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Musik
Elektronisch, utopisch, feministisch

Üblicherweise ist die Geschichte vom Beginn der elektronischen Musik gebunden an männliche Wegbereiter und ihre künstlerischen Studios. Stephanie Metzger schlägt dagegen ein eher ungewöhnliches Anfangskapitel der elektronischen Musik auf und wirft einen essayistischen Blick auf zwei bisher wenig beachtete Soundpionierinnen.

Von Stephanie Metzger |
    Die Tänzerinnen Elisa Carrillo Cabrera (l) als Clara und Xenia Wiest als Delia vom Staatsballett Berlin, aufgenommen am 13.01.2010 in der Komischen Oper Berlin bei der Probe des Balletts "SPACE CONTROL AREA - for interest only!" in der Choreografie von Kathlyn Pope und der Musik von Clara Rockmore und Delia Derbyshire.
    Die Tänzerinnen Elisa Carrillo Cabrera und Xenia Wiest vom Staatsballett Berlin bei der Probe des Balletts "SPACE CONTROL AREA - for interest only!" nach der Musik von unter anderem der Elektronik-Pionierin Delia Derbyshire. (picture-alliance / dpa-ZB / Claudia Esch-Kenkel)
    Wie von Ferne erklingt ein Musikstück. Klassisch, ernst. Fast sakral. Und doch: Der Klang ist schmutzig, die Patina des Tonträgers mischt sich ein. Dann ein Bruch. Eine helle Frauenstimme spricht ein Zitat. Es geht um neue Klänge, um ihre Manipulation, um Effekte, die simultan an der Stimme vollzogen werden. Als die Stimme abbricht, schrille, künstliche Klänge. Gefolgt von dumpferen Tonfolgen. Basis und Rhythmus für die folgende Klangschichtung. Flächig, schrill. Abschwellen des Grundrhythmus, nochmals schrille Klangflächen. Fade out.
    Utopisch beginnt dieser Essay. Elektronisch auch. Denn in dem gerade sprachlich eingefangenen Musikstück New Atlantis zitiert die englische Komponistin Daphne Oram aus einer literarischen Utopie. Sie bezieht sich auf den unvollendeten Roman von Francis Bacon New Atlantis aus dem Jahr 1627 und lässt mit ihrem elektroakustischen Stück von 1963 diese Utopie zugleich real werden. Von neuartigen Häusern des Tons ist bei Bacon die Rede, wo jede Art von Klang erzeugt und erforscht werden kann. Wo bislang unbekannte Instrumente und neue Methoden der Klangbearbeitung, der Manipulation von Stimme und Geräusch möglich würden. Eine utopische Idee des Sounds wird beschworen, wie sie mit den Techniken von Klangaufzeichnung und elektronischer Klangbearbeitung seit Mitte der 1940er-Jahre tatsächlich umsetzbar wurde. Und wie sie im zitierten Musikstück spielerisch vorgeführt wird.
    Bereits ein paar Jahre vor der Entstehung des Stückes, nämlich 1958, war Daphne Oram Mitbegründerin des Radiophonic Workshop bei der BBC, einem Labor für die damals neuartige elektronische Musik und für sogenannte "musique concrète". Das Bacon-Zitat soll sie an eine der Türen dieses Labors gehängt haben: Der BBC Radiophonic Workshop wurde damit eines der von Bacon beschworenen "Sound Houses". Zusammen mit Daphne Oram war auch die Komponistin Delia Derbyshire in der neu etablierten Soundabteilung der BBC eine der wenigen Frauen, die mit Beginn der elektronischen Musik in Erscheinung traten. Mit ihren Klangwelten prägten beide einen ganz spezifischen Sound für den britischen Sender. Beide Komponistinnen machten sich aber auch mit eigenen Projekten unabhängig von der trägen und nicht selten weniger experimentierfreudigen Institution. Im Œuvre der beiden Frauen stehen deshalb Jingles, Effekte, Klangbilder für Hörspiel, Film und Fernsehen neben Konzertwerken, Studioexperimenten und Popsingles. Balanceakte zwischen institutionellen Ansprüchen, die die BBC stellte, und origineller Kreativität freier Kompositionsarbeit. Zwischen technischen Möglichkeiten und akustischen Visionen. Elektronisch und utopisch, wahrscheinlich auch feministisch.
