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Mumien aus dem Hohen Norden

Umwelt. - Im äußersten Norden Kanada sind Baummumien gefunden worden, Zeugen der Abkühlung im Polarkreis, die vor spätestens zwei Millionen Jahren die Gletscher vorstoßen ließ und die Vegetation auf Moose, Flechten und ein paar Büsche reduzierte. Über Millionen Jahre hinweg blieben die Bäume hervorragend konserviert, und wenn alle Untersuchungen abgeschlossen sein werden, wird man wohl um einiges besser wissen, wie die warme Welt des Tertiärs unterging und die Eiszeiten begannen.

Von Dagmar Röhrlich |
    Heute ist Ellesmere Island hoch im Norden Kanadas das Ende der Welt. Eine Landschaft aus Gletschern, Schnee und Eis, kahlem Felsen:.

    "Es ist eine polare Wüste, wo nur sehr wenig Niederschlag fällt. Im Winter können die Temperaturen unter minus 50 Grad Celsius fallen und für Monate so tief bleiben. Das ist wirklich nicht die Umwelt, in der Wälder wachsen."

    Und doch berichteten ihm Ranger von einer Stelle, an der sie Baumstämme gefunden haben, erzählt Joel Barker vom Byrd Polar Research Center an der Ohio State University. Er war fasziniert, denn heute bringen es die größten "Büsche" dort auf fünf Zentimeter.

    "Wir flogen mit dem Helikopter zu der Fundstelle und der Pilot erklärte uns, dass wir 30 Minuten hätten, um Proben zu nehmen. Als wir das ganze Holz dort sahen, rannten wir herum, um so viel Material wie möglich zu sammeln. Wir brauchten 45 Minuten, worüber der Pilot nicht glücklich war."

    Ein Jahr später entdeckten die Wissenschaftler eine weitere Fundstelle: Unter einem Kliff hatte ein Fluss eine große Menge Holz zusammengespült, das anscheinend bei einem großen Hangrutsch entwurzelt worden war:

    "Das längste Holzstück war länger als ein Schaufelstil. Auffällig war, wie schmächtig diese Bäume gewesen sind. In einem Stamm von nur vier Zentimetern Durchmesser haben wir überschlägig 75 Baumringe gezählt, das heißt, dieser Baum war wohl älter als 75 Jahre. Damit war klar, dass die Lebensbedingungen in dem Wald, in dem er einst wuchs, für Bäume brutal waren."

    Vor allem während der halbjährigen polaren Winternacht muss es kalt gewesen sein. Es war ein Wald, der ums Überleben kämpfte, erklärt Joel Barker. Dafür spricht auch die ungewöhnlich niedrige Artenvielfalt: In den Überresten finden sich nur Birken, Lärchen, Fichten und Kiefern - und die Pollen verraten, dass es in der Umgebung nicht anders aussah.

    "Wir fanden auch die Stelle, wo der Wald einmal gewachsen ist, und dort stecken noch Blätter im Boden - und zwar keine fossilisierten Blätter, sondern wirkliche Blätter. Geht man im späten Herbst in einen Wald, sehen sie nicht viel anders aus."

    Auch das Holz ist nicht versteinert, sondern mumifiziert, ausgetrocknet - und es ist brennbar. Die Frage war, wie alt dieses Holz sein kann, denn es ließ sich nicht mehr mit Hilfe der C-14-Methode datieren, weil der radioaktive Kohlenstoff in den Baumresten längst zerfallen war:

    "Wir mussten uns auf indirekte Hinweise verlassen, um den Zeitraum einzugrenzen. Ein Hinweis war, dass an der Fundstelle Pflanzen wie der Urweltmammutbaum fehlen, der vor 30 Millionen Jahren überall in Kanada wuchs. Weil die Bäume an der Fundstelle zu Arten gehören, die heute in der Tundra wachsen, gehen wir davon aus, dass die Abkühlung zu den Eiszeiten bereits begonnen hat. Also müsste der Wald jünger als zehn Millionen Jahre sein. Und weil es seit zwei Millionen Jahren in der Arktis keine Bäume mehr gibt, gibt das die Untergrenze: Danach wuchs dieser Wald zwischen zwei und zehn Millionen Jahren vor heute."

    Mumifizierte Wälder an sich sind in der Arktis nicht selten, aber alle bislang entdeckten wuchsen in wärmeren Zeiten. Weil die neue Fundstelle aus dem Übergang zu den Eiszeiten stammt und der Wald gerade noch überleben konnte, ist sie etwas Besonderes:

    "Wenn man beim Klima Übergänge untersuchen will, sind Ökosysteme am Rande ihrer Überlebensfähigkeit am interessantesten, weil sie auf kleinste Störungen reagieren. Wir hoffen durch die Analyse der Baumringe und der chemischen Zusammensetzung des Holzes den Klimawandel damals analysieren zu können, wie schnell es abkühlte und wie rasch die Ökosysteme darauf reagierten."

    Während diese Analysen noch andauern, verrotten an der Fundstelle im Norden Kanadas das Holz und die Blätter, die so lange im Boden überdauert haben. Für Mikroorganismen und Pilze ist der mumifizierte Wald ein Paradies. Und die Forscher fragen sich, wie viele solcher Waldmumien noch unter dem arktischen Eis stecken.