Opernfans sind hartgesottene Überzeugungstäter. Das bewiesen sie gestern Abend erneut in Aix-en-Provence: Das Festivalpublikum harrte trotz strömenden Gewitterregens geduldig vor den Sicherheitsabsperrungen aus und wartete auf die Ansage, ob die Premiere überhaupt stattfindet. Dabei stand zur Eröffnung in Aix-en-Provence gar keine Oper auf dem Programm, sondern Mozarts Requiem in der szenischen Lesart des italienischen Regisseurs Romeo Castellucci, musiziert vom französischen Shooting-Star Raphaël Pichon und seinem Ensemble und Chor "Pygmalion". Nach der Verkündigung, man werde mit einer Stunde Verspätung um 23 Uhr mit der Vorstellung beginnen, sitzt man endlich glücklich auf tropfnassen Sitzen. Die Musiker stimmen bei der hohen Luftfeuchtigkeit extra genau. Aber der Abend beginnt mit einer einzelnen Sopranstimme aus den halligen Gewölben des Erzbischöflichen Palais.
Alltagskleidung und Folklore
Raphaël Pichon hat sich den gregorianischen Choral "Christus factus est" zur Eröffnung ausgesucht. Und auf der weißen Bühne zeigt Castellucci dazu eine alte Frau im weißen Hemd, die sich nach einem Blick in die Fernsehnachrichten in ihr hölzernes Bett legt und dort stirbt. Musikalisch geht es dann weiter mit Mozarts "Meistermusik". Der Chor formiert sich auf der Bühne, Tänzer schwenken Zweige und schwarze Fahnen, dann erst setzt das Requiem ein. Der "Pygmalion"-Chor formiert sich in Alltagskleidung und beginnt in Kreisen hüpfend zur Fuge des "Kyrie" zu tanzen. Regisseur Castellucci hat sich von Folklore verschiedener Völker für seine Inszenierung des Requiems inspirieren lassen. Auf die hintere Bühnenwand projiziert er Aufzählungen von ausgestorbenen Arten. Die Namen von Lebewesen, Pflanzen, aber auch Städten und Kulturen erscheinen da als persönliches Memento Mori des Regisseurs, der uns daran erinnern möchte, dass die Auslöschung der Menschen mittlerweile absehbar ist.
Reigentanz und Existenzialismus
Es folgt ein Bass-Solo aus Mozarts Oper "Thamos in Ägypten", zu dem Kunstnebel aufsteigt und Kalk um ein kleines Mädchen, das einen Olivenzweig hält, gestreut wird. Sie verkörpert die menschliche Seele, um die zum gewaltigen "Dies Irae" erneut ein großer Kreistanz choreografiert ist. Zum "Tuba Mirum" flechten die Choristen und Tänzer dann Bänder um eine Stange. Die Kostüme erinnern jetzt an Balkan-Folklore und sind weiß-rot-schwarz gehalten. Pichon und seine Musiker und Sänger geben Mozarts Musik packende dynamische Akzente und besonders scharf konturierte Rhythmen, die sich in den Hüpftänzen nur teilweise wiederfinden. Manchmal wirkt das Reigentanz-Bild eher erheiternd zur existenziellen Aussage der Musik.
Zwischen den Volkstanz-Szenen findet Castellucci auch starke Bilder, ohne jedoch eine Geschichte zu erzählen. Zu Mozarts flehender Bitte "Salva me" hängt das mit Farbe bestäubte und übergossene Mädchen eine erstaunlich lange Zeit an verborgenen Griffen mitten in der Bühnen-Rückwand. Gegen Ende hebt sich die mit schwarzer Erde bestreute, weiße Bodenplatte, und alles darauf rutscht in bedrohliche Nähe des Orchestergrabens. Der gesamte 40-köpfige Chor legt sich einer nach dem anderen als Opfer eines Autounfalls hin, während das schwarze Autowrack vor einer goldenen Gloriole steht. Castellucci assoziiert, was das Zeug hält. Manch einer im Publikum schläft dennoch hörbar ein.
Musikalische und körperliche Höchstleistungen
Diese Version des Mozart-Requiems ist eine zwischen berührend, befremdend, lähmend und belustigend changierende Kollage, die ähnlich wie die Kreistänze immer wieder neu beginnt. Auch zu früherer Stunde hätte das Werk etwas schneller als in 90 Minuten zum Ende finden können. Die musikalische und körperliche Leistung der Choristen und Solisten kann nur in höchsten Tönen gelobt werden. Auch aus dem Publikum geht einer mit leicht tänzelndem Schritt aus diesem Mozart-Requiem hinaus.