Christine Heuer: Noch hält sie, die Waffenruhe zwischen Hamas und Israel, und alle hoffen natürlich, dass es dabei bleibt. Doch es gibt Irritationen und es gibt auch wieder ein Todesopfer auf palästinensischer Seite. Bei Protesten am Grenzzaun zwischen dem Gaza-Streifen und Israel gab es Schüsse.
Ein Gewinner des Gaza-Konflikts steht fest, spätestens seitdem die Waffenruhe zwischen den Konfliktparteien vermittelt wurde. Daran nämlich war der ägyptische Präsident Mohammed Mursi maßgeblich und sogar führend beteiligt. Während deshalb seine Reputation in der Welt wächst, sind zuhause immer mehr Ägypter gegen Mursi, der sich Stück für Stück von demokratischen Strukturen und Gepflogenheiten verabschiedet. Gestern Abend hat Mursi die Rechte der Justiz in Ägypten stark eingeschränkt und den Generalstaatsanwalt entlassen. Mursi auf dem Weg, ein neuer Pharao werden zu wollen?
Am Telefon ist Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Guten Tag, Herr Perthes.
Volker Perthes: Ja guten Tag, Frau Heuer!
Heuer: Die Ägypter sind Mubarak los. Bekommen sie mit Mursi jetzt wirklich den nächsten Pharao, also wieder diktatorische Verhältnisse?
Perthes: Ich denke nicht, definitiv nicht. Die Zeit der absoluten Herrschaft in Ägypten ist vorbei mit dem Sturz Mubaraks. Alle, die in seinem Sessel sitzen oder in dem Sessel, den er für 30 Jahre lang eingenommen hat, die wissen, dass sie anders regieren müssen, dass sie mit dem Volk regieren müssen, dass sie sich zur Wahl stellen müssen. Und was wir hier sehen, ist tatsächlich der Versuch, Macht zu konzentrieren beim gewählten Präsidenten. Wir sehen gleichzeitig aber auch eine für die ägyptischen Verhältnisse unter Mubarak ganz unbekannte Art des Protestes, der Demonstrationen, die heute ja beginnen werden. Also ein wachsames Volk!
Heuer: Ein wachsames Volk, das ja auch geübt hat am Tahrir-Platz. Sie sagen, definitiv werde es keine diktatorischen Verhältnisse mehr geben. Wir sehen aber: Die Befugnisse der Justiz werden eingeschränkt, der Generalstaatsanwalt wird entlassen, die Legislative ist schon betroffen gewesen, das Unterhaus im Parlament wurde aufgelöst. Das zeigt doch alles deutlich in eine Richtung, Herr Perthes.
Perthes: Nein, das zeigt eben nicht alles in eine Richtung. Wir haben in den letzten eineinhalb Jahren oder fast zwei Jahren keine klaren Entscheidungsstrukturen gehabt in Ägypten. Es hat gewählte und nicht gewählte Autoritäten gegeben, den Militärrat, das Parlament, seit Sommer des letzten Jahres eben einen gewählten Präsidenten, die Überbleibsel der Justiz des alten Systems, und es gibt seit dem Sommer den Versuch des gewählten Präsidenten, wieder klare Entscheidungsstrukturen herzustellen, was tatsächlich auch für das Handeln und Verhandeln mit dem Ausland, mit der internationalen Umwelt wichtig ist. Wir haben vorher eben ein Parlament gehabt, was aufgelöst worden ist – nicht vom Präsidenten, sondern von dieser Justiz, die übrig geblieben ist -, und es war für viele Partner Ägyptens nicht klar, mit wem man eigentlich reden muss. Hier versucht Mursi jetzt offensichtlich klare Strukturen einzuziehen, das gefällt nicht allen. Der entscheidende Test wird aber im nächsten Jahr sein, wenn es dann Parlamentswahlen geben wird.
Heuer: Und dann sehen wir, wie demokratisch diese neuen Strukturen sind?
Perthes: Ja! Dann sehen wir zum Beispiel, was bei dieser verfassungsgebenden Versammlung zunächst herauskommt. Es ist ja ganz schwierig für eine verfassungsgebende Versammlung zu arbeiten, wenn über deren Existenz vor Gericht noch gestritten wird. Mursi hat jetzt gesagt, diese verfassungsgebende Versammlung muss ihre Arbeit beenden, und dann gibt es eine Abstimmung darüber und danach gibt es Parlamentswahlen, und dann wird man sehen, ob die Muslimbrüder so viel demokratische Kultur angenommen haben, dass sie möglicherweise auch eine Wahlniederlage akzeptieren.
