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Müller (SPD) zu Atommüll-Endlager
"In der Vergangenheit wurde dramatisch getrickst in der Frage Gorleben"

Für SPD-Umweltpolitiker Michael Müller ist ein konfliktfreier Ablauf bei der Suche nach einem Atommüll-Endlager eine Illusion. Dass der Standort Gorleben nun herausfalle, sei eine "unrühmliche Geschichte". Es müssten wissenschaftliche Kriterien bei der Standortsuche gelten und nicht politische, sagte Müller im Dlf.

Michael Müller im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
In der Halle des Zwischenlagers Ahaus: Vor dem abgesperrten Areal um die blauen Castoren steht ein Strahlenmessgerät
Standortsuche, hier Zwischenlager Ahaus: "Die Grundlagen und die Transparenz und die Wissenschaft, die müssen sauber sein", sagt Michael Müller (Frank Grotelüschen/Dlf)
In zwei Jahren geht der letzte Atommeiler in Deutschland vom Netz. Nun gibt es erstmals eine Liste mit möglichen Gebieten für ein Atommüll-Endlager in Deutschland. Lange Zeit hatte sich die Politik vor dieser Generationenaufgabe mehr oder weniger gedrückt, oder einfach auf Gorleben gesetzt, das lange Jahre als Endlager gehandelt worden ist. Doch bei der am Montag (28.09.2020) vorgelegten Liste der Bundesgesellschaft für Endlagerung fehlt Gorleben. Dass Gorleben nun nicht auftaucht in der Liste habe auch mit einer Änderung im Standort-Auswahlgesetz zu tun, sagt der SPD-Umweltpolitiker und ehemalige Co-Vorsitzende der Kommission, Michael Müller.
Luftaufnahme mit einer Drohne atomaren Zwischenlager Gorleben in Niedersachsen
Die fast unmögliche Standortsuche für radioaktiven Abfall
Wenn 2022 die letzten deutschen Atommeiler vom Netz gehen, stellt sich die Frage: An welchen Standorten kommt ein Endlager für hochradioaktiven Atommüll infrage? Eine Vorauswahl ist nun bekannt.

Jörg Münchenberg: Herr Müller, gleich 90 Regionen sind jetzt in die engere Vorauswahl gekommen. Ist das ein kluger Ansatz? Das hört sich doch fast ein bisschen danach an, fast überall ist ein Endlager möglich.
Michael Müller: Na ja, mit Ausnahme des Saarlandes sind auch alle Bundesländer betroffen, am meisten von Ton. Das nimmt den flächenmäßig größten Anteil ein. Danach kommt Kristallin und dann Salz, aber das liegt daran, dass Salzstöcke natürlich auch entsprechend kleiner sind.
Das Verfahren ist so, dass es in drei Stufen abläuft. Das erste war die geologische Definition von möglichen Standorten. Dann kommt die überirdische Erkundung und dann in der dritten Phase die unterirdische Erkundung, und wenn die durch ist, wird einer oder mehrere Standorte der Politik empfohlen.
SPD-Umwelt-Politiker Michael Müller
SPD-Umwelt-Politiker Michael Müller: "Es darf nicht mehr so gehen wie bei Gorleben, wo man getrickst hat" (imago stock&people)
"Es muss ausschließlich die Wissenschaft gelten"
Münchenberg: Trotzdem ist doch eigentlich Streit schon vorprogrammiert. Bayern hat schon einmal die rote Karte gezeigt. Das haben wir gerade auch im O-Ton gehört. Endet die Endlagersuche nicht am Ende doch wieder im großen Streit?
Müller: Dass das konfliktfrei abläuft, ist aus meiner Sicht eine Illusion. Aber wir haben in der Kommission und dann auch im Bundestag klar festgelegt: Es gibt eine sogenannte nationale Depotpflicht. Das heißt: Das Land, das den Schrott produziert hat, ist dafür auch zuständig. Das heißt: Deutschland muss nach den bestmöglichen Kriterien der Sicherheit einen Standort finden. Und da kann dann kein Kriterium sein, ob irgendeine Partei das verhindert, sondern dann muss ausschließlich die Wissenschaft gelten.
