Haruki Murakamis "Südlich der Grenze, westlich der Sonne" hatte im Juni 2000 ungeahnte Sprengkraft entwickelt. Im literarischen Quartett besprach die Kritikerrunde um Marcel Reich-Ranicki das damals unter dem Titel "Gefährliche Geliebte" publizierte Buch. Reich-Ranicki überwarf sich dabei mit Sigrid Löffler, die in diesem Kreis als die Ernsthafte galt. Für sie war Murakami literarisches Fast Food. Für ihn große, poetische Literatur:
Sigrid Löffler: "Mac Donalds, aber kein 3-Sterne-Restaurant. Das liegt daran, dass das Buch keine Sprache hat. Jetzt liegt das vielleicht mit der Übersetzung zusammen, das will ich nicht entscheiden. Ein vollkommen sprachloses, kunstloses Gestammel. Sie sollten, glaube ich, nicht immer die große Liebe herbeizitieren, wenn wir es mit literarischem Fast Food zu tun haben. Diese Dame ist eine Männerfantasie und nichts anderes."
Marcel Reich-Ranicki: "Die Frage ist nur, ob die Männerfantasie so schlecht ist oder ob es vielleicht eine poetische Fantasie ist. Sie haben dafür keinen Sinn. Ich weiß nicht, sie halten die Liebe für etwas anstößig Unanständiges."
Für sie war die "Gefährliche Geliebte" sprachloses, kunstloses Gestammele, was aber auch an der Übersetzung liegen könne: Die weibliche Hauptperson entspringe einer Männerfantasie. Reich-Ranicki explodierte. Für ihn sei es ein zarter Roman, für den Frau Löffler keinen Sinn habe. Sie hielte die Liebe für etwas anstößig Unanständiges.
Wie immer diese Vorwürfe zu verstehen waren, sie verletzten Sigrid Löffler so sehr, dass die Kritikerin das literarische Quartett, eine der ganz wenigen Fernsehsendungen über Literatur, der ein größeres Publikum vergönnt war, verließ. Damit läutete sie das Ende der literarischen Talkshow ein. Dabei wäre der eigentliche Skandal ein ganz anderer gewesen. Und Sigrid Löffler hatte das sogar angedeutet. Beim Dumont Verlag hatte man es sich einfach gemacht und Haruki Murakamis Roman einfach aus dem Amerikanischen übersetzt. Auf Nachfrage hieß es seinerzeit, Murakami lebe ohnehin zeitweilig in den USA, er sei Pop-Autor, zwei Gründe, die für eine Übertragung aus dem Englischen sprächen.
Übersetzung aus der Feder einer Murakami-Kennerin
Murakamis erster Roman, der in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, "Wilde Schafsjagd" ist bis heute immer noch unübertroffen. 1991 bei Suhrkamp erschienen, wurde er aus dem japanischen Original übersetzt. Jetzt hat man auch bei Dumont nachgeholt, was seit dreizehn Jahren überfällig war: eine originale Übersetzung von "Südlich der Grenze, westlich der Sonne". Eine Übersetzung aus der Feder der Murakami-Kennerin Ursula Gräfe.
Der Junge Hajime und das Mädchen Shimamoto freunden sich an. Als Einzelkinder sind sie im Japan der 50er-Jahre Ausnahmeerscheinungen. Er begleitet seine leicht hinkende Schulkameradin nach Hause, gemeinsam hören sie Musik. Jazz. Nat King Coles "Südlich der Grenze". Und fortan wird ihrer beider Leben von diesem Song begleitet. Ein einziges Mal halten sie einander an den Händen.
Als sie zwölf sind, verlieren sie einander aus den Augen. Hajime hat andere Liebesgeschichten, er macht eine Freundin todunglücklich, weil er sie mit ihrer Cousine betrügt, er heiratet Yukiko, deren vermögender und etwas zwielichtiger Vater ihm Geld gibt, damit er zwei Bars eröffnen kann. Die Bars laufen gut, Hajime ist Vater zweier kleiner Töchter, er liebt seine Frau, hat sich eingerichtet.
Doch er kann Shimamoto nicht vergessen. Einmal folgt er einer hinkenden Frau durch die halbe Stadt, weil er glaubt, es könne seine einstige Schulfreundin sein. Er wagt nicht, sie anzusprechen. Ein Mann packt ihn unsanft am Ellenbogen, steckt ihm einen Umschlag mit Geld zu. Nie wieder dürfe er dieser Frau folgen. Hajime versteht gar nichts mehr. Er fragt sich sogar, ob er sich die ganze Geschichte nicht nur eingebildet habe.
