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Munch ist mehr als nur der "Schrei"

Knapp 60 Gemälde und beinahe ebenso viele grafische Werke Munchs sind in der Pariser Pinakothek versammelt - aber Ziel und Zweck des Ganzen, nämlich den norwegischen Maler Edvard Munch verstehen zu lernen, wurden eher nicht erreicht.

Von Björn Stüben |
    Wem beim Namen Edward Munch lediglich das weltberühmte Bild "Der Schrei" einfällt, das der norwegische Expressionist in mehreren Varianten zwischen 1893 und 1910 gemalt hat, der soll in der Pariser Pinakothek jetzt offenbar eines besseren belehrt werden. Dies scheint zumindest die Absicht der Ausstellungsmacher zu sein, haben sie ihre Schau, in der knapp sechzig Gemälde und beinahe ebenso viele grafische Werke des 1944 verstorbenen Norwegers zu sehen sind, provokant mit "Edvard Munch oder der Anti-Schrei" betitelt. Wird Ausstellungskurator Dieter Buchhart dem Besucher etwa einen ganz unbekannten Munch vorstellen?

    "Es gibt nur einen Munch. Aber der Munch, wie ihn die Menschen zumeist sehen, ist nun mal reduziert auf den Munch der Mitte der 1890er-Jahre, jener, der den 'Schrei', 'Melancholie', 'Madonna', 'Vampir' gemalt hat. Aber Munch hat auch viel mehr entscheidende Errungenschaften in der Moderne geschaffen. In den 1880er-Jahren die Farbe attackiert, die Leinwand attackiert, gekratzt, gespachtelt. Um 1900 herum, wo er in einen monumentaleren Stil eintritt, wo er aber zuvor symbolistische Landschaften malt, wo er stark fauvistisch arbeitet vor den Fauvisten, in seinen Holzschnitten, wo er die Holzmaserung einfließen lässt – das hat alles überhaupt nichts mit dem Munch des 'Schreis' zu tun."

    Dennoch trifft der Besucher beim Gang durch die Ausstellung auf die Motiv-Klassiker Edward Munchs. Der lasziv sich räkelnde Frauenakt "Madonna" taucht in gleich vier Varianten auf. Auch Munchs berühmtes Thema "Vampir", von ihm ins Bild gesetzt als den Mann mit ihren langen Haaren umschlingende Frau und oft autobiografisch als sein ewiger Kampf mit dem anderen Geschlecht gedeutet, findet sich als kleinformatige Lithografie in der Schau wieder.

    Mit den grandiosen kolorierten Holzschnitten "Die Einsamen" ist Munch 1899 tatsächlich seiner Zeit voraus, in dem er die Maserung des Materials bewusst mit in den künstlerischen Ausdruck einfließen lässt. Schafft die Ausstellung es aber wirklich, sich vom gängigen Schema einer Munch-Retrospektive zu lösen? Die Schau geht durchaus chronologisch vor in der Präsentation der Werke und stellt somit ebenfalls eine Retrospektive dar, die allerdings ausschließlich mit Werken aus privaten Sammlungen bestritten wird. So kommt kein einziges Bild oder grafisches Blatt etwa aus dem Munch-Museum in Oslo. Sich auf private Leihgaben zu beschränken, stellt keinen Nachteil dar. So ist der "Winter" von 1900 aus einer Schweizer Privatsammlung ebenso gelungen, in Details vielleicht sogar noch ausdrucksstärker als es etwa die "Winternacht" aus dem Kunsthaus in Zürich wäre. Dieter Buchhart will aber eigentlich den Avantgardisten Munch vorstellen.

    "Mir geht es einfach darum, dann auch den Munch vorzustellen, der mit der Fotografie gearbeitet hat. Stummfilm ab 1910, was für ihn ein unheimlich wichtiges Thema war, denn er war fast ständig in Stummfilmen und hat die Perspektive übernommen, diese typischen Filme, die sozusagen von einer 'Kavaliersposition' runter gefilmt haben, wo dann die Menschenmassen gerade unterhalb der Kamera geströmt sind. Das sind alles Dinge, die Munch gemacht hat bis hin zur temporären Kollage, bis hin zur 'Rosskur', das heißt zu jener, wo er einfach seine Gemälde knallhart hinausgestellt hat ins Freie."

    An dieser Stelle beginnt die Schau leider zum Ärgernis zu werden. Beispielsequenzen aus Dokumentarfilmen der Stummfilmära, die erhellend sein könnten für das Verständnis einiger ungewöhnlicher Perspektiven auf Munchs Bildern fehlen ebenso in der Schau wie die offenbar doch für seine Malerei so bedeutsamen Fotografien. Dieter Buchhart:

    "Es sind ja nicht viele überliefert, weil seine Schwester Inga zerstörte nach seinem Tod den Großteil mit dem Argument, das macht ein Künstler nicht, dass er Fotos in seinen Werken verwendet. Und es sind vierzig fünfzig überliefert im Munch Museum heute und die sind im Katalog gut repräsentiert, aber in der Ausstellung selbst eigentlich nicht, weil es eben darum geht, die Sachen aufzuspüren in den Gemälden, die er in seinen Fotos macht."

    Mit anderen Worten: man gehe auf Spurensuche mit einem knapp drei Kilo schweren Katalog unter dem Arm, der bei fehlendem Anschauungsmaterial in der Ausstellung als Nachschlagewerk zum besseren Verständnis dienen soll – eine Zumutung. Dieter Buchhart hätte sich diesen Vorwurf vor knapp drei Jahren nicht gefallen lassen müssen anlässlich seiner Munch-Ausstellung in der Fondation Beyeler bei Basel. Munchs Modernität wurde den Besuchern anhand von zahlreichen ausgestellten Fotografien aus dem Museum-Museum in Oslo und Filmsequenzen deutlich. In Paris muss man darauf verzichten, dafür sind aber immerhin ganze Katalogpassagen der Baseler Schau ins Französische übersetzt worden.
    Das haben die Pariser, die seit über zwanzig Jahren keine umfassende Ausstellung mehr über den Norweger zu sehen bekommen haben, nicht verdient. Und Munch hat es erst recht nicht verdient.