    Gründungsmythen basieren auf Erzählungen, auf Geschichten, die sich einprägen, Zusammenhang herstellen, Zwangsläufigkeit suggerieren. Die Geschichte, dass sich Daphne Oram, als sie den BBC Radiophonic Workshop ins Leben rief, auf Francis Bacons "Sound Houses" bezog, ist vielleicht auch das Element einer solchen Erzählung, also Mythisierung. Doch dies sei erlaubt in Hinblick darauf, dass damit ein bisher wenig beachtetes Anfangskapitel der elektronischen Musik inszeniert wird. Wenig beachtet, weil es von Frauen geschrieben wurde und in einer Institution, die sich zunächst nicht als künstlerisches Studio definierte.
    Musique concrète: Die Klänge des Alltags neu hörbar gemacht
    Üblicherweise ist das Narrativ von der Geburt der elektronischen Musik nämlich gebunden an zwei Dinge: an "Gründerväter" und an "Kunst". Die in der Musikgeschichte beschworene Pionierzeit der elektroakustischen Musik liegt in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Relativ zeitgleich gründeten sich Studios in Paris, Köln, New York, Mailand oder München. Hier begannen Komponisten, elektrische und elektronische Apparaturen als Musikinstrumente zu erforschen, und experimentierten mit den neuen Möglichkeiten von Klangspeicherung und Klangveränderung. Begleitet wurde diese Arbeit von musikästhetischen Reflexionen, die nicht selten auch einer Abgrenzung der Studios untereinander dienten. Grenzen, die oft theoretisch blieben und sich in der musikalischen Praxis als wenig haltbar erwiesen. Dennoch waren sie offensichtlich Bestandteil einer Pionierarbeit im männlichen Modus.
    Im von 1951 an als Club D'Essai bezeichneten Studio des Französischen Rundfunks in Paris arbeitete der Komponist Pierre Schaeffer an der sogenannten musique concrète. Er verarbeitete mit dem Mikrofon aufgenommene Alltagsgeräusche und manipulierte die Magnetbandaufnahmen durch verschiedene Verfahren: Vorwärts- und Rückwärtsspielen, Geschwindigkeitsveränderung, Schnitt, Montage. In mühsamer und kleinteiliger Arbeit mit Rasierklingen, Magnetbandstücken und Bandmaschinen sollten die Klänge des Alltags neu und vor allem als Musik hörbar gemacht werden.
    Dagegen konzentrierten sich die Komponisten des 1949 gegründeten "Studio für elektronische Musik" beim NWDR in Köln auf rein elektronische Klänge. Herbert Eimert oder Karlheinz Stockhausen erschienen die neuen technischen Möglichkeiten der Musikerzeugung ideal für eine Perfektionierung der seriellen Kompositionstechnik. Denn erst mit diesen neuen Apparaten konnte die Idee des Serialismus Wirklichkeit werden: alle Dimensionen des Klangs definiert und kontrolliert durch Zahlen und Proportionsreihen.
    Die Studios in Köln und Paris waren die ersten ihrer Art und trotz der angedeuteten Gegenüberstellung von elektronischer Musik und musique concrète, die mit diesen Studios verbunden wird, war an beiden Standorten eines klar: Es sollten Kompositionen entstehen, die autonom waren. Werke, die nicht etwa Hintergrund oder Diener von Wort und Bild darstellten, sondern Kunst.
    Der BBC Radiophonic Workshop war das einzige nicht ausnahmslos männerbesetzte Studio elektronischer Musik in den 1950er-Jahren. Zudem ging es aus der Perspektive der BBC-Produzenten in diesem Workshop immer schon darum, Klangbilder für Hörspiel- und TV-Produktionen zu erarbeiten und das Sounddesign eines Senders aufzuwerten. Dabei war der Weg zur tatsächlichen Realisierung des Workshops ein mühsames Unterfangen und wäre ohne das Durchhaltevermögen und die Willenskraft einer Frau nicht möglich gewesen: Daphne Oram. 1942 kam Daphne Oram zur Ausbildung und anschließenden Arbeit als Toningenieurin zur BBC. Ein klassisches Klavierstudium wollte die talentierte Pianistin nicht, lieber die Verbindung von Technik und Musik, wie sie die Arbeit bei der BBC versprach. Sie profilierte sich mit exquisiten Musikmischungen bei Live-Übertragungen und mit ihrem Engagement für die technische Ausrüstung. Sie verbesserte auch die Arbeitsbedingungen in der Produktionsabteilung. Oram begann, mit dem technischen Equipment zu experimentieren.
