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Müller (SPD) über Coronavirus-Lockerungen
"Gastronomie nicht immer weiter hinten anstellen"

In der kommenden Bund-Länder-Runde müsse auch über Lockerungen für Gastronomie und Hotels beraten werden, sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) im Dlf. Es erwarte keiner, dass alle Restaurants wieder sofort öffnen dürften, aber es gehe um Planbarkeit für die Unternehmen.

Michael Müller im Gespräch mit Claudia van Laak |
Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin, spricht auf der Pressekonferenz vor einer blauen Wand.
Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin, will über einen Fahrplan für Lockerung für Gastronomie und Hotels beraten (dpa / picture alliance / Fabian Sommer)
Die Ankündigung, dass Sachsen-Anhalt seine Einschränkungen in der Coronakrise deutlich lockern wolle, kam überraschend – auch für Regierungen anderer Bundesländer. Die Verärgerung über das Vorgehen von Sachsen-Anhalt sei groß, sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) im Deutschlandfunk Interview der Woche. Die anderen Länder und der Bund seien darüber nicht rechtzeitig informiert worden. Es sei "ärgerlich", dass man noch am Donnerstagabend in einer Videokonferenz mit den anderen Ländern und dem Bund zusammengeschaltet war, dort aber Sachsen-Anhalt nichts von den Lockerungen gesagt habe.
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Bezüglich der anstehenden Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin sagte Müller: "Ich hoffe sehr, dass wenn wir am kommenden Mittwoch mit der Kanzlerin zusammenkommen, wir uns auch wieder auf gemeinsame Maßnahmen verständigen können." Denn entscheidend sei nicht, dass alle Bundesländer die gleichen Maßnahmen beschlössen, sondern dass im Grundsatz ein gemeinsamer Weg vereinbart werde.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
In Hinblick auf das nächste Treffen von Bund und Ländern rückte Müller Gastronomie und Hotels in Fokus der Lockerungen. "Ich akzeptiere nicht mehr, dass Gastronomie und Hotellerie immer weiter hintenangestellt werden", so Müller. Nicht eine sofortige Eröffnung sei wichtig, aber eine Planbarkeit für die Unternehmen. Beispielsweise eine Öffnung der Außenbereiche von Restaurants nach fünf Tagen und nach weiteren fünf Tagen eine Öffnung der Innengastronomie.
Politik von Wissenschaft getrieben
Als Lehre aus der Coronakrise zeigte sich Müller offen für eine Föderalismusreform. In Krisenzeiten wie zum Beispiel einer Pandemie könne der Gesundheitsschutz zentral koordiniert werden, auch über Maßnahmen und Einsätze könne der Bund entscheiden. "Das kann ich mir vorstellen", so Müller.
Bezüglich der Leitlinien, der die Politik in der Coronakrise folge, sagte Müller: "Da ist die Politik etwas getrieben von der Wissenschaft." Aber auch die müsse man in Schutz nehmen, da sich niemand auf diese Gesundheitskrise habe vorbereiten können – auch die Wissenschaft und die Medizin nicht.

Das Interview in voller Länge:
van Laak: Heute, am 3. Mai, ist der Tag der Pressefreiheit, Herr Müller. Vorgestern, am Rande einer Demonstration, da wurde hier in Berlin ein Fernsehteam des ZDF von Vermummten angegriffen. Vier Personen wurden so schwer verletzt, dass sie ins Krankenhaus mussten. Wissen Sie mehr darüber? Was waren das für Angreifer, politisch, von rechts, von links?
Müller: Wir hatten natürlich eine kurze Rückkopplung auch mit dem Innensenator und der sagt, das sieht alles aus nach einer gezielten Aktion, einer "Racheaktion" nur für diese Dreharbeiten, aber Näheres weiß ich im Moment auch noch nicht. Ich hoffe, dass das auch noch ein juristisches Nachspiel hat.
"Schwerpunkt darauf, Ausschreitungen zu vermeiden"
van Laak: Nun waren am 1. Mai besonders abends in Kreuzberg tausende Schaulustige, Feiernde unterwegs. Die Grüne-Bürgermeisterin Monika Herrmann, die spricht sogar von einer wilden Corona-Party. Also, der Polizei ist es nicht gelungen, die Corona-Regeln einzuhalten.
