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Muschg: Das System wird Blocher überstehen und sich an ihm reformieren

Nach der Parlamentswahl in der Schweiz, aus der die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) von Christoph Blocher als Siegerin hervorgegangen ist, vertraut der Schriftsteller Adolf Muschg, dass die Demokratie nicht grundsätzlich in Gefahr ist. In der Art des Populismus von Blocher lauerten zwar viele Gefahren, dennoch würde es in Zukunft Gegenreaktionen aus den Kantonen geben.

Moderation: Dirk Müller |
    Dirk Müller: Viele mussten gleich zweimal hinschauen in den zurückliegenden Wochen, als Fernsehbilder die Gewalt auf den Straßen und Marktplätzen der Schweiz zeigten. Ausgerechnet im Land der Eidgenossen. Linke gegen rechte Gruppierungen und umgekehrt. Dazu ein Wahlkampf, der so polarisiert hat wie noch nie und viele Schweizer verwundert hat, was denn nur los ist im Musterland der Demokratie, der Volksbeteiligung und der Toleranz, denn ausländerfeindliche Töne gehörten zum festen Repertoire der schweizerischen Volkspartei unter der Führung von Justizminister Christian Blocher. Aber die Rechten sind bei den Parlamentswahlen gestern gestärkt worden.
    Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg. Guten Morgen!

    Muschg: Guten Morgen Herr Müller.

    Müller: Herr Muschg, ist das das Ende der Schweizer Liberalität?

    Muschg: Nein, das glaube ich nicht. Aber es ist wahrscheinlich das Ende der Schweizer Konkordanz. Sie müssen sich mal vorstellen: Die Schweiz war ja eigentlich das einzige Land in Europa, das im Prinzip seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine große Koalition aller großen Parteien hatte. Der Hintergrund ist, dass die eigentliche Opposition der Schweiz das Volk ist, und um überhaupt regierungsfähig zu sein, mussten sich die großen Parteien zusammenschließen, um gemeinsam bestimmte Dinge durchzubringen. Das ist im Grunde kein sehr politisches Schema und Herr Blocher ist jetzt sozusagen als Werkzeug der List der Vernunft, wie es Herr Hegel sagen würde, offenbar dazu berufen, die Schweiz zu normalisieren. Das sieht auf den ersten Augenblick nicht so aus, aber ich denke es wird sich langfristig so auswirken.

    Müller: Ihnen folgend, Herr Muschg, könnte man etwas vorlaut sagen, viele Schweizer hatten die Schnautze voll, dann endlich noch Opposition zu sein?

    Muschg: Wissen Sie der Widerspruch, der bisher immer unterm Deckel gehalten wurde, dass in der Regierung ja Parteienvertreter sitzen, die dann plötzlich über allen Wolken schwebend Landesväter sein sollen und das allgemeine Wohl wahrnehmen, also plötzlich ihre Parteifarbe sozusagen verlieren sollen, diese Fiktion, wenn Sie wollen die Lebenslüge ist durch Blocher desavouiert worden. Jetzt haben wir einen Parteimann und ausgerechnet im Justizministerium, der ganz bestimmte Prämissen, die die übrige Welt für längst akzeptiert hält, für die Schweiz nicht akzeptiert. Das ist vorübergehend sehr beunruhigend und zum Glück gab es für mich als Europäer das Gegengewicht der polnischen Wahlen am selben Abend. Aber es ist auf die Dauer vermutlich notwendig, denn die Schweiz wird nicht regierungsfähig bleiben, wenn es darum geht, Entscheidungen zu fällen. Sie ist ja ein enorm europäisches Land, leider nicht dem Bekenntnis nach, aber der Struktur nach. Im Grunde hat sie dieselben Probleme wie die Europäische Union: Wie wird sie handlungsfähig?

    Müller: Herr Muschg, könnte man sagen, die Schweiz wird jetzt anders, weil sie eigentlich schon länger anders war?

    Muschg: Genauso ist es. So möchte ich es mal hoffen, denn ich kann mir nicht denken, dass Herr Blocher, wenn er den Bogen weiter in der Richtung überspannt, den Konsens oder auch nur eine starke Minderheit auf sich vereinigt. Das ist eine optimistische Einschätzung, aber die Schweizer wollten jetzt einmal eine profilierte Person honorieren. Ob sie uns passt oder nicht, sie wird sozusagen als Katalysator dienen für eine Neuentwicklung der ganzen Struktur der Schweiz.

    Müller: Inwieweit hat die Ausländerpolitik oder auch die Nichtausländerpolitik dazu beigetragen, dass jetzt ausländerfeindliche Parolen hoffähig geworden sind?