    Als sie 1950 Studiomanagerin wurde, hatte sie die Gelegenheit, in Paris die Arbeit des Club d'Essai und die Techniken der musique concrète kennenzulernen. Es wurde ein prägender Kontakt, der die Idee zum Radiophonic Workshop anfeuerte. Doch bei der BBC war man skeptisch. Vor allem das konservative Music Department sah elektroakustische Musik als Spielerei an und hielt sie nicht für förderungswürdig. Darauf mussten Daphne Oram und ihre Mitstreiter vom Drama Department ihre Argumentation ausrichten. In Protokollen, Briefen oder öffentlichen Statements suchten sie eine Linie zwischen einem enthusiastischem Plädoyer für die neuen musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten und einer klaren Grenzziehung zur Musik. Denn nur durch die Vermeidung des Begriffes "Musik" war die Realisierung des Workshops im Gerangel mit dem Music Department durchzusetzen. Dabei stand auch fest, dass alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Workshops nicht als Komponisten engagiert wurden, sondern als Studiomanager, Soundingenieure oder Soundassistenten.
    Derbyshire, Absolventin eines Studiums der Musik und Mathematik in Cambridge, kam 1962 zum Workshop. Vor ihrem Einstieg bei der BBC hatte sie sich für das Aufnahmestudio bei Decca Records beworben. Ihre Bewerbung wurde mit dem Argument abgelehnt, dass in diesem Bereich keine Frauen eingestellt würden. Umso leidenschaftlicher und kreativer warf sie sich in die Arbeit für den Workshop. Zusammen mit ihren Kollegen erfand sie Soundeffekte für Hörspiel und Film, atmosphärische Klangbilder für das Fernsehen oder auch sogenannte "Interval Signals" - minimalistische Pausensignale für das Rundfunk- und Fernsehprogramm. Einerseits Gebrauchsmusik mit einfachen Strukturen, seriell, dabei aber doch mit viel Einfallsreichtum und immer wieder voller Humor. Andererseits die typischen flächigen Kompositionen, die in andere Welten entführten.
    Soundeffekte für das Hörspiel "The Ocean"
    Ein kurzes dumpfes Tonsignal. Drei Töne. Ein Nebelhorn? Weniger durchdringend, weicher. Die Töne gleiten ineinander. Unter dem sich abwärts bewegenden Motiv leise Geräusche, plätschernd, glucksend. Wasser? Das Motiv wiederholt sich. Einmal. Noch einmal. Und wieder, unendlich. Langsames Fade out.
    Eine der ersten elektroakustischen Arbeiten von Daphne Oram im Radiophonic Workshop waren die Soundeffekte für das Hörspiel "The Ocean". Mit zwei elektronisch bearbeiteten Klarinettentönen wurde akustisch die Situation von überlebenden Matrosen in einem Rettungsboot im Zweiten Weltkrieg hervorgerufen. Klangliche Assoziationen stellte der Sound her, die zwischen dem Realismus der Situation auf dem Meer und den irrealen Ängsten der Schiffbrüchigen oszillierten. Mit dieser ersten offiziellen Auftragsarbeit des Workshops wurde deutlich, wofür die neuen Klänge einsetzbar sein sollten: Welten der Angst, des Wahnsinns und des Unterbewussten. Surrealismus, der zur Dramatik der Zeit passte. Zukünftige oder fantastische Welten der Science Fiction erhielten damals ebenfalls einen elektronischen Klangraum. Einen Klangraum, der vom Sound eines klassischen Orchesters nicht zu erwarten war.
    Ein Stück der Komponistin wurde legendär.