Müller: Es kam jetzt darauf an, worauf man sich konzentriert und die Polizei hat natürlich dann auch einen Schwerpunkt gesetzt und gesagt, sie entscheidet sich für diese Demonstrationszüge eben, und für die gewalttätigen Ausschreitungen, die es gibt, die will sie im Blick behalten. Da will sie sofort eingreifen können und da sind dann natürlich auch die Einsatzkräfte gebunden. Insofern hat man dann manches zwar in den Parks, wo die Regeln nicht eingehalten wurden, auch auflösen können, ist aber nicht so konsequent dazwischen gegangen wie in den letzten Wochen. Da ist es ja dann doch deutlicher auch zu einer Ansprache der Polizei gekommen, wenn man gesehen hat, dass sich doch Gruppen bilden in den Parks. Jetzt am 1. Mai lag der Schwerpunkt eindeutig darauf, irgendwelche Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten zu vermeiden.
van Laak: Nun hat ja der Senat vorhergesagt, speziell Innensenator Geisel, der 1. Mai in Kreuzberg, der darf auf keinen Fall zum Ischgl Berlins werden. Vielleicht wird er es jetzt doch.
Müller: Am 1. Mai haben wir ja auch schon mit einer Ausnahmesituation gerechnet. Ich hoffe aber sehr, dass alle sich bewusst machen, dass wir keineswegs in einer Situation sind, wo man jetzt pauschal von Lockerungen reden kann oder sagen kann, wir haben nun alles überwunden der letzten Wochen, sondern ganz im Gegenteil oder vielleicht sogar noch stärker, wenn man jetzt in die ersten Phasen der Entspannung wieder eintritt in einigen Bereichen, im Nahverkehr, in den Schulen, im Einzelhandel. Vielleicht ist es dann sogar noch wichtiger, diszipliniert zu sein und alle Regeln einzuhalten und das ist nach wie vor das Wichtigste, Abstand halten.
"Verärgerung ist groß über Sachsen-Anhalt"
van Laak: Aber wir haben ja auch morgen in Berlin Lockerungen, nicht nur in Berlin. Kleine Gottesdienste sind wieder erlaubt, Versammlungen mit bis zu 50 Personen. Die Friseure dürfen öffnen, kleinere Museen. Jetzt prescht Sachsen-Anhalt da ein bisschen vor, fünf Personen dürfen jetzt zusammen unterwegs sein. Es gibt überhaupt keine Einschränkungen mehr bei den Geschäften. Massagesalons, Kosmetikstudios dürfen wieder öffnen. Hatten wir da vor sechs Wochen einen Überbietungswettbewerb, wer ist da am schnellsten und am strengsten und jetzt anders herum den Überbietungswettbewerb, wer ist am schnellsten mit der Öffnung?
Müller: Vielleicht sieht es wirklich danach aus und die Verärgerung ist auch groß über Sachsen-Anhalt. Gar nicht so sehr, dass ein Bundesland sagt, ich glaube, ich kann hier einen guten Weg gehen und habe dieses und jenes vor, das Ärgerliche ist, dass wir ja noch Donnerstagabend in einer Videokonferenz mit dem Kanzleramt zusammen waren, alle 16 Ministerpräsidenten und da ist kein Wort gesagt worden, dass es in die Richtung gehen soll in Sachsen-Anhalt und 48 Stunden später wird das dann verkündet. Das ist eben ein Wettlauf, den Sie beschreiben, den ich für sehr unglücklich halte und ich hoffe sehr, dass, wenn wir jetzt am kommenden Mittwoch mit der Kanzlerin wieder zusammenkommen, dass wir uns wieder auf gemeinsame Maßnahmen verständigen können. Ich sage ja vom ersten Tag an, das Entscheidende ist gar nicht, ob einer einen Tag schneller oder einen Tag langsamer ist als der andere und es ist auch nicht entscheidend, ob einer 50 Menschen im Gottesdienst zulässt und der andere vielleicht nur 30. Das Entscheidende ist, dass wir im Grundsatz einen Weg verabreden. Der Grundsatz muss eben sein, in allen Ländern gibt es bestimmte Einschränkungen oder in allen Ländern gibt es bestimmte Lockerungen. Sachsen-Anhalt hat jetzt etwas losgetreten, was wir hoffentlich wieder einfangen, denn man kann es nur immer wieder sagen, das Virus macht nicht an Landesgrenzen halt und Sachsen-Anhalt würde auch den anderen Kollegen nichts Gutes tun, wenn die Lockerungen dort zu einer großen Infektionswelle führen.