Heuer: Mursis Gewicht ist durch die Vermittlung im Gazakonflikt sehr stark gewachsen. Wie unentbehrlich ist er eigentlich bereits für die Weltgemeinschaft geworden?
Perthes: Ägypten ist ziemlich unentbehrlich für die regionale Gemeinschaft auf jeden Fall, für den Nahen Osten und auch für die Versuche, zumindest ein Stück Stabilität wieder in die geopolitischen Verhältnisse dieser Region zu bringen. In den eineinhalb Jahren nach der Tahrir-Revolution war es ein Ausfall, wenn Sie so wollen, für die regionale Politik, weil Ägypten sich im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt hat. Jetzt haben wir gesehen, dass Präsident Mursi – und zwar ungeachtet seiner politisch-ideologischen Orientierungen – eine sehr konstruktive, pragmatische Rolle zwischen Ägypten und Israel in Zusammenarbeit mit den USA, zwischen Israel und den Palästinensern – Entschuldigung! – in Zusammenarbeit mit den USA gespielt hat.
Heuer: Sie erwähnen die USA, darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Läuft Ägypten unter Mursi eigentlich den USA den diplomatischen Rang in der Region ab? Wer ist da jetzt wichtiger?
Perthes: Ich glaube, richtig wichtig sind die beiden, wenn sie zusammenspielen. Die USA können die Verhältnisse im Nahen Osten nicht selber ordnen und Obama ist sicherlich einer, vielleicht der erste amerikanische Präsident, der das auch deutlich ausgedrückt hat. Es braucht regionale Partner. Aber Ägypten alleine kann eben auch nicht alles tun, was es für notwendig und richtig hält, und braucht die internationale Unterstützung, internationale Partner, insbesondere die USA, wenn es tatsächlich um so etwas wie einen neuen Friedensprozess im Nahen Osten zwischen Palästinensern und Israel gehen soll. Und deshalb wäre es verheerend, wenn es keine Kooperation oder auch gar kein Gespräch zwischen dem neuen ägyptischen Präsidenten, der ägyptischen Regierung einerseits und den USA andererseits gibt. Ich glaube, beide Seiten haben hier über ideologische Hindernisse hinweggeschaut und gesagt, wir müssen einfach zusammenarbeiten.
Heuer: Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Ich danke Ihnen, Herr Perthes.
Perthes: Sehr gerne, Frau Heuer.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Am Telefon ist Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Guten Tag, Herr Perthes.
Volker Perthes: Ja guten Tag, Frau Heuer!
Heuer: Die Ägypter sind Mubarak los. Bekommen sie mit Mursi jetzt wirklich den nächsten Pharao, also wieder diktatorische Verhältnisse?
Perthes: Ich denke nicht, definitiv nicht. Die Zeit der absoluten Herrschaft in Ägypten ist vorbei mit dem Sturz Mubaraks. Alle, die in seinem Sessel sitzen oder in dem Sessel, den er für 30 Jahre lang eingenommen hat, die wissen, dass sie anders regieren müssen, dass sie mit dem Volk regieren müssen, dass sie sich zur Wahl stellen müssen. Und was wir hier sehen, ist tatsächlich der Versuch, Macht zu konzentrieren beim gewählten Präsidenten. Wir sehen gleichzeitig aber auch eine für die ägyptischen Verhältnisse unter Mubarak ganz unbekannte Art des Protestes, der Demonstrationen, die heute ja beginnen werden. Also ein wachsames Volk!
Heuer: Ein wachsames Volk, das ja auch geübt hat am Tahrir-Platz. Sie sagen, definitiv werde es keine diktatorischen Verhältnisse mehr geben. Wir sehen aber: Die Befugnisse der Justiz werden eingeschränkt, der Generalstaatsanwalt wird entlassen, die Legislative ist schon betroffen gewesen, das Unterhaus im Parlament wurde aufgelöst. Das zeigt doch alles deutlich in eine Richtung, Herr Perthes.