    Schwarzweißflimmern, weiße, nebelartige Formationen bilden ein grafisches Muster auf grau-schwarzem Grund. Symmetrisch, wabernd, sich teilend. Ein Schriftzug formiert sich, verschmutztes Weiß auf Schwarz: Doctor Who. Dazu ein Bass-Ostinato, wie der Rhythmus einer Maschine. Ein hochfrequenter Sound saust auf den Hörer zu. Dann der Beginn einer Melodie, einprägsam und wiedererkennbar. Stopp.
    Es ist wohl das heute immer noch bekannteste Werk des Radiophonic Workshop: die Titelmusik zur Science Fiction Serie "Doctor Who" aus dem Jahr 1963. Die legendäre Serie ist ein Meilenstein britischer Popkultur. Sie handelt von einem mysteriösen Zeitreisenden, der nur als "der Doktor" bekannt ist. Er reist mit seinen Begleitern in der Zeit-Raum-Maschine TARDIS, die von außen wie eine alte Polizei-Notrufzelle aussieht, und wird dabei in verschiedene Abenteuer verwickelt. Die Erkundungen führen in die Fremde und in feindliches Gebiet, aber die Zeitreisenden verstehen es, gemeinsam mit den Außerirdischen die nicht ungefährlichen Abenteuer heil zu überstehen.
    Die Produzentin wünschte sich auch für die Musik eine Mischung aus Fremdem und Vertrauten. Nach ersten schnellen Aufzeichnungen des Komponisten Ron Grainer erarbeitete Delia Derbyshire eine eingängige Mischung aus wiedererkennbarer Melodie, komplexem Rhythmus und elektronischem Klang, der durch bewusst gesetzte Ungenauigkeiten doch etwas Organisches behält.
    Das Stück wurde zum Hit, aber Delia Derbyshire hatte davon wenig. Denn die BBC Verträge sahen für alle im Radiophonic Workshop Engagierten weder Urheberrechte noch explizite Namensnennungen vor. Auch wurde die Frage nach finanzieller Beteiligung an Erfolgsproduktionen im Laufe der Workshop-Arbeit brisant, genauso wie der Wunsch nach Nennung der Namen einzelner Komponisten, die sich einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen wollten. Delia Derbyshire verlagerte ihre Klang-Experimente aus dem Workshop heraus, wo sie sich künstlerisch weniger eingeschränkt fühlte. Ihr Nähe popkultureller Ansatz entwickelte sich zu ihrem Markenzeichen. Sie arbeitete in Projekten wie Unit Delta Plus oder White Noise und veröffentlichte 1969 mit der Gruppe White Noise das einflussreiche Album An Electric Storm. Parallel zu diesen Aktivitäten blieb sie dem Radiophonic Workshop treu, bis die Arbeit immer stärker unter ökonomischen Gesichtspunkten stattfand, der Zeitdruck wuchs und sie die Querelen um ihre angeblich zu anspruchsvollen Ideen und Kompositionen satt hatte.
    1972 verließ Delia Derbyshire den Workshop. Ihr Ausstieg bedeutete im Endeffekt auch den Abschied von der Arbeit als Komponistin. Sie wurde Radio-Moderatorin und arbeitete in ganz unterschiedlichen Bereichen. Kurz vor ihrem Tod 2001 begann sie noch einmal zu komponieren und Projekte zu konzipieren. Vorhaben, die sie nicht beenden konnte.
    Eine helle klare Frauenstimme. British English. Die Ankündigung einer Innovation: "Oramics Graphic Sound". Die einzigartige Erfindung von Sound, der weder von Instrumenten, noch von elektrischen Generatoren erzeugt wird, sondern von einem Apparat, der Zeichnungen hörbar macht. Eine neue Form der musikalischen Notation. Ein elektronischer Sound mit musikalischer Qualität. Im Hintergrund Klänge wie Hörner oder andere Holzblasinstrumente. Jetzt stehen sie frei. Wirr, ohne klaren Rhythmus oder tonale Ordnung. Aber weich und angenehm. Verhallend. Langsames Fade out.