"Kann niemand garantieren, dass es jedes Unternehmen übersteht"
van Laak: Ist das denn eine Art politische Profilierung von Länderchefinnen und -chefs, die wir im Moment eigentlich nicht gebrauchen können?
Müller: Ja, das spielt vielleicht auch immer eine Rolle, aber es ist wirklich in den letzten Wochen nicht der entscheidende Punkt gewesen, sondern es war natürlich auch die Problemlage.
van Laak: Wären Sie denn als Länderchef bereit, wenn man darüber nachdenkt, was können wir besser machen, auch stärker Kompetenz und Rechte an den Bund abzugeben, um dieses Durcheinander, was wir ja wirklich hatten und haben in den letzten Wochen, künftig zu verhindern?
Müller: Für Krisenzeiten, in bestimmten Notsituationen kann ich mir so etwas vorstellen, da muss so etwas möglich sein. Es gibt ja die unterschiedlichsten Krisen. Das kann eine Flutkatastrophe sein, wie wir sie ja schon mal hatten, und es können Stürme sein. Es kann eine Epidemie sein, eine Pandemie, wie wir es jetzt erleben und dass dann der Gesundheitsschutz und der Schutz der Bürgerinnen und Bürger durchaus zentral koordiniert wird und auch zentral Einsätze entschieden werden und Maßnahmen entschieden werden, das kann ich mir vorstellen, aber natürlich, wir sehen ja auch in unserer föderalen Situation bundesweit, dass wir doch mit den regionalen Besonderheiten, wo wir dann das eine oder andere anpassen, doch ganz gut fahren. Wir haben im internationalen Vergleich ja wirklich Infektionszahlen, die wir zurzeit, ich hoffe, es bleibt so, auch gut bewältigen können.
van Laak: Stichwort regionale Besonderheiten - Herr Müller, wir haben ja in Berlin eine Wirtschaft, deren Schwerpunkt ist die Dienstleistung. Die Gastronomie spielt eine sehr, sehr große Rolle. Berlin muss auch weiter attraktiv bleiben für Touristen. Befürchten Sie, dass das weniger werden könnte, dass da eine Schließungswelle bevorsteht?
Müller: Gastronomie und Hotellerie muss man sagen, das ist mir wichtig, das immer wieder zu betonen, der ganze Tourismusbereich natürlich, das ist, was die Menschen in unsere Stadt zieht. Kultur, Wissenschaft, Veranstaltungen, davon profitiert ja die Gastronomie und die Hotellerie und durch das Herunterfahren dieser ganzen Dinge sind beide gleichermaßen betroffen und wir müssen beide wieder in den Blick nehmen, und ja, natürlich gibt es da eine große Sorge. Ich glaube, in dem Maße, wie wir wieder Lockerungen zulassen können, dass wieder Kulturveranstaltungen erlebt werden können, Konzerte, dass man Museen besuchen kann, in dem Maße werden sich auch wieder Gastronomie und Hotellerie erholen, aber es kann dauern. Das kann ein langer Prozess sein und das werden wahrscheinlich auch nicht alle überstehen. Es hat viele Finanzhilfen gegeben. Ich glaube, es muss auch weiter dringend Zuschüsse auch geben, nicht nur Kredite, sondern Zuschüsse auch für diese Branchen, aber natürlich kann niemand garantieren, dass es jedes Unternehmen übersteht.
Bei der Gastronomie "muss etwas passieren"
van Laak: Das heißt, die Gastronomie künftig öffnen, innen bleibt es zu und draußen kann man sitzen?