25 Jahre hat er keinen Kontakt zu Shimamoto. Eines Abends sitzt sie in der Bar am Tresen. Er erkennt sie nicht sofort, aber als er gewahr wird, wer die schöne Frau ist, gerät sein wohlgeordnetes Leben aus den Fugen. Er fühlt sich zu ihr hingezogen, von einer geradezu magischen Kraft angesogen. Shimamoto erzählt nichts über sich, kein Wort. Sie kommt und sie geht. Nur eines bleibt immer gleich: Wann immer Shimamoto in der Bar auftaucht, regnet es. Einmal bittet sie Hajime, mit ihr an einen Fluss zu fahren. Sie trägt eine Urne mit Asche mit sich. Die Asche will sie in den Fluss werfen. Es ist die Asche ihres Babys, dass ein Jahr zuvor kurz nach der Geburt gestorben ist. Shimamoto bringt die Liebe, bringt den Tod.
Vieles klingt schnodderig
In der "Gefährlichen Geliebten", wimmelt es vor Anglizismen, vieles ist klingt schnodderig, umgangssprachlich. Hajime begehrt seine Freundin Izumi. In der englischen Übersetzung heißt es:
"What I wanted was clear enough. Izumi naked, having sex with me. But the final destination was still a long way down the road."
In der gefährlichen Geliebten, der Übersetzung aus dem Englischen:
"Was ich wollte, war völlig klar: eine nackte Izumi, die mit mir Sex hatte. Aber bis zu diesem Ziel war es noch ein weiter Weg."
"In südlich der Grenze", der Originalübersetzung aus dem Japanischen klingen die Sätze weicher, runder, weniger flapsig:
"Ich wusste genau, was ich wollte. Ich wollte, dass Izumi sich nackt auszog. Dann wollte ich mit ihr schlafen. Aber bis dahin war es für mich ein weiter Weg."
Und weiter heißt es im Englischen:
"First of all I had to get hold of some condoms… I could have tried on the vending machine, but if anybody caught me red-handed, I'd be up the proverbial creek."
In der "Gefährlichen Geliebten" liest sich die Stelle so, als versuche ein Erwachsener in Jugendsprache zu imitieren:
"Zunächst einmal musste ich mir irgendwie Kondome beschaffen... Ich hätte es mit einem der Automaten probieren können, die es bei uns in der Siedlung gab, aber wenn mich jemand dabei ertappt hätte, wäre die Kacke ganz schön am Dampfen gewesen."
Subtiler, leiser, rätselhafter
Dieselbe Stelle, knapper, weniger salopp in "Südlich der Grenze":
"Als erstes beschaffte ich mir Kondome... In der Stadt gab es einige Automaten, aber wenn ich gesehen wurde, wie ich Kondome zog, saß ich in der Klemme."
Ursula Gräfe, will die Übersetzung der "Gefährlichen Geliebten" von Giovanni und Ditte Bandini dann auch nicht schlecht machen. Die beiden hätten eben aus dem Amerikanischen übersetzt und sie aus dem Japanischen.
Herausgekommen ist ein anderes Buch: subtiler, leiser, noch viel rätselhafter. Hajime ist nicht mehr der coole Hund, der die besten Barkeeper Tokios beschäftigt, er ist ein Mann in einer tiefen Krise. Er analysiert sich nicht mehr selbst, er beschreibt seine Seelenzustände. Die Seelenzustände eines Menschen, der letztlich immer einsam geblieben ist. Entfliehen kann er dieser Einsamkeit niemals, nicht mit seiner Frau, nicht mit seinen Töchtern und auch nicht während der einzigen rauschhaften Liebesnacht, die er mit seiner Geliebten verbringt.
Ursula Gräfe hat die Beschreibung der Liebesnacht fast klinisch übersetzt, kühl, aseptisch, manchmal fast banal. Da kommen die Worte Penis, Erektion, Ejakulation vor. Das reizt niemanden, ist bar jeder Lust und frei von Romantik. Doch gerade dadurch wird Hajimes Einsamkeit noch deutlicher. Zugleich wird klar, dass er seinem Durchschnittsleben niemals wird entkommen können. Mag das Verlangen nach einem anderen Leben auch noch so schmerzen.
"Südlich der Grenze, westlich der Sonne" ist ein ebenso kalter wie magischer Großstadtroman. Regen auf dem Asphalt. Cooler Jazz in der Bar. Net King Coles "Südlich der Sonne". Sex. Eine mysteriöse Frau. Sie ist die Erinnerung an die Vergangenheit, die ungestillte Sehnsucht und der Todesengel zugleich. Es ist ein großartiger Roman, der jetzt in der neuen Übersetzung wieder zu entdecken ist.
Haruki Murakami: "Südlich der Grenze, westlich der Sonne"
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont. 224 Seiten 16,99 Euro
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont. 224 Seiten 16,99 Euro