    Nur knapp ein Jahr, nachdem Daphne Oram es endlich geschafft hatte, die Gründung des Radiophonic Workshop bei der BBC durchzusetzen, verließ sie diesen auch schon wieder. Sie erkannte schnell, dass im Rahmen der Auftragsarbeiten für Hörspiel, Film und Fernsehen das von ihr gewünschte Experiment wenig Raum hatte. So gründete sie 1959 ihr eigenes Studio: The Oramics Studio for Electronic Composition. Damit sich das Studio trug, war sie auch hier gezwungen, Auftragsarbeiten anzunehmen. Sie komponierte für Werbung, Film, Ausstellungen oder Theater. 1959 wurde ihr erstes Konzertstück für Magnetbandaufnahmen uraufgeführt: Four Aspects. In den folgenden Jahren entstanden Kompositionen, die nicht selten für Ausstellungen, Installationen oder Theateraufführungen genutzt wurden. Also auch hier nicht unbedingt autonome Kunstmusik, sondern Einbindung in räumliche und visuelle Kontexte. Vor allem aber konzentrierte sich Oram auf ein ganz besonderes Projekt, das sie bis zu ihrem Tod 2003 nicht los ließ: die Entwicklung der Oramics-Maschine und die Idee vom "drawn sound", dem "gezeichneten Sound".
    Das Verhältnis von Ton und Bild in der elektronischen Musik umkehren
    Wie wäre es möglich, Bilder in Ton zu überführen? Grafische Notation mechanisch in Sound zu übersetzen? Oram wollte das Verhältnis von Ton und Bild in der elektronischen Musik, in dem bisher zunächst der Ton und dann das Bild - die Sinuswelle - gegeben war, umkehren. Mit grafischen Symbolen auf Filmstreifen sollten akustische Parameter wie Tondauer, Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe in das System eingespeist und der daraus entstehende Sound sofort auf Magnetband aufgenommen werden. Mit der Oramics-Maschine wurde die Metapher vom Komponisten als Maler buchstäblich. Schon in frühen theoretischen Texten zur elektronischen Musik war diese Metapher für die Arbeit mit dem Tonband üblich geworden. Sie illustrierte hier vor allem die Ablösung des Werks vom Instrumentalisten.
    Mit ihrem System peilte Daphne Oram aber auch für den Schaffensprozess ein direkteres Verhältnis zwischen dem Komponisten und seiner elektronischen Komposition an. Die langjährige Entwicklung der Maschine war zwar nicht das erste Projekt dieser Art, aber sie flößt vor allem auch Fachleuten bis heute Respekt ein. Und Oram war die einzige Frau, die in diesem Feld Pionierarbeit leistete.
    Zudem entwickelte sich das Oramics-System von der Maschine über die Kompositionen auch zu einer Philosophie. Die Komponistin selbst weist in ihrem Buch An Individual Note of Music, Sound and Electronics von 1972 der Oramics-Maschine den Weg zu einer elektronischen Musik, die zwar technisch erzeugt wird, die aber dennoch menschlich bleibt. Oram beschreibt die Maschine als Verlängerung von Imagination und Körper des Komponisten. Im direkten Feedback wird die unmittelbare sensuelle Wahrnehmung dessen, was aus dem Bild heraus akustisch entsteht, möglich. Im Gedankengebäude von Oramics bilden diese Aspekte die Grundlage für "Menschlichkeit" elektronischer Musik.
    Neuartige elektronische Musik, utopische "Sound Houses", andere Welten, futuristisch anmutende Maschinen: Elektronisch und utopisch ist die Erzählung von den englischen Soundpionierinnen Delia Derbyshire und Daphne Oram bis hierher gewesen. Aber feministisch? Eigentlich sei sie Post-Feministin gewesen, bevor es den Feminismus überhaupt gegeben habe, äußerte Delia Derbyshire in den 1990er-Jahren in einem Interview. Es ging ihr selten um weibliche Emanzipation oder die Behauptung einer feministischen Position. Es ging ihr um Klang und Musik, um mathematische Analyse und Synthese, um Kreation und Komposition. Natürlich sind mit solchen Begriffen klassische männliche Domänen benannt und natürlich bedeutete die Arbeit als Frau in diesen Männerdomänen Emanzipation und irgendwie auch Feminismus. Doch wie explizit lassen sich die Frauen auch als feministische Pionierinnen verstehen?