Müller: Ja, das ist jetzt wieder so ein Punkt, den ich auch anmahne für den nächsten Mittwoch mit der Kanzlerin. Ich habe das in den letzten Konferenzen immer wieder gesagt, an dieser Stelle muss etwas passieren. Die Bedenken waren noch zu groß, bundesweit, insbesondere auch in den großen Flächenländern, die eben internationale Nachbarn haben. Da gab es dann doch Sorge, dass da wieder ein Tourismus entsteht, den man nicht beherrscht. Das akzeptiere ich, aber ich akzeptiere nun auch nicht mehr, dass es immer weiter hinten angestellt wird. Mein Eindruck ist in Gesprächen mit Gastronomen und Hoteliers, die erwarten gar nicht, dass wenn wir am 6. miteinander darüber diskutieren, sie am 7. wieder alles aufmachen können, aber sie erwarten, dass sie eine Schrittfolge hören von uns, dass vielleicht fünf Tage später die ersten Restaurants aufmachen können oder die Außenbereiche der Restaurants, weitere fünf Tage später dann der Innenbereich, weitere fünf Tage später vielleicht die Hotels. Das erwarten sie und ich glaube, das ist auch dringend geboten.
van Laak: Herr Müller, dass die Menschen die Regeln befolgen, hängt ja auch damit zusammen, ob sie verstehen, warum die Politik wie handelt, also welches die Leitlinien der Politik sind. Wir haben ja da in den letzten Wochen auch Unterschiedlichstes gehört. Zunächst hieß es, wir müssen eine Überforderung des Gesundheitssystems ausschließen, das ist gelungen. Dann war die Richtschnur die Zeit, in der sich die Zahl der Infektionen verdoppeln. Dann war es diese berühmt-berüchtigte Reproduktionszahl, die unter 1 liegen muss, der Maßstab. Was ist denn der Maßstab? Wissen Sie es?
Müller: Also da ist Politik auch ein bisschen getrieben von der Wissenschaft und die wiederum muss man auch in Schutz nehmen. Wir haben ja mit einer Gesundheitskrise zu kämpfen, auf die sich niemand vorbereiten konnte, auch die Wissenschaft und die Medizin nicht. Wir haben eben keinen Impfstoff, wir haben kein Medikament und die Wissenschaftler arbeiten jetzt auf, wie dieses Virus sich eigentlich entwickelt, wie es sich überträgt, wer ist Risikogruppe, und natürlich, mit jeder Erkenntnis der Wissenschaft gibt es eine Beratung für die Politik, die wir dann in Maßnahmen umsetzen. Insofern beschreiben Sie schon richtig, dass wir auch immer gucken wollten, was ist nun die richtige Orientierungsgröße und es hat sich ja doch durchgesetzt, dass es schon sehr wichtig ist, sich daran zu orientieren, wie schnell entwickelt sich eine Infektionswelle durch Erkrankte. Wie viele andere werden angesteckt durch einen Erkrankten, denn darüber kann eben in Clubs, in Bars, wo ja nur ein Infizierter vielleicht ist, aber um ihn herum steckt der 50 Leute an, kann eine riesige Infektionswelle entstehen. Das muss man durchbrechen, diese Infektionswelle. Das zweite wichtige Kriterium ist natürlich, wie viel Kapazitäten haben wir für die Schwersterkrankten in unseren Krankenhäusern. Das sieht im Moment alles sehr gut aus und deswegen reden wir ja nur über Lockerungen. In dem Moment, wo diese Dinge wieder sich zurückentwickeln und angespannter werden, muss man wieder auch ganz anders über Lockerungen diskutieren.
"Wer ist eigentlich Risikogruppe?"
van Laak: Es gibt ja Stimmen, die sagen, wir sollten einen Kurswechsel einleiten, also die Einschränkungen komplett wieder zurücknehmen, damit die Wirtschaft wieder wachsen kann, wieder auf die Beine kommt und die gesamte Aufmerksamkeit allein darauf richten, die Risikogruppen zu schützen. Was halten Sie von diesem Ansatz?
