Dieser Portier zum Beispiel kennt sich aus und weiß Bescheid. Als ein "unsicher wirkender junger Mann" (wie der Dramatiker Nis-Momme Stockmann die Ich-Figur nennt fürs Stück um Fritz Haarmann und das "Amerikanische Detektivbüro Lasso"), wenn also der morgens nach dem Frühstück an der Rezeption nach langem Zögern beichtet, was er ist und was er tut, über Haarmann schreiben nämlich, singt ihm das komplette Hotel-Personal entgegen ...
Im Grunde teilt Autor Stockmann diese Ansicht sogar, wenn auch aus anderen Gründen – mit einem Phantomschmerz wie diesem Haarmann sei nicht produktiv umzugehen, solange immer bloß vertraute Reflexe auf bekannte Reize träfen. So lange keine neuen Denk-Wege für den Umgang mit Schreckens-Themen vom Kaliber "Haarmann" beschritten würden, könne halt nichts daraus werden – also auch ein (oder eben kein) Musical.
So gedanklich verschraubt geht's zu, wenn Stockmann das "Lasso" schwingt. Zum eigentlichen Anfang kommt das Stück darum mit Absicht nie – zunächst wird mal lange über das Wesen aktueller Kunst räsoniert von gleich mehreren Ich-Darstellern des Autors – bis zur schon etwas betagten Erkenntnis, das radikale Widerworte der Kunst ganz schnell unschädlich gemacht werden können, wenn der "Mainstream" sie aufsaugt – und böse Bücher zur Schul-Lektüre werden. "Repressive Toleranz" hieß das vor über 40 Jahren bei Herbert Marcuse. Das wissen wir also.
Dann wird das Prinzip Haarmann immerhin mal kurzzeitig dingfest gemacht - im sozialen Chaos nach dem Ersten Weltkrieg.
(Szene) "In den wirren Strömen der Vertriebenen, zurück Strömenden, Schutz, Arbeit, Halt Suchenden, im Zentrum sozusagen – da steht er!"
Für einen Moment taucht auch ein richtiges Haarmann-Bild auf. Adrett gekleidet unter einer Maske ohne Gesicht, schleift die Figur eine Axt. Dann aber will der Autor dieses Phantom tatsächlich singen lassen: Das führt zu Aufruhr und Widerspruch. Und zur Pause.
Der zweite Teil ist dann das, was im modernen Tagungswesen wohl "Impuls-Referat" heißt – Stockmanns vielstimmiges Ich führt die Debatte über die Zeigbarkeit des Unbeschreiblichen fort, jetzt mit dem ebenfalls in mehrere Personen aufgeteilten Intendanten. Immer klarer wird, was Stockmann will: die Selbstbefragung an sich und in uns allen befördern – wie viel Rassismus steckt in jedem und jeder von uns? Wie viel Pegida? Was nützt es, auf Hass und Ausgrenzung immer nur mit Gegen-Ausgrenzung und Gegen-Hass zu antworten? Mit chronisch gutem Gewissen oder Ignoranz.
Alles, was gerade in die Binsen geht, Syrien und Europa, Zivilisation du Demokratie, müsste zunächst mal wie per Echolot in uns selber aufgespürt werden ... das ist ein starkes Thema. Mit ihm beweist Stockmann nebenbei, dass auch die Beschäftigung mit Haarmann nur scheitern kann.
(Szene:) "Unsere Gesellschaft beruht auf der Institutionalisierung eines gestörten Selbstbildes."
Weil unser Alltagsdenken scheitert und eine Stimmung fördert, die extreme Fremdheit wie die eines Killers vom Typ Haarmann erst recht möglich macht.
(Szene:) "Kurz und gute – wegen derselben Verblendung, derselben Pathologien, die aus einem Menschen einen Serienmörder machen."
Viel alter Schlingensief klingt mit im starken, steilen Denken dieses Abends. Und Hannovers Schauspiel-Chef Lars Ole Walburg gibt sich derweil mächtig Mühe, mit dem extrem wandlungsreichen Ensemble Theater zu zaubern aus der Mitteilung über die Unmöglichkeit von Theater in Haarmanns Fall. Charlotte Simon und Zink Tonsur, Künstler-Duo-Name "Les Trucs", liefern schnurrige Computer-Sounds dazu; aber all das bleibt im Versuch stecken - das Objekt des Bemühens taugt zum Seminar, weniger fürs Theater.
Denn Stockmann hat ein Stück darüber geschrieben, dass kein Stück möglich ist; das aber ist –im Theater!- nicht wirklich abendfüllend – selbst wenn es so tut als ob.
Denn Stockmann hat ein Stück darüber geschrieben, dass kein Stück möglich ist; das aber ist –im Theater!- nicht wirklich abendfüllend – selbst wenn es so tut als ob.