    Der Anlasser eines Autos. Einatmen. Anlasser. Einatmen. Dazu eine verfremdete Hupe, ein tickendes Pattern. Ein Rhythmus entsteht, darüber eine Melodie. Dreiteilig, Vierteltakt, klare Harmonik. Dann ein Zwischenspiel: die Geräusche vom Anfang. Anlasser, Atmen, Hupe, Pattern. Schneller und anders rhythmisiert. Erneut die Melodie, aber auch sie in einem anderen Rhythmus. Eine dritte Wiederholung. Geräuschcollage noch schneller, Melodie in anderer Tonlage und doppeltem Tempo. Die Geräusche dünnen aus. Eine Autotür wird zugeschlagen. Schluss.
    Know your car, Get out and get under - Lern dein Auto kennen, steig aus und leg dich darunter ist der Titel einer knapp einminütigen Komposition von Delia Derbyshire für ein einschlägiges Fernsehmagazin aus dem Jahr 1963. Die Komposition besteht aus einer lakonischen Montage von Alltagsgeräuschen, elektronischen Soundeffekten und einer griffigen Melodie. Derbyshire verbindet das Geräusch vom Anlasser eines Autos, menschliches Atmen und Autotürenschlagen mit slapstickartigen Soundakzenten und einem dreiteiligen Musikmotiv. Sie variiert die Kombination in Rhythmus, Tonlage und Tempo. Immer chaotischer und absurder wird es, bis die Autotür einfach wieder zugeschlagen wird. Von einem laufenden Motor hören wir am Ende aber nichts. Ein misslungener Reparaturversuch? Das Kennenlernen der Maschine als Comedy, sein Scheitern inbegriffen? Der Kontrollversuch über die Technik, ein typisch männlicher Gestus, als Parodie, als Comic und Spiel mit Versatzstücken männlichen Selbstverständnisses?
    Man kann das Stück so verstehen und aus seiner Machart noch ein anderes parodistisches Spiel herauslesen. Know your car ist ein typisches Beispiel für die "angewandte Musik" des Radiophonic Workshop, die so eigenwillig im Gegensatz steht zu den Produktionen der Studios in Paris und Köln. Als Musik für Hörspiel, Fernsehen und Film bezogen sich diese Kompositionen auf sprachliche oder bildliche Kontexte. Sie ließen sich dabei kaum auf die ideologischen Kämpfe und Dichotomien im Diskurs um elektronische Musik und ihr "Gegenstück", die musique concrète, ein.
    Eine Parodie auf die musikalischen Lager
    Die Musikwissenschaftlerin und Komponistin Andrea McCartney hat gezeigt, dass diese musikalische Gegenüberstellung auch geschlechtlich konnotiert ist. Pierre Schaeffer verbindet in einigen Aussagen die musique concrète mit typisch weiblichen Kategorien: Konkretheit, subjektiver Bezug, Körperlichkeit, Materialität, Performance. Dagegen ruft Herbert Eimert für die elektronische Musik ein männlich konnotiertes Beschreibungsregister auf: absolute und technisch vermittelte Kontrolle über einzelne musikalische Parameter, Abstraktion, Objektivität, Wissenschaftlichkeit. Mit solchen Zuordnungen im Kopf hört man Derbyshires Know your car auch als Parodie auf die musikalischen Lager. Dass sich Parodie und das Spiel mit Geschlechterklischees auch als subversiver Widerstand gegen normierte Geschlechterverhältnisse verstehen lässt, wird erst lange Zeit später ein wichtiger Gegenstand der Gendertheorie werden. Dennoch oder immerhin: Derbyshires musikalischer Comic um den vergeblichen Versuch, sein Auto wirklich kennen zu lernen, wird so zum Vorläufer und frühen Beispiel einer Gendertheorie, die sich in den 1990er-Jahren entwickelte.