Müller: Ja, das sind immer ganz tolle und wohlfeile Vorschläge natürlich auch und dadurch entsteht immer der Eindruck, als ob wir uns nicht ständig damit auseinandersetzen würden, aber ich frage dann immer zurück, wer ist eigentlich Risikogruppe. Wer kann das heute hundertprozentig sagen, wer Risikogruppe ist? Bei den Älteren wissen wir es. Bei den Kindern zum Beispiel ist es umstritten. Das hätte Auswirkungen auf die Eltern, wenn sie es denn sind, wenn sich das bestätigen sollte. Und wie schütze ich denn nun die Risikogruppe, durch Isolation? Und was ist denn mit der Risikogruppe der Älteren, die aber mitten im Leben stehen und arbeiten gehen oder auch ein Museum besuchen wollen? Das lasse ich für alle anderen zu, aber für niemanden, der über 55 oder 60 ist? Also ganz so einfach ist es dann immer nicht mit diesen wunderbaren Vorschlägen, sondern es ist schon eine Gratwanderung für uns alle. Insofern glaube ich, wird es auch immer bei einem Maßnahmen-Mix bleiben, sowohl beim Herunterfahren der Begegnungsmöglichkeiten wie auch wieder beim Hochfahren.
"Es war richtig, diese Vorsorge zu treffen"
van Laak: Wir hatten schon über das Gesundheitssystem gesprochen, Herr Müller. Berlin ist ja stolz auf dieses bundesweit einzigartige Projekt, auf das Corona-Behandlungszentrum auf dem Gelände der Messe. Ein erster Abschnitt ist fertig, 86 Millionen Euro kostet das Gesamtpaket. Nun kommen erste Zweifel. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagt, wir haben jetzt genug Intensivbetten, die Corona-Reserve könne man jetzt langsam wieder zurückfahren, verschobene Operationen könnten nachgeholt werden. War Berlin da überambitioniert?
Müller: Nein, ich glaube, wenn der Gesundheitsschutz uns allen doch am wichtigsten ist, dann kann es doch gar nicht zu viel Ambition geben. Und wie wäre es denn im umgekehrten Fall? Wir haben es ja nicht gewusst, als wir angefangen haben, dieses Krankenhaus zu planen und zu organisieren, wie sich die Infektionswellen entwickeln. Und wie wäre es denn gewesen, wenn unsere Krankenhäuser voll gewesen wären und wir hätten Bilder gehabt wie in Amerika oder Italien, wo die Kranken auf den Fluren stehen oder auf den Fluren auf dem Boden liegen? Nein, das war richtig, diese Vorsorge zu treffen und wir haben das auch in China gesehen. Da wurde so etwas organisiert und es lag nicht einen einzigen Tag ein Kranker in so einem Krankenhaus und es wurde wieder abgebaut, als es nicht gebraucht wurde. Da kann man doch eigentlich sich nur darüber freuen, wenn es nicht gebraucht wird, aber eine Vorsorge zu treffen, das ist Aufgabe der Politik, genauso wie jetzt wieder zu gucken, brauche ich die zweite Ausbaustufe dieses Krankenhauses oder kann ich es vielleicht bei der ersten erst einmal belassen. Kann ich mit den Kapazitäten, die ich habe, vielleicht einem anderen helfen, der nicht so viele Kapazitäten hat, das ist doch eigentlich ein kluges Vorgehen.
"Diese Situation beschleunigt das eine oder andere"
van Laak: Genau das wäre meine Frage. Könnten Sie möglicherweise die Betten anderen Städten, anderen Ländern zur Verfügung stellen?
Müller: Na klar, wir haben es ja auch schon im begrenzten Umfang gemacht. Wir haben ja schon Schwersterkrankte aus Frankreich aufgenommen. Ich hatte das auch Italien angeboten. Da ist es nicht zustande gekommen, weil es in Italien einfach zu schwierig war, das zu organisieren, aber wir konnten französische Patienten gut versorgen in Berlin und natürlich, andere Bundesländer oder auch unsere Städtepartner, für die stehen wir auch zur Verfügung, wenn wir die Möglichkeiten haben. Ich hatte in der letzten Woche eine Videokonferenz mit den Bürgermeistern der Berliner Partnerstädte, die auch genau danach fragen, gibt es Möglichkeiten, wie ihr uns unterstützen könnt, mit Testkapazitäten oder für die Schwersterkrankten, und da werden wir natürlich immer weiter prüfen.
van Laak: Die Pandemie hat ja auch etwas Gutes. Vieles, was entweder vorher komplett unmöglich schien oder ganz lange dauerte, Sie wissen es selber, das geht plötzlich ganz schnell. Die gesamte Gesellschaft erlebte auch einen Digitalisierungsschub. Wie ist denn da die Berliner Verwaltung aufgestellt, wie sehen Sie das?
