Archiv

Münchner Kammerspiele
Ein melancholischer, irritierender "Kirschgarten"

Nicolas Stemann hat Tschechows "Kirschgarten" an den Münchener Kammerspielen inszeniert. Das Theater selbst ist wie der Kirschgarten – das ist vielleicht die steilste These dieser ebenso brillanten wie hochkomplexen Interpretation mit einem großartigen Ensemble.

Von Sven Ricklefs |
    V.l.n.r.: Brigitte Hobmeier, Annette Paulmann, Gundars Āboliņš, Samouil Stoyanov, Mariann Yar, Julia Riedler, Ilse Ritter in der Aufführung "Der Kirschgarten"
    V.l.n.r.: Brigitte Hobmeier, Annette Paulmann, Gundars Āboliņš, Samouil Stoyanov, Mariann Yar, Julia Riedler, Ilse Ritter in der Aufführung "Der Kirschgarten" (Münchner Kammerspiele/ Thomas Aurin)
    Anton Tschechow selbst war sie die wichtigste Figur in seinem Kirschgarten, die immer mit der besten Schauspielerin besetzt werden sollte: Die Gouvernante Scharlotta Iwanowna, die Gauklertochter, die zaubern kann und von sich selbst sagt, sie hätte keinen Ort. Und das, wo doch alle anderen im Stück diesen Ort haben: den Kirschgarten, dieses Sinnbild des Überkommenen, des Schönen aber auch Nutzlosen, an dem fast alle festhalten, auch wenn er der neuen Zeit weichen und abgeholzt werden soll.
    Der Regisseur der Münchner Aufführung, Nicolas Stemann, richtet nun tatsächlich sein Augenmerk auf diese Figur, indem er sie mit Brigitte Hobmeier besetzt. Es ist die Abschiedsrolle dieser virtuosen Schauspielerin, die die Kammerspiele von Matthias Lilienthal auf eigenen Wunsch verlässt, weil sie sich unterfordert fühlt. Ihr nun in dieser Rolle der Gauklerin zuzuschauen ist noch einmal ein Geschenk. Und wie sie sich in einem "Was-bisher-geschah" zu Beginn des zweiten Teils mal eben durch alle Rollen sampelt, das ist eine Wucht:
    "Anja muss einen reichen Mann heiraten, damit ich ins Kloster gehen kann, Ranjewskaja: Petja bitte nicht Du erinnerst mich an meinen Sohn, Grischa, er ist doch im Fluss ertrunken. Was soll ich denn nur machen. Anja: Hey Petja, zum Fluss, hey".
    Diese Art des Schauspielertheaters ist der eigentliche Kirschgarten
    Doch so virtuos diese Szene auch ist, zugleich persifliert sie natürlich das herkömmliche Theater mit seiner "Ich-schlüpf-da-mal-eben-in-eine-Rolle"-Behauptung ebenso wie diese Szene auch das Stück selbst und seine Handlung zur Disposition stellt. Und so ist das Theater selbst eines der Themen, auf das diese ebenso brillante wie hochkomplexe neue Münchner Kirschgarten-Interpretation ihr Augenmerk lenkt.
    Zwar hat Nicolas Stemann– sehr ungewöhnlich für ihn – klassisch Rolle für Rolle besetzt, teilweise mit Theaterstars wie eben Brigitte Hobmeier, Ilse Ritter, Anette Paulmann oder Peter Brombacher, er lässt "Theater spielen", auch wenn die Bühne offen ist, Mikrofone herumstehen, fast alle immer zugegen sind und so der Werkstattcharakter auch immer betont wird. Doch zugleich suggeriert diese Aufführung in fast jedem Augenblick: Eigentlich geht das nicht mehr. Eigentlich ist diese Art des Schauspielertheaters der eigentliche Kirschgarten, also das, was überkommen ist, der Garten, der zwar schön ist, aber nichts mehr abwirft, der abgeholzt werden muss.
    Diese Inszenierung zweifelt
    Dabei spielt der knallrote Vorhang mit seiner unerträglichen Goldkante, der immer wieder in den unpassendsten Momenten hereinweht, der auf und zugeht oder sich selbstständig macht, eine nicht unerhebliche Rolle. Doch bei aller Ironie schwingt da natürlich auch eine gehörige Portion Melancholie mit. Es ist, als wolle dieser "Kirschgarten" sagen, so geht es einfach nicht mehr, aber wie es anders gehen soll, das wissen wir ebenso wenig wie Tschechows Figuren. Diese Inszenierung zweifelt, sie zeigt sich verletzlich und stellt sich damit mutig mitten in die Diskussion, die zurzeit um die Kammerspiele von Matthias Lilienthal tobt. Dabei durchweht ihre Melancholie natürlich auch Tschechows Stück selbst, der ja als Autor von der unausweichlichen Notwendigkeit eines Wandels kurz vor der russischen Revolution 1905 fest überzeugt war.
    Dass auch wir in Zeiten des Umbruchs leben, uns von Altbewährtem trennen und den Aufbruch wagen müssen. Und das nicht nur, was das Theater angeht. Auch daran lässt diese Aufführung mit ihrem brillanten Ensemble keinen Zweifel. Spätestens wenn der alte Diener Firs, der seine Leibeigenschaft nie aufgeben wollte und dem als dem Vergessenen bei Tschechow die letzte melancholische Szene gehört, wenn dieser Firs hier nun plötzlich zum Sprachrohr einer sich aufbäumenden neuen Rechten wird:
    "Die Dinge sollen bleiben, wie sie sind, und wieder werden, wie sie waren. Männer sind Männer, Frauen sind Frauen. Knechte sind Knechte. Herren sind Herren. Und wenn ein Vorhang fällt, dann fällt ein Vorhang." Ein irritierender und toller Schluss.