Blick in die Halle des Zwischenlagers Ahaus: In verschiedenen Bereichen der aus massivem Beton errichteten Halle stehen gelbe, blaue und rote "Castoren" - die Sicherheitsbehälter mit den ausgebrannten Kernbrennstäben 
Aiwanger: "Jedes Bundesland wird sagen, ich bin ungeeignet"
"Am Ende ist auch die Wissenschaft politischen Kriterien ausgesetzt", sagte Hubert Aiwanger (Freie Wähler). Mit Gorleben habe man geglaubt, fast am Ziel zu sein, "jetzt geht die ganze Soße wieder von vorne los".
Münchenberg: Aber ist das nicht vielleicht auch genau das Grundproblem, dass man jetzt die Verantwortung ein Stück weit auf die Wissenschaft abschiebt, weil am Ende wird es und muss es doch auch wieder eine politische Entscheidung sein?
Müller: Ja, natürlich. – Natürlich! – Aber die Grundlagen und die Transparenz und die Wissenschaft, die müssen sauber sein. Das ist ja das, was wir in der Vergangenheit – nicht wir, ich auch nicht; ich bin schon seit 1968 gegen die Atomenergie –, das ist ein Punkt, den wir uns eingebrockt haben, und der muss jetzt gelöst werden. Das ist am Ende eine politische Entscheidung. Es darf halt nur nicht mehr so gehen wie bei Gorleben, wo man getrickst hat und wo alle auch relevanten Einwände überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden sind, sondern man hat ein Gebiet ausgesucht, wo man glaubte, aufgrund der sozialen, der wirtschaftlichen und der geographischen Voraussetzungen würde man den wenigsten Widerstand erwarten.
Gorleben - "Alle Punkte waren vorher bekannt"
Münchenberg: Aber ist das klug, Herr Müller, dass man Gorleben jetzt einfach wieder rausgenommen hat? Aus Bayern kommt der Vorwurf, jahrzehntelang hieß es, Gorleben sei sicher und jetzt plötzlich nicht mehr.
Müller: Ja! Das ist ja einer dieser Punkte. In der Vergangenheit wurde dramatisch getrickst in der Frage Gorleben. All die Punkte, die jetzt dazu geführt haben, dass die BGE, die Bundesgesellschaft für Entsorgung, Gorleben rausgenommen hat, waren vorher bekannt. Im Gegenteil: Man hat die Kriterien sogar ein bisschen runtergestuft. Früher war das sichere Deckgebirge eine unabdingbare Voraussetzung. In dem Standort-Auswahlgesetz, das wir jetzt haben, wird es zu einem Abwägungskriterium. Und trotzdem reichen die Einwände aus, um klar zu sagen, das geht nicht. Hier ist eine Geschichte, die höchst unrühmlich ist und die nur etwas mit Willkür zu tun hat, aber nicht mit sauberen Kriterien.
Münchenberg: Herr Müller, Sie selbst hatten ja damals gefordert, Gorleben müsse sowieso schon rausgenommen werden, bevor diese Empfehlungen überhaupt auf den Tisch gekommen sind. Auch das hört sich ja nach einer politischen Entscheidung an.
Müller: Nein. Ich wollte eine politische Entscheidung korrigieren. Es gibt ja keinen anderen Standort, der so intensiv untersucht wurde und wo so viel bekannt wurde, und ich habe das als eine Art Wiedergutmachung angesehen. Denn die These von der weißen Landkarte ist ja falsch.
Wir haben keine weiße Landkarte, denn es gibt einen Standort, der sehr präzise untersucht worden ist und von dem wir wussten, was es dort für Probleme gibt. Und genau das wollte ich korrigieren. Man hätte sich das jetzige Verfahren schenken können, denn auch beispielsweise Herr Kanitz, der ja damals in der Kommission war, wusste genau, welche Probleme es gab. Jetzt als Geschäftsführer der BGE nennt er sie; warum hat er sie nicht früher genannt.
"Finanziell einige Punkte kritisch hinterfragen"
Münchenberg: Aber das Argument ist schon auch, dass man sagt, man hat in Gorleben so viel Geld investiert zur Erkundung dieses Salzstocks, und der taucht jetzt nicht einmal mehr auf.
Müller: Ja, da gibt es geldmäßig bei der Frage des Atommülls einige Punkte, die man kritisch hinterfragen muss. Aber wenn Sicherheit zuerst und oberstes Prinzip ist, dann muss man das auch berücksichtigen. Ich finde übrigens genauso problematisch, dass man die Rückstellungen oder die Summen, die die Atombetreiber zurückgeben müssen, gedeckelt hat, die sogenannten Rückstellungen, anstatt die wahren Kosten zu berechnen. Das finde ich auch nicht in Ordnung.