Müller: Wir haben ja ohnehin uns da einiges vorgenommen und das war ja auch überfällig in der Berliner Verwaltung, dass da investiert wird und digitale Angebote gemacht werden. Diese Situation, die wir jetzt haben, beschleunigt das eine oder andere, aber da darf man sich nichts vormachen. Das sind natürlich ausgewählte Bereiche, wo so etwas jetzt ja auch schwerpunktmäßig umgesetzt wurde, eben in der Gesundheit, in der Medizin, beim öffentlichen Gesundheitsdienst. Da wird es natürlich vorangetrieben, aber wir müssen ja die komplette Verwaltung umstellen auf andere Verfahren und ausrüsten, und das wird weiter auch Jahre dauern. Das, was ich am stärksten wahrnehme, wo es so einen Mentalitätswechsel jetzt gibt in allen Bevölkerungsbereichen, glaube ich, das ist die Wahrnehmung, dass in der Schule da etwas passiert ist und das auch wirklich sinnvoll ist und noch verstärkt umgesetzt werden kann. Da waren manche, glaube ich, vorher auch so, die gesagt haben, ach Mensch, ist das wirklich wichtig, ein Lehrbuch ist doch auch ganz schön. Stimmt, ein Buch ist ganz schön, aber dass wir jetzt digitale Medien nutzen können, um Schülerinnen und Schüler besser zu unterrichten, das kommt jetzt, glaube ich, gerade erst so richtig bei allen an.
"Es muss schnell vorangehen mit der Digitalisierung der Verwaltung"
van Laak: Aber was die 100.000 Verwaltungsmitarbeiter angeht, da sind Sie ja noch nicht so furchtbar weit mit der Digitalisierung. Ich habe gelernt, es gibt nur 11.500 mobile Endgeräte für diese 100.000 Verwaltungsmitarbeiter und von denen können sich nur maximal 4.000 gleichzeitig ins Internet einwählen. Das heißt, das macht gerade einmal 4 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus.
Müller: Das müssen auch nicht in jeder Sekunde alle 100.000 machen, das muss man auch wieder sagen.
Van Laak: Aber vielleicht 50.000.
Müller: Da muss man sehen, dass die 100.000 sich natürlich aufteilen auf 100 landeseigene Institutionen, Organisationen, auf zwölf Bezirke, auf Hauptverwaltung und Bezirksverwaltung. Damit will ich es nicht schönreden. Ich sage ja selbst, es wird noch dauern und es muss auch noch mehr passieren und es muss schnell vorangehen mit der Digitalisierung der Verwaltung, aber es ist eben auch nicht so durch die verschiedenen Entscheidungsebenen, dass es auf Knopfdruck geht.
van Laak: Und die für 2023 eigentlich versprochene E-Akte, ein ganz, ganz wichtiger Digitalisierungsschritt, kommt auch nicht.
Müller: Ja, das hat nun auch wieder mit Ausschreibungsverfahren zu tun und was es da für Konkurrenzsituationen gibt bei der Umsetzung dieser technischen Möglichkeit. Ich glaube, wir konnten zeigen, beim Kfz-Amt oder bei den Bürgerämtern, beim Finanzamt, dass vieles auch schon ganz gut funktioniert mit online oder eben digitalen Angeboten, aber es wird ein Milliardenprogramm sein, das wirklich umzusetzen in der ganzen Verwaltung, wenn man an die Schulung denkt, an die Hardware denkt. Vielleicht ist es auch so, dass jetzt eben durch diese Corona-Krise wir auch sehen werden, dass wir so dramatische Finanzausfälle haben, Steuerausfälle haben, Mehrkosten haben, dass vielleicht sogar das eine oder andere auch noch länger dauern wird. Ich hoffe, es wird nicht die Digitalisierung sein. aber man darf sich die Welt auch nicht schönreden. Das, was wir in den letzten Wochen erlebt haben, wird nicht spurlos an uns vorübergehen.