    Expliziter in ihrer Auseinandersetzung mit den Schulen elektroakustischer Musik als Delia Derbyshire ist Daphne Oram. In dem 1963 veröffentlichten Text Electronic Music - The Present and the Potential kritisiert sie vor allem die Verknüpfung von elektronischer Musik mit der seriellen Kompositionsweise. Sie plädiert für andere Regeln, die der Neuartigkeit und Andersartigkeit des elektronischen Klanges Rechnung trügen.
    Auch in ihrem Buch An Individual Note of Music, Sound and Electronics sucht Oram ganz ohne Dogmatik und explizit essayistisch andere Wege.
    Sie zieht Analogien zwischen Elektronik, Musik, Metaphysik und Mythologie. Sie fragt nach künstlerischen Ausdrucksformen der elektronischen Musik, in denen menschliche Individualität einen Raum hat. Aus der Umkehrung des Wortes "Elec" von "Electron" entwickelt sie den Begriff "Cele". Er bezeichnet Fülle, Fleisch oder den Körper von Musik, also etwas, das nicht unmittelbar greifbar, sprachlich zu erfassen, geschweige denn zu kontrollieren ist. Wenn sich Wissenschaft und Kunst zusammenfinden, kann sich diese Qualität von Musik entfalten, so Orams These. Interdisziplinär zu denken, das Umfeld zu berücksichtigen, sich selbst immer mit zu reflektieren und die eigene Position auch zu relativeren: All diese Momente, die bei Oram erkennbar sind, werden später zu Bausteinen für alternative, weibliche Methoden des Denkens und Forschens.
    Eine kühle Klangfläche schwillt an, vergeht. Pause. Ein zweiter Klang, wieder flächig. Vergeht. Pause. Noch langsamer anschwellend eine dritte, tiefere Fläche. Immer voller. Kühl, fremd, schwer zu fassen. Über eine Minute lang andauernd, bis nach und nach weitere Klangflächen dazukommen. Wie Schichten. Dann auch schärfere, abgesetztere Töne. Immer aber Ruhe, Langsamkeit, Fluss. Finales Fade out.
    The Delian Mode, ein Stück von Delia Derbyshire aus dem Jahr 1968, steht exemplarisch für Musikstücke aus dem Radiophonic Workshop, die sich nicht so sehr über die Montage von Geräuschen und profilierte Rhythmik auszeichnen, als vielmehr durch einen flächigen, kontinuierlich und langsam modulierten Klang. Die ruhigen elektronischen Flächen wirken wie aus einer anderen Welt, ihr Ursprung, die Art ihrer Herstellung bleibt für den Hörer offen, die langsame Transformation ohne erkennbare Struktur scheint endlos fortsetzbar. Die Musikwissenschaftlerin Elena Ungeheuer beschreibt dies als charakteristisch für elektronische Musik insgesamt. Sie liest daraus eine grundsätzliche Neigung dieser Musik zu Übergangs- und Schwellenphänomenen. Daran koppelt sie auch eine veränderte Wahrnehmung. Hören stelle sich als fragendes Hören ein, Festes und Variables, Bekanntes und Unbekanntes, Wiederkehrendes und Sich-Veränderndes begegneten sich. In dieser Struktur von elektronischer Musik steckt der Wandel an sich, die Haltung des Experiments und die Grenzüberschreitung. In Verbindung mit dem Topos von der Körperlosigkeit elektronischer Musik lässt sich solche Grenzüberschreitung auch auf die Geschlechter beziehen.
    Die Utopie von der geschlechtslosen elektronischen Musik ist ein Theorem, das mit der Autorenschaft selbst nichts mehr zu tun hat. Es spielt dabei keine Rolle, wer oder welches Geschlecht als Urheber hinter der Musik steht. Bei allem utopischen Potenzial zur Überwindung von Geschlechtsunterschieden, das elektronischer Musik - bis heute - zugeschrieben werden mag, muss man die Bezüge der Komponistinnen auf ihre Namen ernst nehmen. Man kann sie als Hinweis darauf lesen, dass Delia Derbyshire und Daphne Oram innerhalb ihrer konkreten historischen Situation eben doch immer wieder dazu gezwungen waren, sich selbstbewusst zu positionieren und ihren individuellen künstlerischen Anspruch zu behaupten. Elektronisch, utopisch und feministisch.