem wir Schriften über Gott interpretieren. Aber was Gott wirklich ist, das können wir Menschen nicht wissen, weil wir das Bedingte sind. Und das Bedingte kann niemals das Unbedingte, also, das Relative kann niemals das Absolute erfassen. Deshalb können wir nie behaupten, wir sind schon im Besitz der absoluten Wahrheit. Das ist das, was fundamentalistische Strömungen in allen Weltanschauungen, übrigens auch in humanistischen Weltanschauungen ausmachen, dass sie behaupten im Besitze der absoluten Wahrheit zu sein und somit entweder geistig – oder bei Extremisten sogar physisch – das Andere eliminieren wollen: der darf nicht mehr existieren. Das ist die Gefahr. Darum sage ich auch in einem Kapitel: Im Exklusivismus selbst liegt ein Kern für Gewalt drinnen. Also wenn wir über Gewalt in den Religion oder im Islam reden wollen und aufrichtig reden wollen, dann müssen wir über den Exklusivismus reden, weil da beginnt schon ein Gewaltpotenzial in den Religionen, wenn man beginnt zu sagen: Nur ich und nur ich habe Recht, und die anderen haben kein Recht. Es ist nur mehr ein gradueller und kein qualitativer Unterschied zwischen dem, der sagt, ich eliminiere den anderen geistig, oder ich eliminiere ihn auch physisch und greife zur Gewalt. Die Distanz dazwischen ist nicht mehr so weit weg. Aber indem man Gott Gott belässt und sagt, die Wahrheit ist Gott und deshalb bleibt die Wahrheit absolut, da schützt man auch die Wahrheit und schützt man auch Menschen davor zu behaupten, wir seien im Besitz der Wahrheit. Und somit – wie ich hier schreibe in dem Buch: wir sind alle nur Suchende nach der Wahrheit – mit dem Wissen, wir können uns der Wahrheit annähern, aber niemals im Besitze der Wahrheit sein. Somit bleibt unsere Haltung immer der kritischen Überprüfung unterlegen."
Zur Frage, ob die ständige Reform des Islams, wie er sie fordert, nicht die Gefahr der Verwässerung birgt, so dass der Kern des Islams nicht mehr zu erkennen ist:
"Was ist Kern des Islam? Das müssen wir ganz klar definieren erst einmal. Es ist klar, wir haben Glaubensgrundsätze, dass man an den einen Gott glaubt, an den Propheten, Heilige Schriften und so weiter. Dass man an die Rituale auch glaubt und sie praktiziert. Das sind aber Elemente, die nicht vom gesellschaftlichen Wandel abhängig sind. Deshalb haben sie einen eher statischen Charakter. Aber wenn wir über den weiteren Kern des Islams reden, dann sehe ich den Kern schlechthin des Islams – neben diesen Glaubensgrundsätzen und den Ritualen – eben in diesem Aufruf zu dieser Freiheit, zu dieser Haltung des Sich-Öffnens. Das ist eine Grundhaltung, zu der der Islam aufruft. Indem man in dieser Grundhaltung ist, kann man den Islam nicht verwässern, man kann nur immer wieder aktualisieren in seiner Lebenswirklichkeit. Das Problem von Reformverweigerern ist, dass sie davon ausgehen von der Abgeschlossenheit des Islams, im Sinne von: Es ist alles schon da, wir müssen nichts mehr neu reflektieren, wir müssen nichts neu denken oder überhaupt unser Verständnis aktualisieren. Aber genau diese Haltung ist eine Haltung der Bevormundung, eine Haltung des Sich-Verschließens, die alles andere ist als eine Haltung der Freiheit, zu der der Islam, der Koran vor allem unmissverständlich mehrfach aufruft. Deshalb sehe ich das Problem der Stagnation in der islamischen Theologie, in der islamischen Welt eben in dieser Haltung des Sich-Verschließens, die Reformen nicht will und verhindert."
Mit dem Islam auf dem Weg zu einem neuen Humanismus:
"Die Grundwerte des Humanismus, wie ich den Humanismus verstehe, sind Werte, die die Souveränität des Individuums einerseits betonen, aber nicht nur – sondern das Individuum sehen als Teil des Kollektivs, das auch Verantwortung für das Kollektiv trägt. Das heißt, auch hier Werte wie Gerechtigkeit oder Verantwortlichkeit, Werte, die auch eine kollektive Dimension haben, gehören genauso zu diesem Humanismus. Was die alle zusammen haben, ist eine Haltung des Sich-Öffnens, sowohl nach innen, in sich selbst auch immer wieder hineinschauen, sich selbst reflektieren, wie auch eine Haltung des Sich-Öffnens nach außen. Und die höchste Stufe einer Haltung des Sich-Öffnens sehe ich in einer Haltung des Sich-Öffnens dem Absoluten gegenüber, sprich im Islam Gott."
Was die von Mouhanad Khorchide empfohlene Haltung des Sich-Öffnens in der konkreten politischen Situation bedeuten würde:
"Das würde bedeuten, dass wir im anderen nicht den Muslim oder den Zuwanderer, den Flüchtling sehen, sondern den Mensch. Das heißt, ich übe mich auch in Empathie. Ich versetze mich auch in seine Situation und dann überlege ich, was würde ich erwarten, wenn ich in seiner Situation bin und das Leben hart zu mir war, so dass ich auswandern musste auf der Suche nach einem Ort oder einem Raum, wo humanistische Werte vertreten sind, die mich wohlwollend annehmen. Und genau das ist dann die Aufgabe der Politik heute, wenn sie diese Haltung des Sich-Öffnens sieht, dann ändert sich die Perspektive. Dann ist das Fremde nicht mehr fremd, sondern das Fremde ist der Mensch."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.