"Und dafür geben die der alten Kraxler noch ein Geld, sagte der Eierwastlbauer, der war fassungslos als er gehört hatte, dass die Stunde bei der Kammersängerin acht Reichsmark kostete."
Semi erzählt, Semi erinnert, Semi, das ist der Sohn des Seewirts, der dem Geschehen über große Strecken wie ein Außenstehender zuschaut und dabei wie ein Unsichtbarer durch die Geschichte seiner Familie und seiner Ahnen tappt. Semi, das ist schon in dem Roman "Mittelreich" das Alter Ego des Schauspielers und Autors Josef Bierbichler, mit dessen Hilfe er das Jahrhundertpanorama der eigenen Familie weit über eine bayerische Chronik hinaus zu einem Geschichtenpanoptikum und damit zu einem wuchtigen und beeindruckenden Stück Literatur über das 20. Jahrhundert gemacht hat.
Zu Beginn, zur Trauerfeier sitzt Semi an der Rampe wie die anderen fünf aus der engsten Familie, Stuhl neben Stuhl, gestorben ist der Vater, der Seewirt, der sitzt auch unter ihnen, denn er wird ohnehin wieder auferstehen und Szenen aus seinem Leben spielen. Sie sitzen da und singen: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.
Unter der Regie von Anna-Sophie Mahler
In ihrer ebenso klugen wie eigenständigen Theatralisierung macht Regisseurin Anna-Sophie Mahler das Ende zum Anfang und damit die Trauerfeier zum Ausgangspunkt und benutzt zugleich das dort gespielte Requiem, um ihrer Theaterversion von "Mittelreich" Form Rhythmus und Ästhetik zu geben. Dabei kontrastieren oder kommentieren einzelne Brahmsche Sätze immer wieder das Geschehen. Viele Szenen kommen oder münden in den Gesang, bei dem die Schauspieler vom Chor des Jungen Vokalensembles München unterstützt werden. Zwei Klaviere eine Pauke komplettieren das Arrangement, das sich sehr bewusst Musiktheater nennt und dabei unter der Leitung der Dirigentin Bendix Dethleffsen steht.
"Ich sehe den nackten Mönch in seiner Kutte den einen Fuß auf meine Brust gesetzt und darunter mit der einen Hand den prallen und dunkelrot gefärbten Seelenmörderschwanz massieren."
Natürlich geht es auch zur Sache in diesem Mittelreich, aus dem die Lemuren der Vergangenheit aufsteigen. Da ist der Missbrauch in der Hölle eines katholischen Klosters, dem der junge Semi hilflos ausgeliefert ist, dessen Hilferufe die Eltern einfach ignorieren. Da ist der Küchentransporter im Feld 1944, mit dem der Vater zum Helfershelfer bei einer Vergasung jüdischer Kinder wird. Da ist der junge Seewirt, dessen künstlerische Ambitionen als Sänger im Keim erstickt werden, weil er das Erbe antreten muss.
Mit brillanten Schauspielern
Es geht um Schuld und Verdrängung, es geht um Bekenntnis und die Suche nach Trost, und: Es geht um das Erbe, das die Gestorbenen hinterlassen, sei es in Form einer Wirtschaft, sei es in der ihrer Traumata oder: ihrer Schuld. In dem Bühnenraum von Duri Bischoff, in dem sich ein kahler Wirtshaussaal in seiner schäbigen Erinnerungskopie noch einmal nach hinten verdoppelt, in diesem Raum stehen Regisseurin Anna-Sophie Mahler so brillante Schauspieler wie Steven Scharf oder Anette Paulmann zur Verfügung.
Und so kann man mit Recht behaupten, dass Anna-Sophie Mahler und ihrem Team bei aller Behutsamkeit eine wahrhaft kongeniale Roman-Theatralisierung gelungen ist. Dass er dies ebenso empfindet, demonstrierte kein Geringerer als Josef Bierbichler selbst, der sich beim Applausauftritt der Regisseurin mitten im Publikum demonstrativ von seinem Sitz erhob. Was für eine schöne Geste.