    Muschg: Ich habe das schon mal erlebt in den 60er Jahren. Da gab es einen Herrn Schwarzenbach, der mit seiner sogenannten Überfremdungsinitiative beinahe durchgedrungen wäre. Neu ist das nicht. Ich denke jedes Gemeinwesen, das innere Probleme hat und Leute integrieren muss, die heute eigentlich zu den Verlierern der Globalisierung gehören, die wendet sich erst mal gegen außen und sucht Sündenböcke. Die Formen, wie das die SVP gemacht hat, die erinnern natürlich an abscheuliche Vorbilder. Die Schweiz fühlt sich nicht betroffen, weil sie glaubt, sie habe an all dem ja nie teilgenommen. Entsprechend ist die Allergie oder die Empfindlichkeit für solche Plakate wie das mit dem schwarzen Schaf weniger entwickelt als anderswo. Aber ich denke es kommt der Augenblick, wo die Schweiz im Sinne von Gottfried Kellers Altersroman "Martin Salander" sagen wird, "Es ist bei uns wie überall" und entsprechend müssen wir uns verhalten und die politischen Institutionen einrichten.

    Müller: War das bequem in den vergangenen Jahrzehnten, auf diese Sonderrolle zu bestehen und stolz auf diese Sonderrolle zu sein?

    Muschg: Es war zu bequem und vor allem es wurde einfach das, was darin Selbstbetrug gewesen ist, von der Schweiz nicht wirklich eingefordert. Spätestens seit dem Grounding, dem Einbruch, der bisher in einem viel höheren Maße dramatisch war, als man das im Ausland wahrnimmt, merkt die Schweiz, dass sie ein Teil Europas ist. Wenn sie es jetzt nicht sein will, halte ich das für eine Trotzreaktion, die sich irgendeinmal erledigen wird. Man soll die Nerven nicht verlieren.

    Müller: Max Frisch hat einmal geschrieben "Biedermann und Brandstifter". Findet man das in irgendeiner Form wieder in der Schweiz?

    Muschg: Ja sicher, natürlich. Die geheime Identität von "Biedermann und Brandstifter" liegt für einen wie mich, der Blocher jetzt 15 Jahre zugesehen hat, auf der Hand und die Feuerwehrmänner sind ja auch diejenigen, die gerne zündeln. Das weiß man psychologisch. Ich denke das System wird Blocher überstehen und es wird sich an Blocher reformieren, denn der Rückschlag für die traditionelle Linke jetzt, der ist ja auch keine Schweizer Spezialität. Wir sind in jeder Hinsicht eigentlich jetzt sozusagen auf dem Niveau der anderen, nur mit dem Bewusstsein noch nicht.

    Müller: Es ist vielleicht ein ähnliches Problem, sagen jedenfalls viele, wie in der Bundesrepublik. Es gibt vielleicht Rechts, es gibt Links, trotz der Großen Koalition. Es gibt wenig Liberales. Warum ist das in der Schweiz auch so?

    Muschg: Ja, ja. Es gibt natürlich die wirtschaftsliberale Komponente und die isoliert sich jetzt selber auch genau wie in der Bundesrepublik in einer realo-grünen Bewegung, die auch zugelegt hat für Schweizer Verhältnisse enorm, aber der Aufwind für die Grünen, der wird längerfristig wahrscheinlich auch das Phänomen sein, das sozusagen den neuen Kern der Polarisierung und damit auch der Wählbarkeit der Politik in der Schweiz enthält. Ich denke das ist ein Zustand, über den wir - - Wir dürfen nicht schlafen, denn natürlich lauern in dieser Art von Populismus, der die direkte Demokratie darstellt, die ein sehr junges Produkt ist - das darf man nie vergessen -, das in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts eingeführt wurde, Gefahren. Es lauern jetzt mit der massenmedialen Verfielfachung populistischer Ansprüche so viele Gefahren für die Demokratie, dass ich denke die Konterreaktion wird aus den Kantonen, aus den Gemeinden, sozusagen aus den kleineren Einheiten kommen. Die Schweiz ist so gut verkammert, dass sie fast nicht sinken kann. Schlagseite ja, aber sinken noch lange nicht.

    Müller: Haben Sie, Herr Muschg, wenn Sie persönlich auf Ihr Land schauen, ein ungutes Gefühl im Bauch?

    Muschg: Ja, natürlich. Ich wäre stolz darauf, die Schweiz hätte ein geschichtliches Bewusstsein dessen, was sie hat, ist und kann. Herr Blocher ist selber ja ein Zeugnis dafür, denn sein Urgroßvater ist ein eingewanderter Schwabe gewesen. Er hätte genauso gut zu den schwarzen Schafen gehören können, die jetzt rausgekickt werden. Aber im 19. Jahrhundert ist die Schweiz von genau den Leuten mit aufgebaut worden in solidarischer Arbeit, die jetzt sozusagen sich als Sündenböcke brandmarken lassen müssen. Das wird auf die Dauer nicht vorhalten, denn die Fakten sind stärker.

    Müller: Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg war das bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch!

    Muschg: Ich danke.
    Adolf Muschg, Schriftsteller
    Adolf Muschg, Schriftsteller (AP Archiv)