Der Traum wird schnell zum Albtraum für die Familie Parondi. "Rocco und seine Brüder" landen auf der Straße. Der bedingungslose Familienzusammenhalt mit dem Mama-Focus hat ausgedient. Was übrig bleibt, sind diffuse Ehrbegriffe und archaisch anmutende Machtraufereien, die die auseinandergebrochene Familie symbolisieren. Der Boxring, der sich auf die leere Bühne senkt, ist kein Ersatz, sondern steht für Scheinwelt und soziales Nirwana:
"Es ist genau ein Jahr und dein verpisster Bruder und deine Scheißfamilie, als ob es auf dieser Welt nichts Wichtigeres gibt als eine Familie von Behinderten! – Pass auf, Nadia! – Liiebe."
"Neorealismus" nannte man das, was Luchino Visconti aus dem italienischen Sozialdrama in eindrücklicher Bildsprache auf die Leinwand gebracht hat. Regisseur Simon Stone setzt mit seiner Bühnenfassung mindestens eins drauf, indem er auf einen zeitgeistigen Hyper-Realismus zielt, wo allerdings das, was Viscontis unter die Haut gehender Film auszeichnet, banal wird und oberflächlich abspult. Alles wird ausgewalzt, nichts bleibt mehr interpretierbar, und das in einem aufgeputschten Handlungsparcours, als wär's ein rasant, in kurzen Takes geschnittenes Video, wobei jeder der 55 neonrot übertitelten Schauplätze durchschnittlich rund zwei Minuten bekommt. Das fängt an mit "Flughafen" und endet in anschaulicher Vergewaltigung und Mord durch den abgestürzten Champion Simone, der weder mit Ruhm noch mit Reichtum zurechtkommt. Kennt man doch von den durch Drogen und Alkohol gekennzeichneten Popstars, die sich mit ihren aufgebrezelten Lovergirls heutzutage auch nicht im Ambiente eines distinguierten "Schlosshotels" benehmen können:
"Simone... - Ich hab das im Griff! – Ich glaube, wir sollten... - Bitte halt den Mund, ich hab das im Griff. – Bitte? – Bittebittebitte, Baby, halt deine wunderschöne Fresse, halt deinen verfickten Mund! Wir werden ein romantisches Wochenende miteinander verbringen, mit Champagner, und einen Ausflug auf den See, und ich werde Sahne aus deinen Nippeln lecken, und mit der Zunge alles abschlecken, weil, ich hab nämlich jedes Recht dazu!"
Ungeschminkte Wirklichkeit wird durch ungeschminkte Fäkalsprache ausgedrückt
Die ungeschminkte Wirklichkeit drückt sich in ungeschminkter Fäkalsprache aus. Passt, weil realistisch, und ist nicht so schlimm, wie das angegraute Münchner Abonnentenpublikum fand, das dieser neuen Intendantenära der Münchner Kammerspiele bestimmt nicht mehr huldigen wird. Dafür hat sich Intendant Matthias Lilienthal ja auch nicht den Jungregisseur Simon Stone aus der Schweiz geholt, der mit seinen 31 Jahren - ja, was denn? - vielleicht den Sound von Gangster-Rap und HipHop-Looser und Internationalität demonstrieren will? Und alles ohne Vorhang –so was von gestern! – auf der schwarz umrandeten, unbelassenen Bühne, über der die Übertitel die Schauplätze markieren, die Schauspieler aber nonstop im Szenenwechsel zu agieren haben. Zum Beispiel vom "Bahnhofscafé" mit Rocco, dem sensiblen Ehrbaren und der Prostituierten Nadia, in die er sich verliebt, obwohl sie sein älterer Bruder Simone in Besitz genommen hat, in die "Wohnung der Parondis" mit Rocco und Mama Rosaria:
"Besuchst du mich mal, wenn ich wieder zuhause bin? – Ich dachte, du willst nach Südamerika. – Na ja, vielleicht warte ich noch ein bisschen. – Na dann! – Vielleicht kann ich das von dir lernen, ohne Angst. – Ich fasse es nicht! Schau dich an, dein Kreuz! Junge, du hast ja richtig Muckis! – Hallo, Mamma! – Mannmannmann, die Mädchen werden umfallen wie die Fliegen! – Mein Gott, wie geht es dir? – Ach, weißt du, diese Scheiß Hitzewallungen bringen mich einfach um. - Wo sind die andern?"
Drastisch, hektisch, laut, brutal, Halbstarke in einem permanenten Videoclip, das sind "Rocco und seine Brüder", die das auch schauspielerisch gut bis sehr gut erfüllen. Angetrieben vom Regisseur, der aber mit der Figur der italienischen "Mamma", diesem eigentlichen Ruhepol, offenbar nichts anfangen kann und deshalb mit der Besetzung der nervig-zickig spielenden Wiebke Puls einem großen Missverständnis aufgesessen ist. Dafür sticht Brigitte Hobmeier heraus, die ihre Figur der Prostituierten Nadia mit so viel Verve, Tiefe und trotzigem Realismus spielt, dass sich, wenn, dann deshalb die sonst flache Inszenierung, die auch mal zum Klamauk abrutscht, lohnt. Modern heißt ja nicht unbedingt Headset und die Sau rauslassen.