"Man spart, damit man in solchen Situationen handlungsfähig ist"
van Laak: Alleine Berlin nimmt fünf Milliarden neue Schulden auf. Alle waren ganz stolz, die Stadt hat es geschafft, in den letzten Jahren die Schulden abzubauen und von einem Tag auf den anderen geht es wieder drastisch nach oben.
Müller: Ja, das ist ganz bitter. Das sind wirklich Konsolidierungserfolge, Sparerfolge der letzten Jahre, die jetzt eben für so eine Situation gebraucht werden. Gut, dafür konsolidiert und spart man auch, damit man in solchen Situationen handlungsfähig ist. Das sind wir. Von einem Tag auf den anderen konnten wir zwei Milliarden einsetzen für ein Kleinstzuschussprogramm, für 200.000 Kleinselbstständige in der Stadt. Also es war gut, dass wir diese Möglichkeiten uns geschaffen haben und wir fangen nicht ganz wieder da an, wo wir vor zehn Jahren gestanden haben, weil die Stadt sich ja doch weiterentwickelt hat. Wir haben inzwischen eine eigene wirtschaftliche Stärke entwickelt, nicht nur im Tourismusbereich, sondern eben auch in der Wissenschaft, auch in einigen Industriebereichen. Daraus können wir ja auch schneller wieder Kraft schöpfen, als wir es vor zehn Jahren konnten.
van Laak: Kommen wir noch zu einer aktuellen Umfrage, Herr Müller. Die CDU hat im Vergleich zur letzten Infratest-Umfrage um fünf Prozentpunkte zugelegt, liegt jetzt seit langer Zeit wieder auf Platz 1 im Land Berlin. Auch die SPD, Ihre Partei, hat ordentlich zugelegt, von 16 auf 20 Prozent. Ist das so der Merkel-Effekt, der Regierungseffekt, der da durchschlägt?
Müller: Ja, da darf man sich nichts vormachen. Natürlich schlägt diese Situation auch politisch entsprechend durch und die Bundesregierung macht da, glaube ich, in vielen Bereichen einen sehr guten Job und das zahlt eben auch bei CDU und SPD ein. Man sieht auf der anderen Seite, glaube ich, auch, wenn man sich dann die einzelnen Werte auch der Handelnden anguckt, dass auch die Ministerpräsidenten mit ihrer Arbeit sehr anerkannt sind und dass es da auch viel Zustimmung in der Bevölkerung gibt. Das ist jetzt so, dass doch viele Menschen sehen wollten, können sie den politischen Akteuren, die in der ersten Reihe stehen, vertrauen und offensichtlich wurde in vielen Bereichen dieses Vertrauen auch gerechtfertigt.
"Es ist verabredet, dass ich nicht mehr für eine weitere Amtszeit zur Verfügung stehe"
van Laak: In zwei Wochen wäre ja eigentlich der Landesparteitag der Berliner SPD. Sie als bisheriger Landesvorsitzender hätten den Job abgegeben. Wie geht es denn da weiter?
Müller: Erst einmal müssen wir einen Raum finden und eine Möglichkeit haben, wieder zu tagen. Die Berliner SPD hat 270 Delegierte, dazu kommen dann immer Gäste des Parteitags, Journalisten, die da mit dabei sind. Wir haben schnell 400, 500 Leute, während wir da tagen, und das geht eben im Moment nicht. Auch wir müssen diese ganzen Regeln beachten und das ist eine Großveranstaltung, die nicht stattfinden kann. Wir finden im Moment gar keinen Raum und können ja auch gar nicht planen. Geht so ein Parteitag dann im August, im September, im Oktober, auch wir müssen der Situation angepasst dann entscheiden. Insofern ist erst einmal geschoben. Wir hoffen, dass wir irgendwie vielleicht im Oktober einen Parteitag machen können, aber genau weiß es keiner.
van Laak: Aber bei den Verabredungen bleibt es, sprich, es treten an Raed Saleh und Franziska Giffey als neues Führungsduo. Giffey wird dann Spitzenkandidatin und Sie treten nicht noch einmal an?
