Björn Kuhligk zieht es immer wieder in die Ferne. Nach Melilla in Nordafrika, nach Cartegena in Kolumbien. Seine im Anschluss veröffentlichten Gedichte und Reiseberichte, die er danach veröffentlichte, loten sensibel Abgründe aus, etwa zwischen dem wohlstandsgesättigten Reisenden und der Verlorenheit der gestrandeten Flüchtlinge im Lager von Melilla. Ganz ähnlich ist auch der Blick Kuhligks auf die trotz aller Anmut in Armut gefangenen Bewohner der kolumbianischen Küstenstadt Cartagena.
Kolumbien ist nun auch der Schauplatz von Kuhligks erstem Roman. Und auch hier geht es um eine Reise und einen Zwiespalt. Hauptfigur ist der 44jährige Müller. Auf Rügen hat er gerade sein Auto geparkt, um für ein paar Tage nach Hiddensee überzusetzen. Da erreicht ihn die Nachricht vom Tod seines Bruders Thomas. Viele Jahre hatten sie nichts voneinander gehört. Thomas hatte sich in Kolumbien eine neue Existenz aufgebaut und den Kontakt nach Deutschland abgebrochen - auch zu seinen engsten Verwandten.
Tod des Bruders und ein vergiftetes Erbe
Müller fliegt sofort nach Bogotá. Am Flughafen erwartet ihn Thomas‘ Lebensgefährtin Laura Velazquez. Was sie ihm über den Bruder zu sagen hat, schockiert ihn zutiefst. Denn in Cartagena erwartet ihn ein vergiftetes Erbe. Der offensichtlich lebenstüchtige Thomas, eigentlich Botaniker, hatte als Zwischenhändler für Kokain sehr viel Geld verdient. In seinen Kreisen nannte man ihn den „Landvermesser“. Nach seinem Krebstod hinterlässt er seinem Bruder und seiner Freundin fünf Millionen Dollar und ein Jugendstilhaus. Laura liebte Thomas. Von seinen Geschäften wollte sie jedoch nicht viel wissen. Behutsam versucht sie dem verstörten Müller die Augen zu öffnen.
„Er hat sich um die Schönheit gekümmert, auch um die Schöpfung, um das Wachsen, Gedeihen, um das Vorhandensein von Schönheit. Und dann verdient er Tonnen von Geld mit Rauschgift, mit dem, was vernichtet, was Tod bringt. Weißt du, was mal einer der Obertypen eines Kartells gesagt hat? Er hat gesagt: Das Kokain ist die Atombombe Kolumbiens.“
Der Held als Totalversager
Björn Kuhligk hätte aus diesem Stoff viel machen können. Er hätte Müller auf die Spuren seines Bruders setzten können, um dessen Verstrickung in die Drogengeschäfte und mafiösen Strukturen Kolumbiens zu erhellen. Er hätte die Entfremdung der beiden ungleichen Brüder als Folie nehmen können, um Thomas‘ Lebensweg und dessen Gründe für den familiären Kontaktabbruch nachzuzeichnen.
Aber Kuhligk setzt von Anfang an die falschen Akzente. Im Vordergrund steht nicht die Konfrontation des Berliner Durchschnittsbürgers Müller mit den kolumbianischen Verhältnissen und der Rolle seines Bruders im Drogengeschäft. Im Fokus dieses Romans steht auf enervierende Weise Müller selbst und damit die innere Befindlichkeit eines Mannes, der sich im Leben nicht zu helfen weiß. Der Autor gesteht ihm nur den Allerweltsnamen Müller zu.
„Müller wie Schulze. Müller wie Meier. Müller wie Müller. Klare Sache in Deutschland. Müllermeierschulze, das Zentrum von Deutschland.“
Müller, der für ein mittelgroßes medizinisches Unternehmen arbeitet. Müller, der mittelgroß ist, Augenringe, Schweißhände und ergraute Schamhaare hat. Müller, der mit Frauen, auch mit der zarten Zuneigung Lauras, nicht zurechtkommt, der immer müde und erschöpft ist, Lärm nicht verträgt, nicht tanzen kann und Hautausschlag an beiden Handgelenken hat. Dieser Müller ist besetzt von Angst und Albträumen. Hundert Mal in diesem Roman der Name Müller! Und ständig diese zähen Selbstbefragungen, in die ihn ein tief in Müllers Seele blickender Erzähler verwickelt.
„Wer war er denn? Was hatte er? Woraus war er zusammengeschustert? Sein fehlender Ehrgeiz, der ihm vertraut war, seine Angst, übersehen zu werden. Mitunter fühlte er sich überflüssig, in Menschengruppen, auf Partys, bei Besprechungen, mit den Kollegen beim Mittagessen. Müller, wer ist Müller? Einer, der eben mitkommt, weil er schon mal da ist, einer, der in Ordnung ist, der nicht stört.“
Autor Kuhligk bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück
Als Leserin hätte man gern verstanden, warum dieser Müller eigentlich so verklemmt und ängstlich ist. Auch was den Bruder ins Ausland getrieben hat.
Zwar wird in Rückblenden aus der Perspektive Müllers die missglückte Ehe der Eltern erwähnt, die biedere Atmosphäre im einstigen Elternhaus, schließlich deren tödlicher Autounfall. Aber diese eingestreuten Passagen sind wie lose Fäden, die sich zu keinem Muster fügen. Und so wirkt auch die karibische Hafenstadt Cartagena mit ihren Menschen, Straßen, der Hitze und den Speisen wie eine Kulisse für Figuren, die in einer Lähmung zu verharren scheinen. Was Müller mit seinem Erbe anfangen wird, bleibt offen. Letztendlich verharrt er in seinem tiefen Selbstzweifel.
Auch sprachlich bleibt Björn Kuhligk oft weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. So lesen wir, dass Müller seine Gedanken „hin- und her wuchtet“, dass „es den Boden aus Müller“ raushaut, dass er gesoffen hat, „als wäre weiter hinten ein Bürgerkrieg entstanden“. Von einem „unruhigen Müllerkörper“ ist die Rede oder von Lauras Gesicht, „das ineinanderfiel und sich innerhalb von Sekunden wieder aufbaute.“ Formulierungen, die ungelenk und unpassend wirken.
Björn Kuhlig ist ein gefeierter Lyriker. Aber den Sprung zu einem überzeugenden Romancier hat er mit diesem Erstling nicht vollzogen.
Björn Kuhligk: „Der Landvermesser“
Edition Atelier, Wien. 174 Seiten, 22 Euro.
Edition Atelier, Wien. 174 Seiten, 22 Euro.