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Mundtot gemacht

Am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen kämpfte Jan-Robert von Renesse lange Zeit für die Rentenansprüche ehemaliger Ghetto-Arbeiter. Er reiste sogar nach Israel und befragte die Betroffenen persönlich. Ein Engagement, für das er teuer bezahlten sollte.

Von Julia Smilga |
    Jan-Robert von Renesse ist Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen. Seine Behörde ist für die Klagen der Ghetto-Überlebenden aus Israel zuständig. Während seine Kollegen nach Aktenstudium und Internetrecherche urteilten, fragte sich einzig Renesse, ob die Arbeit in einem Ghetto wirklich freiwillig oder erzwungen war; und inwieweit das heutige Rentensystem auf die Zeit des Nationalsozialismus übertragbar ist?

    Er zog Historiker zu den Lebensumständen im Ghetto zurate. 500 Gutachten gab er in Auftrag. Acht Mal reiste er nach Israel und sprach mit 120 Überlebenden. Renesse ist der erste deutsche Richter, der sich die Mühe machte, persönlich die Aussagen der hochbetagten Überlebenden zu protokollieren. Der 44-Jährige erzählte damals:

    "Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass es ausreicht, irgendeinen Fragebogen hinzuschicken - was sonst die Praxis ist - und zu sagen: ’Nun schreib mal bitte auf drei Zeilen, wie war es im Ghetto. Vergiss mal bitte, dass deine Eltern da ermordet wurden, und sag doch, die Arbeit war doch schön?’ - Das kann ich im Grunde genommen als fast nur eine Verhöhnung empfinden, und das hätte ich nicht tun können. Dann hätte ich mir nicht im Spiegel ins Gesicht schauen können."

    Sein persönliches Engagement lässt sich womöglich mit seiner Familiengeschichte erklären. Sein Großvater, ein überzeugter Nationalsozialist, unterrichtete Französisch im Hause Goebbels. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich seine politische Überzeugung nicht. Als der Großvater obendrein dann auch noch mehrere Frauen heiraten wollte, um arisches Blut weiterzugeben, verließ ihn die Großmutter. Seine Mutter Margot von Renesse, selbst Richterin, saß für die SPD im Bundestag.

    Jan-Robert von Renesse selbst lernte seine zukünftige Frau in Polen kennen. Er erfuhr vom Vater seiner Schwiegermutter, der im KZ ermordet wurde. Sein Schwiegervater war als Zwangsarbeiter nach Magdeburg verschleppt worden. Als er vor ein paar Jahren die Zwangsarbeiterentschädigung bekam, sei seinem Schwiegervater nicht das Geld wichtig gewesen, erzählte Renesse. Sondern die Tatsache, dass in Deutschland seine Leidensgeschichte anerkannt wird. Ähnliches hörte der Richter auch bei Prozessen in Israel:

    "Wenn ich an all die vielen Begegnungen im Gerichtssaal denke, meist gab es einen Ausdruck von Versöhnung, weil es für viele ganz wichtig war, diese Geschichte am Ende ihres Lebens noch mal berichten zu können.
    Diese eindrucksvollen Menschen, die soviel durchgemacht haben und doch wieder ein neues Leben aufgebaut haben, und die die Güte besitzen oder die Größe, einem Deutschen gegenüber so etwas wie Versöhnung zu zeigen, - das hat mich tief beeindruckt, das wird immer ein Teil meines Lebens bleiben."

    Über seine Erkenntnisse in Israel wollte Renesse vor seinen Kollegen referieren. Doch die Hälfte der anwesenden Richter verließ demonstrativ den Saal. Als er ihre Arbeitsmethoden bei Journalisten anprangerte, reagierten die Kollegen pikiert. Unterstellte er ihnen Antisemitismus, beschwerten sie sich bei den Vorgesetzten. Ferner wurde seine Sekretärin angewiesen, jede seiner Anordnungen zu melden, und gar nicht erst auszuführen.
    Renesse ließ sich davon nicht irritieren. Er konnte im Jahr 2009 mit Hilfe der Historiker beweisen, dass sich die Menschen im Ghetto - anders als in einem Konzentrationslager – selbst um eine Arbeit bemühen mussten. Seit das Bundessozialgericht dies geklärt hat, haben es Betroffene leichter, ihre Rentenansprüche geltend zu machen.

    Doch es ist ein bitterer Sieg für den Richter. Ihm wurden alle Ghetto-Rentenverfahren entzogen. Auch mit der Presse darf der streitbare Richter nicht mehr reden. Zudem wurde er an einen anderen Senat versetzt, wo er seitdem Schwerbehindertenausweise prüft. In Medienberichten wird sein Fall als Degradierung kritisiert. Weshalb sich das Landessozialgericht gezwungen sieht, eine Presseerklärung abzugeben. Unter anderem behauptet Gerichtspräsidentin Ricarda Brands darin:

    "Ich möchte darauf hinweisen, dass die Arbeit der anderen Rentensenate meines Hauses mit den weiteren Ermittlungsansätzen zur Aufklärung der Verfolgungsschicksale erheblich beigetragen hat. Ich betrachte die in die Wege geleitete erleichterte Anerkennung der Rentenansprüche der Ghetto-Überlebenden als ein uneingeschränkt positiv zu bewertendes Ergebnis auch der langjährigen und aufwendigen Aktivitäten meines Hauses."

    Zur Erinnerung: Bis zur Rechtsprechungsänderung in Kassel sind am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen die Klagen in Ghetto-Streitfällen zu gut 90 Prozent abgelehnt worden. Schmückt sich die Präsidentin jetzt mit fremden Federn? Nicht sie, sondern nur einer ihrer Richter hat sich für die Überlebenden eingesetzt.

    Renesse kann diese Pressemitteilung nicht kommentieren. Die Präsidentin am Landessozialgericht hat sein Redeverbot mittlerweile zwar aufgehoben, doch bevor er mit Journalisten redet, braucht der Richter eine Aussagegenehmigung seiner Vorgesetzten. Die aber bekommt er nicht. Die Gerichtspräsidentin:

    "Ich stelle klar, dass Sie – auch angesichts der Aufhebung meiner Verfügung vom 11.3.2010 - weiterhin in vollem Umfang der allgemein geltenden Verschwiegenheitspflicht unterliegen. Anlass für die Erteilung einer Aussagegenehmigung besteht nicht."

    Der Maulkorb der Presse gegenüber ist weg, die Pflicht zur Verschwiegenheit aber bleibt. Er müsste also jedes seiner Worte auf die Goldwaage legen. Eine unvorsichtige Äußerung könnte ein Kündigungsgrund sein. Nun verteidigt Renesse seine richterliche Unabhängigkeit da, wo sie juristisch hingehört - nämlich vor Gericht.