Perthes: Nein, das zeigt eben nicht alles in eine Richtung. Wir haben in den letzten eineinhalb Jahren oder fast zwei Jahren keine klaren Entscheidungsstrukturen gehabt in Ägypten. Es hat gewählte und nicht gewählte Autoritäten gegeben, den Militärrat, das Parlament, seit Sommer des letzten Jahres eben einen gewählten Präsidenten, die Überbleibsel der Justiz des alten Systems, und es gibt seit dem Sommer den Versuch des gewählten Präsidenten, wieder klare Entscheidungsstrukturen herzustellen, was tatsächlich auch für das Handeln und Verhandeln mit dem Ausland, mit der internationalen Umwelt wichtig ist. Wir haben vorher eben ein Parlament gehabt, was aufgelöst worden ist – nicht vom Präsidenten, sondern von dieser Justiz, die übrig geblieben ist -, und es war für viele Partner Ägyptens nicht klar, mit wem man eigentlich reden muss. Hier versucht Mursi jetzt offensichtlich klare Strukturen einzuziehen, das gefällt nicht allen. Der entscheidende Test wird aber im nächsten Jahr sein, wenn es dann Parlamentswahlen geben wird.
Heuer: Und dann sehen wir, wie demokratisch diese neuen Strukturen sind?
Perthes: Ja! Dann sehen wir zum Beispiel, was bei dieser verfassungsgebenden Versammlung zunächst herauskommt. Es ist ja ganz schwierig für eine verfassungsgebende Versammlung zu arbeiten, wenn über deren Existenz vor Gericht noch gestritten wird. Mursi hat jetzt gesagt, diese verfassungsgebende Versammlung muss ihre Arbeit beenden, und dann gibt es eine Abstimmung darüber und danach gibt es Parlamentswahlen, und dann wird man sehen, ob die Muslimbrüder so viel demokratische Kultur angenommen haben, dass sie möglicherweise auch eine Wahlniederlage akzeptieren.
Heuer: Mursis Gewicht ist durch die Vermittlung im Gazakonflikt sehr stark gewachsen. Wie unentbehrlich ist er eigentlich bereits für die Weltgemeinschaft geworden?
Perthes: Ägypten ist ziemlich unentbehrlich für die regionale Gemeinschaft auf jeden Fall, für den Nahen Osten und auch für die Versuche, zumindest ein Stück Stabilität wieder in die geopolitischen Verhältnisse dieser Region zu bringen. In den eineinhalb Jahren nach der Tahrir-Revolution war es ein Ausfall, wenn Sie so wollen, für die regionale Politik, weil Ägypten sich im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt hat. Jetzt haben wir gesehen, dass Präsident Mursi – und zwar ungeachtet seiner politisch-ideologischen Orientierungen – eine sehr konstruktive, pragmatische Rolle zwischen Ägypten und Israel in Zusammenarbeit mit den USA, zwischen Israel und den Palästinensern – Entschuldigung! – in Zusammenarbeit mit den USA gespielt hat.
Heuer: Sie erwähnen die USA, darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Läuft Ägypten unter Mursi eigentlich den USA den diplomatischen Rang in der Region ab? Wer ist da jetzt wichtiger?
Perthes: Ich glaube, richtig wichtig sind die beiden, wenn sie zusammenspielen. Die USA können die Verhältnisse im Nahen Osten nicht selber ordnen und Obama ist sicherlich einer, vielleicht der erste amerikanische Präsident, der das auch deutlich ausgedrückt hat. Es braucht regionale Partner. Aber Ägypten alleine kann eben auch nicht alles tun, was es für notwendig und richtig hält, und braucht die internationale Unterstützung, internationale Partner, insbesondere die USA, wenn es tatsächlich um so etwas wie einen neuen Friedensprozess im Nahen Osten zwischen Palästinensern und Israel gehen soll. Und deshalb wäre es verheerend, wenn es keine Kooperation oder auch gar kein Gespräch zwischen dem neuen ägyptischen Präsidenten, der ägyptischen Regierung einerseits und den USA andererseits gibt. Ich glaube, beide Seiten haben hier über ideologische Hindernisse hinweggeschaut und gesagt, wir müssen einfach zusammenarbeiten.
Heuer: Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Ich danke Ihnen, Herr Perthes.
Perthes: Sehr gerne, Frau Heuer.
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