Kanitz (BGE): "Das ist ein sehr partizipatives Verfahren"
54 Prozent der Fläche Deutschlands kommen laut Bundesgesellschaft für Endlagerung als Endlager in Frage. Bei der Wahl sei auch Bürgerbeteiligung erwünscht, sagte Geschäftsführer Steffen Kanitz im Dlf.
Münchenberg: Herr Müller, der zivile Widerstand gegen unliebsame Projekte und Maßnahmen hat sich in den letzten Jahren ja eher noch verschärft – zum Beispiel gegen die Windräder, aber jetzt auch gegen die Corona-Maßnahmen der Behörden. Werden wir jetzt nicht einen viel schärferen Konflikt erleben bei der Suche nach einem neuen Endlager, angesichts der doch ja eher aufgeheizten Stimmung?
Müller: Das ist ein generelles Problem unserer Gesellschaft, aber nicht nur unserer Gesellschaft, sondern unserer Zeit, das mir große Sorgen macht. Während in der Nachkriegszeit trotz aller Unterschiede, die ja zum Teil gravierend waren, es einen sozialen Grundkurs gab, gibt es heute in der Gesellschaft keinen Grundkurs mehr. Das sage ich nicht nur, weil da neue populistische oder nationalistische Parteien entstanden sind, sondern generell lässt die Politik einen, von allen getragenen Grundkonsens vermissen.
Die sozial-ökologische Erneuerung unserer Republik ist das große Thema der nächsten Jahrzehnte. Wir müssen weg von unserem bisherigen Politikverständnis, dass wir erst mal was in Gang setzen und dann gucken, welche Probleme damit verbunden sind, hin zu einer Politik, die langfristig vorausschauend entscheidet.
"Versagen einer nicht eindeutigen Politik"
Münchenberg: Lassen Sie mich da vielleicht noch mal kurz einhaken. Sie haben ja selbst die Spaltung der Gesellschaft gerade angesprochen. Da stellt sich schon die Frage bei so einem hoch emotionalen Thema wie die Endlagerung: Wie soll da ein Konsens gelingen?
Müller: Der Konsens kann nur gelingen, wenn man eine klare Position, klare Kriterien und klare Zielvorstellungen hat, wenn klar ist, wo es hingeht. Wir haben das ja beispielsweise auch in der Atomenergie erlebt. Nachdem man konsensual gesagt hat, wir wollen raus, und das von allen Parteien getragen wurde, war der Streit beendet, und so muss es auch jetzt klar sein. Es gibt in dieser harten Frage, in der ich beispielsweise nicht für den Atommüll verantwortlich bin, fühle ich mich bei einer bestimmten sauberen Linie auch verpflichtet, die zu unterstützen. Das heißt, ich sehe eher ein Versagen einer nicht eindeutigen Politik oder einer nicht eindeutigen Vertretung künftiger Linien, was auf die Gesellschaft zukommt und wie wir damit umgehen, als das entscheidende Problem für den, wie ich auch finde, besorgniserregenden Zustand einer zunehmenden Desintegration unserer Gesellschaft.
Münchenberg: Aber noch mal: Am Ende wird die Politik entscheiden müssen, und die Frage ist ja schon, wird das dann wirklich nur nach wissenschaftlichen Kriterien möglich sein, oder geht es zum Beispiel auch um finanzielle Anreize.
Müller: Es geht vor allem danach, ob die Politik dann so sauber, transparent und auch nach den wissenschaftlichen Kriterien vorbereitet ein Verfahren findet, das zu einer überzeugenden Entscheidung kommt. Da kann man möglicherweise auch anderer Meinung sein, aber man kann die Logik der Entscheidung und das Verfahren nicht mehr in Frage stellen. Darum geht es. Und ob die Politik das hinkriegt, das kann ich nur hoffen, denn die Atommüll-Frage ist keine isolierte Frage. Sie steht letztlich für einen Wechselpunkt in unserer Gesellschaft, dass wir nicht mehr diese permanente Gegenwart in unseren Entscheidungen haben, sondern dass wir tatsächlich die Zukunft einbeziehen müssen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.