Müller: Na, da haben Sie jetzt aber viel vorweggenommen. Die Verabredung ist, dass Raed Saleh und Franziska Giffey antreten für den Landesvorsitz. Wir werden sehen, ob es auch vielleicht andere Kandidaten gibt, ob die beiden gewählt werden, aber es ist verabredet, dass ich nicht mehr für eine weitere Amtszeit als Parteivorsitzender zur Verfügung stehe und die beiden kandidieren. Darüber werden die Delegierten entscheiden und alles andere in Richtung Berliner Wahl und Spitzenkandidatur haben wir auch miteinander zu verabredet und vom ersten Tag an kommuniziert. Alles andere wird dann zu einem anderen späteren Zeitpunkt entschieden, so wie es auch üblich ist.
"Es geht ja auch nicht nur um die Person"
van Laak: Das heißt, Sie treten nicht noch einmal an für die Abgeordnetenhauswahl, ja oder nein?
Müller: Das heißt das, was ich gerade gesagt habe. Die Spitzenkandidatur zu einer Landtagswahl wird entschieden so fünf, sechs Monate vor der Wahl. Das ist üblich eigentlich bei allen Parteien. Wir haben, wenn im September Wahl in Berlin war, immer so rund um den Mai entschieden, wer wird Spitzenkandidat und wie sieht das Wahlprogramm aus. Es geht ja auch nicht nur um die Person. So wollen wir es eigentlich auch jetzt für die kommende Wahl halten. Wir werden sehen, ob das überhaupt alles mit den Zeitplänen so klappt, weil wie gesagt, wir müssen erst einmal sehen, wie wir auch diese Corona-Situation bewältigen.
van Laak: Wenn die Berliner Bundestagsabgeordnete Eva Högl Wehrbeauftragte des Bundestages wird, dann würde sie bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr antreten und dann gäbe es einen Platz für Sie.
Müller: Das ist ja noch weiter hergeholt jetzt, weil die Bundestagsliste, die wird wieder nach ganz anderen Kriterien entschieden und da spielt natürlich die Mann-Frau-Frage eine Rolle, weil wir in einem Reißverschlusssystem wählen, aber es gibt viele Kandidaten, viele, die jetzt schon im Bundestag sind und weitermachen wollen, viele, die neu dazukommen wollen, und das werden wir dann auch noch sehen, wie sich das entwickelt.
Scholz hat "gute und wichtige Entscheidungen getroffen"
van Laak: Gut, Herr Müller, dann gucken wir doch zum Schluss noch einmal kurz auf die Bundespolitik in Ihrer SPD. Wir erleben ja gerade einen starken Vizekanzler, Olaf Scholz, aber der hat sich ja nicht durchgesetzt im Wettbewerb um den SPD-Bundesvorsitz. Im Gegenzug spielt ja das aktuelle Führungsduo Esken/Walter-Borjans in der öffentlichen Debatte eine vergleichsweise unbedeutende Rolle. Widersprechen Sie mir da?
Müller: Das hat jetzt auch mit der Situation zu tun. Auch das sieht man bundesweit und in allen Parteien, dass im Moment für die Parteigremien es ja auch nicht einfach ist, so diese grundsätzlichen Fragen, mit denen sich Parteien auseinandersetzen, wie geht es weiter in der Verkehrspolitik, wie geht es weiter in der Umweltpolitik. Es ist ja für die alle nicht so einfach, da jetzt gehört zu werden, weil natürlich alle hören wollen und sich darauf konzentrieren, was sagt eine Regierung, wie geht es weiter mit Einschränkungen oder Lockerungen im Zusammenhang mit Corona. Dadurch wird natürlich dann auch ein Bundesminister wie Olaf Scholz ganz anders wahrgenommen, aber wie ich finde, auch sehr gut wahrgenommen.
van Laak: Aber es wäre doch noch besser für die SPD, wenn er jetzt auch Vorsitzender wäre.
Müller: Ich glaube, das hat nicht zwingend etwas miteinander zu tun, denn man sieht es ja. Er ist es nicht und wird sehr positiv und als sehr stark wahrgenommen und hat ja auch gute und wichtige Entscheidungen getroffen. Andere im Kabinett auch, aber das ist schon natürlich für einen Finanzminister, der eigentlich auf die Finanzen achten muss, wirklich ein dickes Brett, hunderte Milliarden von einen Tag auf den anderen zur Verfügung zu stellen, und wie schnell und unbürokratisch er das gemacht hat, hat durchaus beeindruckt.